BT-Drucksache 14/8276

Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege (NS-AufhGÄndG)

Vom 20. Februar 2002


Deutscher Bundestag Drucksache 14/8276
14. Wahlperiode 20. 02. 2002

Gesetzentwurf
der Abgeordneten Alfred Hartenbach, Margot von Renesse, Hermann Bachmaier,
Anni Brandt-Elsweier, Hans-Joachim Hacker, Christine Lambrecht, Gabriele
Lösekrug-Möller, Winfried Mante, Dirk Manzewski, Dr. Jürgen Meyer (Ulm),
Wilhelm Schmidt (Salzgitter), Richard Schuhmann (Delitzsch), Erika Simm,
Joachim Stünker, Hedi Wegener, Dr. Peter Struck und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Hans-Christian Ströbele, Kerstin
Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung
nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege
(NS-AufhGÄndG)

A. Problem
Durch das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der
Strafrechtspflege vom 25. August 1998 (NS-AufhG) werden nach § 1 verurtei-
lende strafgerichtliche Entscheidungen, die unter Verstoß gegen elementare
Gedanken der Gerechtigkeit nach dem 30. Januar 1933 zur Durchsetzung oder
Aufrechterhaltung des nationalsozialistischen Unrechtsregimes aus politischen,
militärischen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen ergangen
sind, aufgehoben. Die genannten Entscheidungen betreffen nach § 2 des Geset-
zes unter anderem auch Entscheidungen, die auf den in der Anlage zu § 2 Nr. 3
NS-AufhG genannten gesetzlichen Vorschriften beruhen. Nicht erfasst werden
durch diese Regelung Verurteilungen homosexueller Männer nach den §§ 175,
175a Nr. 4 Reichsstrafgesetzbuch sowie eine Vielzahl von Verurteilungen unter
anderem wegen Desertion (§ 69 Militärstrafgesetzbuch), Feigheit (§ 85) oder
unerlaubter Entfernung (§ 64). Die Betroffenen müssen sich bislang, um die
Bestätigung der Aufhebung ihres Urteils zu erhalten, einer Einzelfallprüfung
durch die zuständige Staatsanwaltschaft unterziehen. Dies wird teilweise als
unzumutbar durch die Betroffenen empfunden.

B. Lösung
In Zukunft soll es auch hinsichtlich dieser Betroffenen einer Einzelfallprüfung
nicht mehr bedürfen. Der Entwurf schlägt deshalb vor, die entsprechenden
Strafvorschriften des Reichstrafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzbuches
ebenfalls in der Anlage zu § 2 Nr. 3 des NS-AufhG aufzunehmen, wodurch die
Einzelfallprüfung entfällt und die entsprechenden Verurteilungen durch Gesetz
aufgehoben werden.

Drucksache 14/8276 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

C. Alternativen
Keine

D. Finanzielle Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte
Die Ergänzung des Gesetzes kann zu einer geringfügigen Entlastung der öffent-
lichen Haushalte führen, da in den aufgeführten Fällen eine Einzelfallprüfung
durch die zuständigen Staatsanwaltschaften entbehrlich wird.

E. Sonstige Kosten
Keine

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/8276

Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung
nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege
(NS-AufhGÄndG)

Der Bundestag hat das folgende Gesetz beschlossen:

Artikel 1
Die Anlage zu § 2 Nr. 3 des Gesetzes zur Aufhebung

nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechts-
pflege vom 25. August 1998 (BGBl. I S. 2501) wird wie
folgt geändert:
1. In Nummer 26 wird nach der Angabe „143a,“ die An-

gabe „175, 175a Nr. 4 in der Fassung des Gesetzes zur
Änderung des Strafgesetzbuchs vom 28. Juni 1935
(RGBl. I S. 839),“ eingefügt.

2. Nach Nummer 26 wird folgende Nummer 26a eingefügt:
„26a. §§ 62 bis 65, 67, 69, 71 bis 73, 77, 78, 80 bis 85,

87, 89, 91, 92, 94 bis 97, 99 bis 104, 106 bis 108,
110 bis 112, 139, 141, 144, 147, 147a, 150 des
Militärstrafgesetzbuches in den Fassungen der
Gesetze vom 16. Juni 1926 (RGBl. I S. 275),
16. Juli 1935 (RGBl. I S. 1021) und 10. Oktober
1940 (RGBl. I S. 1347)“.

