Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 10.06.2010, Az. 2 StR 78/10

2. Strafsenat | REWIS RS 2010, 5998

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BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 2 StR 78/10 vom 10. Juni 2010 geänderte [X.] Nachschlagewerk: ja [X.]R: ja [X.]St: nein Veröffentlichung: ja _____________________ StPO § 251 Abs. 4 Satz 1 [X.] in § 251 Abs. 4 Satz 1 StPO soll angesichts der po-tentiellen Bedeutung der Verlesung für die Zuverlässigkeit der Beweisgewin-nung und Rekonstruktion des Tatgeschehens auch gewährleisten, dass das Gericht durch eine gemeinsame Meinungsbildung sowie in seiner Gesamtheit die Verantwortung dafür trägt, ob ausnahmsweise die Einschränkung der Un-mittelbarkeit durch den Verzicht auf den Zeugen hinnehmbar ist oder die [X.] die Vernehmung der [X.] gebietet. [X.], Beschluss vom 10. Juni 2010 - 2 StR 78/10 - [X.] - in der Strafsache gegen wegen gefährlicher Körperverletzung - 2 - Der 2. Strafsenat des [X.] hat am 10. Juni 2010 gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen: Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Land-gerichts [X.] vom 20. Oktober 2009 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen. Gründe: Das [X.] hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverlet-zung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt und die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Mit der hiergegen ge-richteten Revision rügt der Angeklagte die Verletzung prozessualen und sachli-chen Rechts. Die Revision hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg. 1 1. Das [X.] hat folgende Feststellungen getroffen: 2 Der Angeklagte war im Juni 2008 als Angestellter eines [X.] u.a. mit der ambulanten Pflege des nach einem Unfall vom Hals ab quer-schnittsgelähmten Geschädigten betraut. In der Nacht vom 11. Juni auf den 12. Juni 2008 war er zwischen 22.00 Uhr und 5.45 Uhr alleine für die Betreuung des Geschädigten verantwortlich. 3 - 3 - Dieser wachte am Morgen des 12. Juni 2008 gegen 4.00 Uhr auf und konnte nicht mehr einschlafen. Er verwickelte den Angeklagten in ein Gespräch und fragte ihn ständig nach [X.]. Hierdurch war der Angeklagte schließlich derart genervt, dass er sich dazu entschloss, den Angeklagten ruhig zu stellen. Zu diesem Zwecke verabreichte der Angeklagte dem Geschädigten am 12. Juni 2008 in dessen Zimmer zwischen 4.30 Uhr und 5.40 Uhr heimlich entweder oral mittels eines Bechers vermischt mit einem Getränk oder mittels des Zugangs über die [X.] ca. 138-240 mg des Wirkstoffs Diazepam, der sich in flüssiger Form in dem Arzneimittel —[X.] 0,3fi befand, das der An-geklagte in dem im Patientenzimmer befindlichen Arzneimittelschrank vorge-funden hatte. Der Angeklagte wusste, dass es sich hierbei um eine Dosierung handelte, welche die ärztlicherseits für überraschend auftretende [X.] verordnete Menge von 10 mg Diazepam erheblich überschritt. Um die Ent-nahme des Medikaments zu verschleiern, füllte der Angeklagte das Fläschchen mit einer Flüssigkeit - vermutlich Wasser - wieder auf und stellte es in den [X.] zurück. Entgegen dem Plan des Angeklagten begann das Me-dikament erst kurz nach 6.00 Uhr zu wirken, als der Angeklagte den [X.] bereits beendet und das Anwesen verlassen hatte. Der Geschädigte schlief gegen 6.10 Uhr ein und war während der nächsten Stunden nicht an-sprechbar. Erst zwischen 16.30 Uhr und 17.30 Uhr am späten Nachmittag ge-lang es, ihn kurzzeitig durch Rütteln aufzuwecken, ehe er wieder einschlief. In den darauf folgenden Tagen war er noch phasenweise schläfrig und benommen und hatte Schwierigkeiten mit dem Sprechen. Erst ab dem 15. Juni 2008 befand er sich wieder in seinem sonst gewöhnlichen Gesundheitszustand. 4 2. Die Revision rügt zu Recht einen Verstoß gegen § 251 Abs. 4 Nr. 1 StPO. Das [X.] hat im [X.] vom 20. Oktober 2009 auf Anordnung des Vorsitzenden zwei Vermerke des Zeugen H. —im [X.] - 4 - tigen Einvernehmenfi verlesen, ohne hierüber einen Gerichtsbeschluss herbei-zuführen. Die Verlesung der Vermerke im [X.] kam hier jedoch [X.] im Wege eines Gerichtsbeschlusses nach der Vorschrift des § 251 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO in Betracht, da sie formlose Befragungen des Geschädigten und damit —Vernehmungenfi zum Gegenstand hatten, welche nicht im erweiterten [X.] nach § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO verlesen werden dürfen. Das Fehlen des Gerichtsbeschlusses begründet die Revision (vgl. NStZ 1993, 144; 88, 283). Entgegen der Auffassung des [X.] kann der Senat nicht ausschließen, dass das Urteil auf dem festgestellten Rechtsfehler beruht. Zwar ist es zutreffend, dass das Beruhen nach der Rechtsprechung entfallen kann, wenn den Verfahrensbeteiligten der Grund der Verlesung bewusst war und die persönliche Vernehmung des Zeugen zur weiteren Aufklärung nicht hät-te beitragen