BT-Drucksache 14/3387

Charta der Grundrechte der Europäischen Union

Vom 17. Mai 2000


Deutscher Bundestag

Drucksache

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14. Wahlperiode

17. 05. 2000

Antrag

der Abgeordneten Dr. Jürgen Meyer (Ulm), Joachim Poß, Günter Gloser, Hermann
Bachmaier, Dr. Hans-Peter Bartels, Wolfgang Behrendt, Hans-Werner Bertl,
Rudolf Bindig, Anni Brandt-Elsweier, Bernhard Brinkmann (Hildesheim), Hans
Büttner (Ingolstadt), Marion Caspers-Merk, Dieter Dzewas, Gernot Erler, Rainer
Fornahl, Hans Forster, Lilo Friedrich (Mettmann), Arne Fuhrmann, Renate
Gradistanac, Angelika Graf (Rosenheim), Hans-Joachim Hacker, Christel
Hanewinckel, Alfred Hartenbach, Rolf Hempelmann, Monika Heubaum, Gerd
Höfer, Christel Humme, Lothar Ibrügger, Karin Kortmann, Anette Kramme, Helga
Kühn-Mengel, Dr. Uwe Küster, Christine Lambrecht, Detlev von Larcher, Christine
Lehder, Christa Lörcher, Winfried Mante, Dirk Manzewski, Heide Mattischeck,
Markus Meckel, Volker Neumann (Bramsche), Dietmar Nietan, Günter Oesinghaus,
Eckhard Ohl, Holger Ortel, Karin Rehbock-Zureich, Margot von Renesse, Gudrun
Roos, Michael Roth (Heringen), Dr. Hermann Scheer, Dieter Schloten, Wilhelm
Schmidt (Salzgitter), Ottmar Schreiner, Richard Schuhmann (Delitzsch), Reinhard
Schultz (Everswinkel), Dr. R. Werner Schuster, Erika Simm, Wieland Sorge, Rolf
Stöckel, Joachim Stünker, Hedi Wegener, Gert Weisskirchen (Wiesloch), Hildegard
Wester, Lydia Westrich, Dr. Norbert Wieczorek, Dr. Wolfgang Wodarg, Hanna Wolf
(München), Dr. Peter Struck und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Christian Sterzing, Volker Beck (Köln), Rita Grießhaber,
Ulrike Höfken, Dr. Helmut Lippelt, Claudia Roth (Augsburg), Irmingard
Schewe-Gerigk, Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Charta der Grundrechte der Europäischen Union

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Mit dem Kölner Beschluss des Europäischen Rates vom 3./4. Juni 1999 hat die
Bundesregierung das Projekt zur Erarbeitung einer Europäischen Grund-
rechtecharta (GRC) maßgeblich vorangebracht.

Gemäß dem Kölner Auftrag soll die GRC „die überragende Bedeutung der
Grundrechte und ihre Tragweite für die Unionsbürger sichtbar … verankern“.
Hierzu sollen neben den Freiheits- und Gleichheitsrechten, wie sie in der Euro-
päischen Menschenrechtskonvention (EMRK) enthalten sind, auch solche
Rechte aufgenommen werden, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungs-
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überlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben und wie sie in der Europäischen
Sozialcharta und in der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Ar-
beitnehmer enthalten sind, soweit sie nicht nur Ziele für das Handeln der Euro-
päischen Union begründen.

Mit dem Konvent als Gremium zur Erarbeitung des Entwurfs der Grund-
rechtecharta wurde erstmals eine europäische Einrichtung ins Leben gerufen, in
der Abgeordnete aus dem Europaparlament und den nationalen Parlamenten
der EU-Mitgliedstaaten die Mehrheit bilden. Damit wurde ein Modell geschaf-
fen, dessen demokratische Zusammensetzung und transparente Arbeitsweise
für die Weiterentwicklung europäischen Vertragsrechts als Vorbild dienen
könnte. Der Deutsche Bundestag begrüßt insbesondere auch die Partizipations-
möglichkeiten, die zivilgesellschaftlichen Organisationen bei der Erarbeitung
der GRC geboten werden.