Artikel 2
Inkrafttreten

Dieses Gesetz tritt am Tage nach der Verkündung in
Kraft.

Berlin, den 20. Februar 2002

Dr. Peter Struck und Fraktion
Kerstin Müller (Köln),
Rezzo Schlauch und Fraktion

Drucksache 14/8276 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Begründung

A. Allgemeines
I.

Durch § 1 des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialisti-
scher Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege (NS-AufhG)
vom 25. August 1998 (BGBl. I S. 2501) wurden verurtei-
lende strafgerichtliche Entscheidungen, die unter Verstoß
gegen elementare Gedanken der Gerechtigkeit nach dem
30. Januar 1933 zur Durchsetzung oder Aufrechterhaltung
des nationalsozialistischen Unrechtsregimes aus politischen,
militärischen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen
Gründen ergangen sind, aufgehoben. Die Globalklausel des
§ 1 wurde durch die Regelbeispiele des § 2 konkretisiert, um
die deklaratorische Feststellung durch die Staatsanwalt-
schaft gemäß § 6, dass ein bestimmtes Urteil gemäß § 1 auf-
gehoben ist, zu erleichtern. Aufgehoben sind danach alle
Entscheidungen des Volksgerichtshofs, der auf Grund der
Verordnung über die Einrichtung von Standgerichten vom
15. Februar 1945 (RGBl. I S. 30) gebildeten Standgerichte
sowie alle Entscheidungen, die auf den in der Anlage zu § 2
Nr. 3 genannten gesetzlichen Vorschriften beruhen. Dadurch
wurde in weitemUmfang eine Einzelfallprüfung vermieden.
Für die von den Regelbeispielen des § 2 nicht erfassten Ent-
scheidungen kann die Feststellung, ob eine Entscheidung
durch das Gesetz aufgehoben wurde oder nicht, erst nach
einer Einzelfallprüfung durch die Staatsanwaltschaft getrof-
fen werden. Diese Regelung hat sich bisher imWesentlichen
bewährt; insbesondere sind keine Fälle bekannt geworden,
bei denen die Staatsanwaltschaft eine nachgewiesene Verur-
teilung nicht für aufgehoben erklärt hat.
Allerdings führt die in einigen Fällen vorgesehene Einzel-
fallprüfung zu Unzuträglichkeiten. Sie wird insbesondere
den Betroffenen, die nach den §§ 175, 175a Nr. 4 RStGB
verurteilt wurden, nicht gerecht. Homosexuelle Männer
wurden während der NS-Gewaltherrschaft systematisch und
menschenverachtend verfolgt. Durch auch heute noch be-
stehende Vorurteile sehen sich die Betroffenen oft auch
nicht in der Lage, einen entsprechenden Antrag bei der
Staatsanwaltschaft zu stellen.
Ähnlich stellt sich die Situation bei einer Vielzahl von Ver-
urteilungen nach dem Militärstrafgesetzbuch dar. Beispiel-
haft seien die Verurteilungen nach § 63 (Übergabe an den
Feind), § 64 (Unerlaubte Entfernung), § 65 („wer sich der
Truppe, von der er abgekommen ist, nicht wieder an-
schließt“), § 69 (Desertion), § 84 (Dienstpflichtverletzung
aus Furcht) und § 85 (Feigheit) genannt. Die Personen, die
wegen dieser Delikte verurteilt wurden, haben es aus Ge-
wissensgründen oder berechtigter Angst um ihr Leben ge-
wagt, sich sinnlosen Befehlen zu widersetzen oder sie in
Frage zu stellen, sich dem Kriegsdienst durch Flucht zu ent-
ziehen oder ihre Dienstpflichten zu verletzen. In einem vom
nationalsozialistischen Deutschland verschuldeten Angriffs-
und Vernichtungskrieg war dies weder kriminell noch un-
ehrenhaft. Dennoch müssen die Betroffenen einen Antrag
auf Erteilung der Bescheinigung nach § 6 NS-AufhG stellen,
um Klarheit über die Aufhebung ihrer Urteile zu erlangen.
Dies wird von vielen zu Recht als unzumutbar empfunden.

