Bundesgerichtshof, Beschluss vom 12.11.2015, Az. 2 StR 311/15

2. Strafsenat | REWIS RS 2015, 2440

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Gegenstand

Revision im Strafverfahren: Anfechtungsbefugnis des Angeklagten bei Nichtausschluss der Öffentlichkeit bei den Schlussvorträgen


Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 27. März 2015 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des [X.] zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes und Besitzes kinderpornographischer Schriften zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sieben Monaten verurteilt. Die dagegen gerichtete und auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge den aus der [X.] ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 [X.].

2

Die Rüge einer Verletzung von § 171b Abs. 3 Satz 2 [X.] hat zum Strafausspruch Erfolg.

3

1. In der Hauptverhandlung, die am 4. Dezember 2014 begann, wurde die Öffentlichkeit während der Dauer der Vernehmung von Zeugen und des Angeklagten mehrfach durch Gerichtsbeschluss gemäß § 171b Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 [X.] ausgeschlossen. Bei den Schlussanträgen war die Öffentlichkeit hergestellt. Es befanden sich auch Zuhörer im Sitzungssaal.

4

Da Teile der Hauptverhandlung zuvor unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden haben, wäre indes nach der zwingenden Vorschrift des § 171b Abs. 3 Satz 2 [X.] – auch ohne entsprechenden Antrag – die Öffentlichkeit während der Schlussanträge auszuschließen gewesen. Es liegt daher ein Verstoß gegen § 171b Abs. 3 Satz 2 [X.] vor, der mit Wirkung vom 1. September 2013 durch Art. 2 StORMG (Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs) vom 26. Juni 2013 ([X.] I S. 1805) eingeführt wurde und der zurzeit der Hauptverhandlung galt.

5

2. Der Angeklagte ist insoweit auch anfechtungsbefugt. Die Regelung des § 171b Abs. 5 [X.] i.V.m. § 336 Satz 2 [X.] steht der erhobenen Rüge nicht entgegen.

6

Gemäß § 171b Abs. 5 [X.] sind zwar Entscheidungen nach den Absätzen 1 bis 4 unanfechtbar und damit der revisionsgerichtlichen Überprüfung entzogen. Dies betrifft aber nur die inhaltliche Überprüfung der gerichtlichen Ausschließungsanordnung darauf, ob die in § 171b Abs. 1 und 2 [X.] normierten tatbestandlichen Voraussetzungen für einen Ausschluss der Öffentlichkeit im Einzelfall vorliegen (vgl. zu § 171b Abs. 3 [X.] a.F., [X.], Urteil vom 21. Februar 1989 – 1 StR 786/88, [X.]R [X.] § 171b Abs. 1 Dauer 1; Urteil vom 21. Juni 2012 – 4 [X.], [X.]St 57, 273, 275). Damit ist es dem Revisionsgericht zwar verwehrt, die Begründung einer nach § 171b [X.] ergangenen Entscheidung inhaltlich zu überprüfen (vgl. [X.] in: [X.], [X.], 26. Aufl., § 171b [X.], Rn. 25), nicht gehindert ist es dagegen, die generelle Befugnis für den Ausschluss der Öffentlichkeit während der Verlesung des Anklagesatzes zu prüfen ([X.], Urteil vom 21. Juni 2012 – 4 [X.]; [X.]St 57, 273, 275).

7

Nichts anderes kann gelten, wenn nur der Vorsitzende in einem Verfahrensabschnitt vor Anbringung der Schlussanträge (zu diesem Zeitpunkt rechtsfehlerfrei, weshalb eine Beanstandung nach § 238 [X.] nicht in Betracht kommt) die Wiederherstellung der Öffentlichkeit angeordnet hat und das Gericht – wie vorliegend – weiterverhandelt und überhaupt keine Entscheidung über die Öffentlichkeit des Verfahrens getroffen hat (so schon zutreffend [X.], Beschluss vom 17. September 2014 – 1 [X.], [X.] 2014, 19859 – nicht tragend). Hierbei ist zu berücksichtigen, dass das erkennende Gericht nach dem Gesetzeswortlaut ("ist die Öffentlichkeit auszuschließen") keinen Beurteilungsspielraum hatte. Einer Anfechtbarkeit durch den Angeklagten steht auch nicht entgegen, dass die Vorschrift in erster Linie dem Opferschutz geschuldet ist. Denn § 171b [X.] dient insgesamt dem Schutz der Privatsphäre, auch des Angeklagten als Subjekt des Verfahrens (vgl. [X.], aaO). Dies zeigt gerade der vorliegende Fall, in dem u.a. mehrmals die Öffentlichkeit auch auf Antrag des Angeklagten ausgeschlossen wurde, weil Umstände aus seinem persönlichen Lebensbereich zur Sprache kommen sollten.

8

3. Wie die Revision und der [X.] zutreffend ausführen, ist zwar der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 6 [X.] nicht gegeben, weil diese Vorschrift bei einer unzulässigen Erweiterung der Öffentlichkeit nicht anwendbar ist (vgl. [X.], Beschluss vom 17. September 2014 – 1 [X.], [X.] 2014, 19859 mwN). [X.] ist aber der relative Revisionsgrund (§ 337 [X.]).

9

a) Auf dem dargelegten Verfahrensfehler kann jedoch der Schuldspruch nicht beruhen. Der [X.] kann angesichts der insoweit geständigen Einlassung des Angeklagten und der ansonsten gegebenen klaren Beweislage ausschließen, dass der Verteidiger oder der Angeklagte in nicht-öffentlichen Schlussvorträgen insoweit noch Erhebliches hätten bekunden können. Soweit die Strafkammer dem Angeklagten unter Berücksichtigung der übrigen Beweisergebnisse hinsichtlich seiner sexuellen Orientierung nicht gefolgt ist, bleibt der Schuldspruch davon unberührt.

b) Dagegen kann der Ausspruch über die Einzelstrafen und die Gesamtstrafe sowie die Versagung der Strafaussetzung zur Bewährung auf dem Verfahrensfehler beruhen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass jedenfalls der Angeklagte, wäre ihm das letzte Wort unter Ausschluss der Öffentlichkeit erteilt worden, Ausführungen gemacht hätte, die die Strafzumessung zu seinen Gunsten beeinflusst hätten.

Die Öffentlichkeit wurde in der Hauptverhandlung mehrfach auf Antrag des Angeklagten nach § 171b Abs. 1 [X.] ausgeschlossen, weil im Rahmen seiner geständigen Einlassung Umstände aus seiner Intimsphäre, namentlich seiner [X.] zur Sprache kamen. Bereits aus diesem Grund besteht die begründete Annahme, dass der Angeklagte über seine Einlassung hinaus in seinem letzten Wort weitere sich zu seinen Gunsten auswirkende Umstände angesprochen hätte, wenn er nicht der besonderen Belastung der öffentlichen Hauptverhandlung ausgesetzt gewesen wäre.

[X.]                  Eschelbach                      Ott

             Zeng                            Bartel

Meta

2 StR 311/15

12.11.2015

Bundesgerichtshof 2. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Gießen, 27. März 2015, Az: 1 KLs 602 Js 21060/13

§ 171b Abs 3 S 2 GVG, § 337 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 12.11.2015, Az. 2 StR 311/15 (REWIS RS 2015, 2440)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 2440

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