können (vgl. [X.] NStZ-RR 2007, 52; 2001, 261). Ein solcher Aus-schluss des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Verletzung des [X.] und dem Urteil kann jedoch mit Rücksicht auf Sinn und Zweck des [X.] nur in Ausnahmefällen angenommen werden. Die in § 251 Abs. 4 Satz 1 StPO verlangte Entscheidung durch den gesamten Spruchkörper dient nicht nur der Unterrichtung der Verfahrensbeteiligten über den Grund der Verlesung. Sie beruht vor allem auch darauf, dass die Ersetzung der Vernehmung eines Zeugen durch die Verlesung einer Niederschrift den Grundsatz der Unmittelbarkeit einschränkt, der zur Qualitätssicherung der Be-weisaufnahme eine direkte und unvermittelte Wahrnehmung der [X.] in der Hauptverhandlung gewährleisten soll. [X.] in § 251 Abs. 4 Satz 1 StPO soll angesichts der potentiellen Bedeutung der Verle-sung für die Zuverlässigkeit der [X.] und Rekonstruktion des [X.] auch gewährleisten, dass das Gericht durch eine gemeinsame 6 - 5 - Meinungsbildung sowie in seiner Gesamtheit die Verantwortung dafür trägt, ob ausnahmsweise die Einschränkung der Unmittelbarkeit durch den Verzicht auf den Zeugen hinnehmbar ist oder die Aufklärungspflicht die Vernehmung der [X.] gebietet. Der Senat kann hier nicht ausschließen, dass die persönliche Verneh-mung des Zeugen H. eine weitergehende Aufklärung des Falles ermöglicht hätte als die erfolgte Verlesung der Vermerke. Insoweit ist es ohne Belang, dass auf die Vernehmung des Zeugen
H. sowie auf die Verlesung der Vermerke in der Hauptverhandlung im allseitigen Einverständnis verzichtet [X.]. Das Einverständnis von Staatsanwalt, Verteidiger und Angeklagtem nach § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO ist lediglich Voraussetzung für die Entscheidung ge-mäß § 251 Abs. 4 Satz 1 StPO, ersetzt aber nicht die nach dieser Vorschrift einzuhaltenden formellen Voraussetzungen, deren es ansonsten nicht bedürfte. Dem entspricht es, dass die Einhaltung der Förmlichkeiten in § 251 Abs. 4 StPO, insbesondere die förmliche Selbstkontrolle des Gerichts durch Entschei-dung des gesamten Spruchkörpers, nicht zur Disposition der Verfahrensbetei-ligten steht (vgl. [X.] NStZ-RR 2007, 52; [X.], 283). 7 Maßgebend ist vielmehr, dass sich die Verlesung der Vermerke ausweis-lich der Urteilsgründe auf die Entscheidung des [X.] tatsächlich aus-gewirkt haben kann. Die Verlesung hat der Kammer - zusammen mit anderen Indizien - die Überzeugung verschafft, dass dem Geschädigten das Medika-ment "[X.]" ohne sein Wissen verabreicht wurde. Außerdem hat sie auf-grund der Vermerke "von einer Vernehmung des körperlich schwer behinderten Zeugen in der Hauptverhandlung abgesehen" ([X.]). Bereits daraus folgt, dass ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Rechtsfehler und Urteil nicht rein theoretisch ist oder ausgeschlossen werden kann. Denn die Beschreibung 8 - 6 - der Aussagetüchtigkeit des Geschädigten beruhte ersichtlich auf einer Bewer-tung des die Anhörung durchführenden Polizeibeamten. Unter diesen [X.] hätte die persönliche Vernehmung des Polizeibeamten in der [X.] ein Hinterfragen seiner Einschätzung erlaubt. Auf die ergänzenden Ausführungen der Revision zur Beruhensfrage, die auf eine missverständliche Deutung der beiden Vermerke durch das Gericht hindeuten könnten, kommt es daher nicht an. 3. Der Senat weist für die neue Hauptverhandlung darauf hin, dass die Ausführungen des [X.] zur Motivation des Angeklagten in der [X.] nicht bedenkenfrei sind. Da die Kammer von einer —[X.] überzeugt ist, sieht sie —auch das Argument der Verteidigung entkräftet, dass der Ange-klagte zur Tatzeit lediglich noch 2 Stunden seines Nachtdienstes zu absolvieren und danach acht Tage [X.] ([X.]). Aus den Feststellungen ergibt sich jedoch als [X.]punkt der Verabreichung des Medikamentes die [X.] —zwi-schen 4.30 Uhr und 5.40 [X.] ([X.]) bei einer Ablösung des Angeklagten durch den Frühdienst —zwischen 5.45 Uhr und 5.50 [X.] ([X.]). Legt man dem entsprechend den spätest möglichen [X.]punkt der Beibringung während der Nachtschicht um 5.40 Uhr zugrunde, hätte der Angeklagte lediglich fünf Minuten Ruhe —gewonnenfi. Dies widerspricht der Annahme in der Beweiswürdigung, der Angeklagte habe nach der Verabreichung des [X.] noch zwei Stunden Nachtdienst gehabt. Darüber hinaus hätte sich das [X.] auch unter dem Aspekt dieses engen [X.]fensters im Rahmen seiner Beweiswürdigung mit der 9 - 7 - Frage befassen müssen, welche Motive den als pflichtbewussten Krankenpfle-ger geschilderten Angeklagten zu der Tat bewogen haben. [X.] Fischer Roggenbuck

Appl Schmitt

Meta

2 StR 78/10

10.06.2010

Bundesgerichtshof 2. Strafsenat

Sachgebiet: StR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 10.06.2010, Az. 2 StR 78/10 (REWIS RS 2010, 5998)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 5998

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