Der Deutsche Bundestag hat in seinem Beschluss vom
15. Mai 1997 betreffend die Rehabilitierung und Entschädi-
gung der Opfer von Verurteilungen wegen der Tatbestände
„Kriegsdienstverweigerung“, „Desertion/Fahnenflucht“ und
„Wehrkraftzersetzung“ (Bundestagsdrucksache 13/7669
(neu)) darauf hingewiesen, dass eine Rehabilitierung von
Deserteuren keine Abwertung der deutschen Soldaten des
Zweiten Weltkriegs bedeute. Er hat weiter ausgeführt: „Die
meisten Soldaten wollten die Pflicht erfüllen, die sie ihrem
Vaterland zu schulden glaubten, oder sie sahen keine Mög-
lichkeit, sich dem Kriegsdienst zu entziehen. Was ein Soldat
tut, ist nicht zu lösen von Zielsetzung und Moral seiner Füh-
rung. Vaterlandsliebe und Tapferkeit können missbraucht
werden; sie sind Tugenden, wenn sie darauf gerichtet sind,
Frieden in Freiheit und Gerechtigkeit zu bewahren oder zu
schaffen.
Die Bundeswehr ist Armee eines demokratischen Rechts-
staates. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland
gewährt die Kriegsdienstverweigerung und verbietet jede
auf einen Angriffskrieg angelegte Handlung; darüber hinaus
ist den Soldaten der Bundeswehr gesetzlich verboten, ver-
brecherische Befehle zu befolgen. Deshalb können die Re-
habilitierung und Entschädigung der Opfer der Wehrmacht-
justiz keine negativen Auswirkungen auf die Bundeswehr
haben.“
Diese Ausführungen haben unverändert Gültigkeit und las-
sen sich auf eine große Anzahl anderer Verurteilungen nach
dem Militärstrafgesetzbuch übertragen.
Das NS-AufhG soll deshalb durch eine Ergänzung der An-
lage zu § 2 Nr. 3 so geändert werden, dass bei einer Viel-
zahl von Verurteilungen einer Einzelfallprüfung künftig
nicht mehr bedarf. Die Koalitionsfraktionen der SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kommen damit auch dem Er-
suchen des Deutschen Bundestages nach, der in seiner
140. Sitzung am 7. Dezember 2000 die Beschlussempfehlung
des Rechtsausschusses auf Bundestagsdrucksache 14/4894
angenommen hat. In dem Beschluss wird die Bundesregie-
rung u. a. ersucht, einen Entwurf zur Ergänzung des NS-
AufhG vorzulegen, um so ein der Unrechtserfahrung Homo-
sexueller angemessenes Verfahren zur gesetzlichen Rehabili-
tierung der Opfer der §§ 175, 175a RStGB aus den Jahren
1935 bis 1945 sicherzustellen. In diesem Zusammenhang
sollten auch weitere noch offene Fragen der Rehabilitierung
im Bereich der Opfer der Militärjustiz angegangen werden.

II. Kosten
Kosten für Bund, Länder und Gemeinden
Bund, Länder und Gemeinden werden durch die Gesetzes-
änderung insgesamt nicht mit neuen Kosten belastet. In
geringem Umfang kann sie zu einer Entlastung der Länder-
haushalte führen, da Einzelfallprüfungen künftig in geringe-
rem Umfang anfallen werden, als bisher.
Kosten bei Wirtschaftsunternehmen
Zusätzliche Kosten bei Wirtschaftsunternehmen sind nicht
zu erwarten.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5 – Drucksache 14/8276

Preiswirkungsklausel
Auswirkungen auf die Einzelpreise und das allgemeine
Preisniveau, insbesondere das Verbraucherpreisniveau, sind
nicht ersichtlich.