Die spezifisch deutschen Erfahrungen mit der Weimarer Reichsverfassung, die
zwar umfangreiche, aber nicht einklagbare Grundrechte enthielt, lehrt, dass
eine unverbindliche GRC kaum identitätsstiftend für die Bürgerinnen und Bür-
ger der Europäischen Union wirken kann. Deshalb muss die Charta rechtsver-
bindlich ausgestaltet und ein individuelles Klagerecht vorgesehen werden.

Da die Mitgliedstaaten zunehmend Kompetenzen an die Europäische Union ab-
geben, gleichzeitig die Organe der Union aber nicht durch das Kontrollsystem
der EMRK erfasst werden, ist die paradoxe Situation entstanden, dass Unions-
bürgerinnen und -bürger, die von Maßnahmen der EU betroffen sind, über ei-
nen schwächeren internationalen Rechtschutz verfügen als diejenigen, deren
Länder Mitglied im Europarat, nicht aber der EU, sind. Denn die EU-Organe
unterliegen nicht der Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofs für Men-
schenrechte. Insofern muss geprüft werden, wie die Charta mit ihrem wesent-
lichen Inhalt Aufnahme in die Europäischen Verträge finden kann. Zusätzlich
sollte eine Initiative unternommen werden, dass die EU der EMRK beitritt.

Die in den vergangenen Jahren erzielten Integrationsfortschritte der EU auf
dem Weg von einer Wirtschaftsgemeinschaft zu einer Politischen Union be-
dürfen der Flankierung durch einen effektiven Grundrechtsschutz in allen Be-
reichen des EU-Vertrages. Die GRC soll deshalb Kompetenzen der EU nicht
erweitern, sondern vielmehr einen durch Grundrechte definierten Rahmen ab-
stecken.

Mit einer rechtsverbindlichen Grundrechtecharta, die den Herausforderungen
des 21. Jahrhunderts gerecht wird, könnte der Europäischen Union ein gemein-
sames identitätsstiftendes Wertefundament gegeben werden. Die Spannungen
zwischen den unterschiedlichen Menschen- und bürgerrechtlichen Traditionen
müssen positiv genutzt werden. Im Interesse der Förderung des europäischen
Integrationsprozesses ist es wichtig, anstelle eines allgemeinen unverbindlichen
Minimalkonsenses fortschrittliche nationale und europäische Grundrechtsvor-
stellungen zu verankern.

Nicht zuletzt bietet die Arbeit an der Charta die Chance, bereits in der Recht-
sprechung anerkannte und in einzelnen neueren Verfassungen enthaltene mo-
derne Grundrechte zu kodifizieren. So ist ein Recht auf Auskunft über amtliche
Daten in die Charta ebenso aufzunehmen, wie Regelungsbedarf wegen der
revolutionären Entwicklungen auf dem Gebiet der Biomedizin besteht.

Es ist an der Zeit, die immer wieder beschworene Unteilbarkeit und Universali-
tät der Menschenrechte auch dadurch zu dokumentieren, dass, dem Auftrag von
Köln entsprechend, die wirtschaftlichen und sozialen Grundrechte Eingang in
die Charta finden. Europa als Wertegemeinschaft muss nicht nur Freiheits- und
Gleichheitsrechte absichern, sondern auch Sorge dafür tragen, dass die Men-
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schen auch in schwieriger Lage gemäß ihren Fähigkeiten aktiver Teil der euro-
päischen Bürgergesellschaft sein können. Aus diesem Grund muss neben Ziel-
bestimmungen, die das unbestreitbare Wertegerüst der Union formulieren, in
Anlehnung an Artikel 1 GG ein Grundrecht auf Gewährleistung der Mindest-
voraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein Eingang in die Charta fin-
den. Hierzu gehören individuelle Rechte wie u. a. das Recht auf Bildung, Ge-
sundheit und soziale Sicherheit und übergreifende Prinzipien wie z. B. gender
mainstreaming. Ebenso ist das Recht auf Koalitionsfreiheit einschließlich der
transnationalen Koalitionsfreiheit in der Charta zu berücksichtigen.

Auch gilt es, einen umfassenden Minderheitenschutz und Schutz vor Diskrimi-
nierung, insbesondere aufgrund der Hautfarbe, der ethnischen Herkunft, der
Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuel-
len Ausrichtung, zu garantieren. Auch für Angehörige von Drittstaaten muss
ein Mindeststandard an Grundrechten gesichert werden.