B. Zu den einzelnen Vorschriften
Zu Artikel 1
Zu Nummer 1
In der Folge des so genannten Röhm-Putsches und der ihn
begleitenden Propaganda gegen Homosexuelle wurde durch
das Gesetz vom 28. Juni 1935 die Strafbarkeit in § 175
RStGB auf sämtliche Formen gleichgeschlechtlicher Hand-
lungen ausgedehnt. § 175a RStGB sah für schwere Fälle
Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren Zuchthaus vor. Diese
Verschärfung war Ausdruck typisch nationalsozialistischen
Gedankenguts. So heißt es in der amtlichen Begründung zur
Neufassung: „Der neue Staat, der ein an Zahl und Kraft star-
kes, sittlich gesundes Volk erstrebt, muss allem widernatür-
lichen geschlechtlichen Treiben mit Nachdruck begegnen.
Die gleichgeschlechtliche Unzucht zwischen Männern muss
er besonders stark bekämpfen, weil sie erfahrungsgemäß die
Neigung zu seuchenartiger Ausbreitung hat und einen er-
heblichen Einfluss auf das ganze Denken und Fühlen der
betroffenen Kreise ausübt.“ (Ackermann in: Bauer/Bür-
ger-Prinz/Giese/Jäger [Hrsg.], Sexualität und Verbrechen,
1963).
Die hierdurch beeinflusste Rechtsprechung kam in ihrer
erheblich verschärften Spruchpraxis der Aufgabe, zuguns-
ten eines „gesunden Volkskörpers“ die Ausbreitung der
„Seuche“ Homosexualität zu verhindern, bereitwillig nach.
Zwischen 1935 bis 1945 wurde ca. 50 000 Verurteilungen
nach den §§ 175 und 175a Nr. 4 RStGB ausgesprochen.
Tausende wurden wegen ihrer Homosexualität in Konzen-
trationslager verschleppt, die Mehrzahl davon ermordet. Zu-
dem waren Homosexuelle weiteren Verfolgungsmaßnah-
men ausgesetzt. Dazu zählen Zwangssterilisierungen und
medizinische Experimente. Diese Verfolgungsmaßnahmen
sind als offenbares nationalsozialistisches Unrecht anzu-
sehen.
Sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in der
DDR wurden auch nach 1949 Menschen wegen einver-
nehmlicher gleichgeschlechtlicher Beziehungen unter Er-
wachsenen strafrechtlich verfolgt. In der Bundesrepublik
Deutschland blieb der § 175 StGB bis 1969 unverändert in
Kraft. Zwar wurde der Gesetzeswortlaut dieser Vorschrift
vom Bundesverfassungsgericht als mit dem Grundgesetz
vereinbar angesehen (BVerfGE 6, 389, 414). Dies gilt je-
doch nicht für die Praxis der strafrechtlichen und erst recht
nicht für die Praxis der staatsterroristischen Verfolgung bis
1945. Im Übrigen verstößt die Verfolgung einvernehmlicher
gleichgeschlechtlicher Beziehungen gegen die Europäische
Menschenrechtskonvention und nach heutigem Verständnis
auch gegen das freiheitliche Menschenbild des Grundgeset-
zes.
Allerdings würde eine Aufhebung von nachkonstitutionel-
len Urteilen nach §§ 175, 175a Nr. 4 StGB gravierenden
verfassungsrechtlichen Einwänden begegnen: Aus dem in
Artikel 21 Abs. 2 Satz 2 GG normierten Gewaltenteilungs-
prinzip folgt, dass jede der drei Staatsgewalten grundsätzlich
verpflichtet ist, die von den beiden anderen Staatsgewalten

erlassenen Staatsakte anzuerkennen und als rechtsgültig zu
behandeln. Für das Verhältnis von Judikative und Exekutive
zu Akten des Gesetzgebers lässt sich dies zusätzlich aus
Artikel 20 Abs. 3 GG, für die Judikative auch aus Artikel 97
Abs. 1 GG ableiten. Auch das BVerfG hat darauf hinge-
wiesen, dass Gesetze, die rückwirkend in die Rechtskraft
von Gerichtsentscheidungen eingreifen, den Grundsatz der
Gewaltenteilung berühren (BVerfGE 72, 302, 328). Einer
Aufhebbarkeit nachkonstitutioneller Urteile durch Gesetz
steht ferner das Rechtsstaatsprinzip entgegen. Es enthält als
wesentlichen Bestandteil die Gewährleistung von Rechts-
sicherheit; diese verlangt nicht nur einen geregelten Verlauf
des Rechtsfindungsverfahrens, sondern auch einen Ab-
schluss, dessen Rechtsbeständigkeit gesichert ist
(BVerfGE 2, 380, 381). Stünden rechtskräftige Urteile zur
Disposition des Gesetzgebers, so wäre die Sicherheit des
Rechts nicht mehr gewährleistet.
Gleichwohl rechtfertigt sich eine pauschale Aufhebung der
Urteile aus der Zeit der Gewaltherrschaft der National-
sozialisten auf Grund der damaligen Anwendungspraxis.
Um dies zu erreichen, soll die Nummer 26 der Anlage zu
§ 2 Nr. 3 NS-AufhG um die §§ 175, 175a Nr. 4 RStGB
ergänzt werden. Damit wird die bisherige Einzelfallprüfung
abgeschafft.
Zu Nummer 2
Während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wur-
den im Verlauf des Zweiten Weltkriegs Zehntausende
deutscher Soldaten und Zivilpersonen Opfer von Verurtei-
lungen wegen der Tatbestände „Kriegsdienstverweigerung“,
„Desertion/Fahnenflucht“ und „Wehrkraftzersetzung“. Be-
reits in seiner Entschließung vom 15. Mai 1997 hat der
Deutsche Bundestag festgestellt, dass die wegen dieser Tat-
bestände verhängten Urteile unter Anlegung rechtsstaat-
licher Wertmaßstäbe Unrecht waren und den Opfern und
ihren Familien Achtung und Mitgefühl bezeugt.
Durch das NS-AufhG wurden die Urteile weitgehend auf-
gehoben. Bei den Verurteilungen wegen „Kriegsdienst-
verweigerung“ und „Wehrkraftzersetzung“ geschah dies
durch die Aufnahme der Kriegssonderstrafrechtsverord-
nung (KSSVO) vom 17. August 1938 (RGBl. 1939 I
S. 1455) in die Anlage zu § 2 Nr. 3 NS-AufhG (Nr. 30).
Diese Verurteilungen sind – sofern sie nach dem Inkraft-
treten der KSSVO ergangen sind – daher unmittelbar aus
dem Gesetz ablesbar aufgehoben. Für die Verurteilungen
wegen Desertion/Fahnenflucht – die nach Militärstraf-
gesetzbuch und nicht nach der Kriegssonderstrafrechtsver-
ordnung erfolgten – gilt etwas anderes: § 1 NS-AufhG er-
fasst u. a. strafgerichtliche Entscheidungen, die unter Ver-
stoß gegen elementare Gedanken der Gerechtigkeit nach
dem 30. Januar 1933 zur Durchsetzung oder Aufrechterhal-
tung des nationalsozialistischen Unrechtsregimes aus
„militärischen“ Gründen ergangen sind. Hierunter fallen in
aller Regel auch Verurteilungen wegen Desertion/Fahnen-
flucht, allerdings erschließt sich dies nicht zweifelsfrei aus
dem Gesetz selbst; um Sicherheit zu erlangen, müssen die
Betroffenen eine Einzelfallprüfung veranlassen. Gleiches
gilt für die – in der genannten Entschließung nicht erwähn-
ten – Verurteilungen wegen Unerlaubter Entfernung. Diese
gesetzliche Regelung hat sich grundsätzlich bewährt; es ist
bisher kein Fall bekannt geworden, in dem eine beantragte
Urteilsaufhebung verweigert worden wäre.