Die in den Verträgen verankerte Gleichstellung und Förderung von Frauen ist
über das Arbeits- und Wirtschaftsleben hinaus auf alle Bereiche der EU aus-
zudehnen und in die GRC aufzunehmen. Ein bloßes Diskriminierungsverbot
reicht dazu nicht aus.

In der Grundrechtecharta soll die Eheschließungsfreiheit garantiert werden,
ebenso der Schutz der Privatheit und des Familienlebens. Der Schutz der Fami-
lie muss angesichts der gewandelten Lebensrealitäten auch eine Anerkennung
der Vielfalt der Gemeinschaften einschließen, in denen Verantwortung für-
einander gelebt wird. Die Charta soll klarstellen, dass gleichgeschlechtliche
Paare bei der Wahlfreiheit ihres Rechtsstatus nicht benachteiligt werden dürfen.
Erforderlich ist auch eine Bestimmung, die sicherstellt, dass nichteheliche
Lebensgemeinschaften respektiert werden.

Der Schutz der Kinder muss ein besonderes Anliegen auch der Europäischen
Union sein. Ausgehend vom UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes
vom 20. November 1989 geht es vor allem darum, Kinder als Träger eigener
Rechte anzuerkennen, ein Recht auf Förderung ihrer Entwicklung zu verankern
und den Schutz der Kinder zu verbessern.

Angesichts einer sich entwickelnden gemeinsamen Außen- und Sicherheitspo-
litik, mit internationalen Aufgaben der Sicherheitskräfte, muss das Recht auf
Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen auch europäisch verankert
werden.

Im Zuge einer modernen Grundrechtsentwicklung muss auch das Recht auf
eine saubere und gesunde Umwelt sowie der Schutz der natürlichen Lebens-
grundlagen unverzichtbarer Bestandteil einer Grundrechtecharta werden.

Auch das Bekenntnis des Europäischen Rates in Tampere, dem künftigen ge-
meinsamen europäischen Asylrecht die Genfer Flüchtlingskonvention „un-
eingeschränkt und allumfassend“ zugrunde zu legen, muss in der GRC seinen
unmissverständlichen Ausdruck finden, einschließlich der geschlechtsspezifi-
schen Verfolgungsgründe.

Die Arbeit an der GRC findet zunehmend internationale Beachtung. Europa
muss, seinem Selbstverständnis entsprechend, weiter ein Vorreiter in der Ent-
wicklung und Gewährleistung von Menschen-, Bürgerinnen- und Bürgerrech-
ten bleiben. Der durch die Initiative der Bundesregierung und unter ihrer Prä-
sidentschaft in Köln erreichte Fortschritt muss gesichert und ausgebaut werden.

Nur durch eine breite gesellschaftliche Debatte kann sich die Hoffnung erfül-
len, dass die Arbeit an der Grundrechtecharta auch die europäische Identität der
Unionsbürgerinnen und -bürger stärkt und der um sich greifenden Europa-
müdigkeit entgegenwirkt.
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Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Arbeiten des Konvents zur Erarbeitung der Europäischen Grund-
rechtecharta weiter zu unterstützen,

2. mit dazu beizutragen, dass die Bedeutung der Grundrechtecharta auch in der
deutschen Öffentlichkeit erkannt und gewürdigt sowie eine breite gesell-
schaftliche Debatte gefördert wird,

3. sich ergänzend für den Beitritt der EU zur EMRK einzusetzen,

4. den Konvent bei der Formulierung von fortschrittlichen und für die europäi-
sche Integration zentralen Grundrechten zu unterstützen; dazu gehören ins-
besondere ein Diskriminierungsverbot und ein aktives Gleichstellungsgebot
sowie kulturelle Rechte,

5. die Aufnahme von wirtschaftlichen und sozialen Rechten unter Berücksich-
tigung der Europäischen Sozialcharta und der Gemeinschaftscharta der so-
zialen Grundrechte der Arbeitnehmer in die Charta mitzutragen,

6. sich im Europäischen Rat für die Rechtsverbindlichkeit der Grundrechte-
charta mit individueller Klagemöglichkeit einzusetzen.

Berlin, den 17. Mai 2000

Dr. Peter Struck und Fraktion
Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und Fraktion

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