Drucksache 14/8276 – 6 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Gleichwohl ist festzustellen, dass die Betroffenen sich nicht
vollständig rehabilitiert fühlen. Sie halten eine Einzelfall-
prüfung und eine damit verbundene Beweisführung, dass
eine entsprechende Verurteilung erfolgt ist, für unzumutbar.
Die Kritik erscheint berechtigt. Mehr als fünfzig Jahre nach
Kriegsende wird ein Betroffener nur noch in Ausnahme-
fällen eine Urteilsabschrift vorlegen können, zumal diese in
den letzten Kriegsmonaten ohnehin nur selten ausgehändigt
wurde. Eine Glaubhaftmachung erfordert nicht nur eine prä-
zise Erinnerung an die „Tat“, sondern auch an die Namen
von Richtern, Vorgesetzten und anderen am Geschehen be-
teiligten Personen. Dies ist für die Betroffenen angesichts
der inzwischen vergangenen Jahrzehnte schwierig und wird
zu Recht als entwürdigend empfunden.
Dies gilt auch für eine Vielzahl anderer Verurteilungen nach
dem Militärstrafgesetzbuch. Ob es sich um Verstöße gegen
§ 63 (Übergabe an den Feind), § 84 (Dienstpflichtverlet-
zung aus Furcht) und § 85 (Feigheit) oder gar gegen § 150
(Heirat ohne Erlaubnis) handelt; immer fühlen sich die Be-
troffenen mit dem Makel des „Vorbestraften“ behaftet und
fühlen sich gegenüber anderen Betroffenen, deren Urteil
durch das NS-AufhG ausdrücklich aufgehoben wurde, un-
angemessen benachteiligt.
Gerade in den letzten Kriegsmonaten, als klar wurde, dass
der Krieg verloren war und ein Ausführen der immer unver-
ständlicher werdenden „Führerbefehle“ nur zusätzliche Op-
fer fordern würde, haben verantwortungsbewusste Kom-
mandeure Befehle zur Verteidigung bestimmter, zwar strate-
gisch wichtiger, aber auf Dauer ohnehin nicht zu haltender
Positionen nicht ausgeführt, um die Zahl der gefallenen Sol-
daten nicht weiter ansteigen zu lassen, und damit gegen
§ 63 MStGB verstoßen. Ihnen ist nicht zuzumuten, die Auf-
hebung ihres Urteils im Wege der Einzelfallprüfung zu er-
reichen.
Dies gilt auch für diejenigen, die aus Widerstand gegen das
nationalsozialistische System oder aus anderen Gründen

wie beispielsweise „Furcht vor persönlicher Gefahr“ ihre
Dienstpflichten verletzt haben. Insoweit kann nämlich nicht
unberücksichtigt bleiben, dass es vielen bewusst war, dass
der 2. Weltkrieg ein vom nationalsozialistischen Deutsch-
land verschuldeter Angriffs- und Vernichtungskrieg war und
sie deshalb an den auf den „Führer“ geleisteten Eid nicht in
der Weise gebunden waren, wie dies in einem demokrati-
schen Rechtsstaat im Verteidigungsfall der Fall wäre. Auch
diesem Personenkreis ist deshalb eine Einzelfallprüfung
nicht zuzumuten. Dies gilt letztlich auch für die Vielzahl
von anderen Verurteilungen, die durch dieses Gesetz aufge-
hoben werden sollen.
Durch den Entwurf wird deshalb eine neue Nummer 26a in
die Anlage zu § 2 Nr. 3 NS-AufhG eingefügt. In ihr werden
die Vorschriften bezeichnet, nach denen die zuvor genann-
ten Verurteilungen erfolgten; die Urteile sind dann ohne
Einzelfallprüfung durch Gesetz aufgehoben.
Die Aufnahme einer großen Zahl von Straftatbeständen des
Militärstrafgesetzbuches (MStGB) legt die Frage nahe, ob
nicht das ganze MStGB in die Anlage zu § 2 aufgenommen
und damit für alle Verurteilungen nach diesem Gesetz eine
Einzelfallprüfung entbehrlich gemacht werden sollte. Diese
Frage ist zu verneinen. Es finden sich eine ganze Reihe von
Straftatbeständen, bei denen die Aufhebung des Urteils
ohne Einzelfallprüfung nicht verantwortbar erscheint. Bei-
spielhaft seien hier der Kriegsverrat, die Plünderung, die
Fledderei sowie die Misshandlung von Untergebenen ge-
nannt. Bei diesen Delikten vermag auch der Umstand, dass
sie während eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges be-
gangen wurden, keinen Anlass zur Rehabilitierung zu be-
gründen. Aus diesen Gründen war die Aufnahme von genau
zu benennenden Einzelvorschriften des MStGB in die An-
lage zu § 2 erforderlich.

Zu Artikel 2
Die Vorschrift regelt das Inkrafttreten des Gesetzes.

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