Bundesgerichtshof, Urteil vom 27.01.2010, Az. 2 StR 444/09

2. Strafsenat | REWIS RS 2010, 10015

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Gegenstand

Revisionsbegründung in Strafsachen: Notwendige Alternativrüge bei auslegungsfähiger Formulierung des Sitzungsprotokolls zur Verlesung einer Urkunde


Tenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des [X.] vom 17. Juni 2009 wird verworfen.

Es wird davon abgesehen, dem Angeklagten die Kosten seines Rechtsmittels aufzuerlegen; jedoch hat er seine sowie die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Von Rechts wegen

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung (Fall 3) sowie wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen (Fälle 1 und 2) zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Seine hiergegen gerichtete Revision, mit der er Verfahrensrügen und die Sachrüge erhebt, bleibt ohne Erfolg.

2

1. Nach den Feststellungen des [X.]s hat der Angeklagte am Abend des 2. Dezember 2008 gegen 23.00 Uhr unter Alkoholeinfluss auf seinen Nachbarn, den Zeugen [X.], [X.] mittels eines nicht mehr feststellbaren gefährlichen Gegenstandes eingeschlagen und ihm im Gesichtsbereich erhebliche Verletzungen zugefügt (Fall 1).

3

Gegen Mitternacht ließ der Angeklagte am Fernsehgerät in seiner Wohnung einen Musiksender in voller Lautstärke laufen. Der Nebenkläger, der zu Besuch bei der Geschädigten [X.] und ihrer Tochter in der darunter liegenden Wohnung war, begab sich wegen des Lärms nach oben, hämmerte gegen die Wohnungstür des Angeklagten und rief, er solle die Musik leiser stellen. Der Angeklagte fühlte sich hierdurch persönlich angegriffen und beleidigt, öffnete die Wohnungstür jedoch nicht. Einige [X.] später begab er sich zur Wohnung der Geschädigten [X.], klopfte gegen die Wohnungstür und rief nach dem Nebenkläger. Der Angeklagte hatte eine [X.], die vorne spitz zulief und eine Schnittklingenlänge von 5,5 cm hatte, sowie einen Kerzenständer dabei. Nachdem die Geschädigte [X.] die Tür geöffnet hatte, schlug er mit dem Kerzenständer nach ihr und traf sie [X.] am [X.]. Die Geschädigte erlitt dadurch u.a. Verletzungen am Schädel (Fall 2).

4

Der Nebenkläger kam der Geschädigten [X.] zu Hilfe, so dass diese in die Wohnung flüchten konnte. Der Angeklagte stach zielgerichtet mit der [X.] in Richtung des ungeschützten Kopfes des [X.]. Der Stich durchdrang die Wange und reichte bis in den Gaumen. Der Nebenkläger, der sofort stark blutete, wehrte sich. Im Laufe des Kampfes gingen beide zu Boden. Dem Angeklagten gelang es, sich auf den Nebenkläger zu setzen. Von dieser Position aus stach er noch mindestens zwei weitere Male mit der [X.] in das Gesicht des [X.], wodurch dieser weitere Schnittverletzungen im Gesicht sowie Verletzungen an Gaumen und Zunge davontrug. Bei allen Stichen erkannte der Angeklagte die Möglichkeit, tödliche Verletzungen an Schläfe oder Halsschlagader herbeizuführen und nahm dies in Kauf. Der Geschädigten [X.] gelang es schließlich, dem Angeklagten die [X.], mit der er weiter zustechen wollte, zu entreißen, sie in ihren Wohnungsflur zu werfen und den Angeklagten von dem Nebenkläger herunterzuziehen, weshalb er den Angriff abbrechen musste (Fall 3).

5

2. [X.] sowie die Verfahrensrügen haben überwiegend aus den in der Zuschrift des [X.] genannten Gründen keinen Erfolg. [X.] Erörterung bedarf allein zu Fall 3 die Rüge, die Verlesung des Berichtes des [X.] vom 8. Dezember 2008 verstoße gegen § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO, weil sie zumindest auch zum Nachweis des versuchten Tötungsdelikts zum Nachteil des [X.] gedient habe. Der [X.] hat sich der Rüge angeschlossen.

6

a) Sie greift jedoch nicht durch. Ein Verstoß gegen die Vorschrift des § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO ist nicht bewiesen. Im Protokoll ([X.]) heißt es, "dass der Vermerk über die Aufnahme des [X.] vom 8.12.2008, [X.]. 127 f. Bd. I d.A. … von dem Vorsitzenden verlesen" wurde. Diese Formulierung lässt vor dem Hintergrund, dass der betreffende Arztbericht im Zusammenhang mit der Vernehmung des [X.] in die Hauptverhandlung eingeführt wurde, die Möglichkeit offen, dass die Verlesung nicht nach § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO im [X.], sondern zum Zwecke des [X.] im Rahmen dieser Vernehmung erfolgte. Für die Annahme eines bloßen Vernehmungsbehelfs könnte - außer dem Umstand, dass § 256 StPO nicht ausdrücklich genannt wird - insbesondere sprechen, dass das Schriftstück nicht als Attest oder Gutachten, sondern als "Vermerk" bezeichnet wird.

7

Soweit der [X.] auf die Formulierung im Urteil hinweist, dass die Feststellungen zu den Verletzungen auch auf der Verlesung des ärztlichen Attestes beruhten ([X.]), könnte mit Rücksicht darauf allenfalls in Betracht gezogen werden, das [X.] habe bei seiner Überzeugungsbildung ein Beweismittel verwertet, das nicht Gegenstand der Hauptverhandlung war. Insoweit hätte es jedoch der - vom Beschwerdeführer nicht erhobenen - Verfahrensrüge bedurft, das [X.] habe seine Überzeugung entgegen § 261 StPO nicht aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpft.

8

b) Darüber hinaus würde das Urteil selbst dann nicht auf einem etwaigen Verstoß gegen § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO beruhen, wenn man eine Verlesung nach dieser Vorschrift als bewiesen erachtete. Der [X.] kann - anders als dies etwa in der vom [X.] zitierten Entscheidung ([X.], 569) der Fall war - ausschließen, dass das [X.] seine Überzeugung von einem bedingten Tötungsvorsatz zumindest auch aus dem Arztbericht des [X.] gewonnen hat. Die Urteilsgründe ([X.] ff.) nehmen zu dieser Frage weder wörtlich noch sinngemäß auf das Schriftstück Bezug, sondern enthalten davon unabhängige, eigenständige Überlegungen der Kammer. Dies gilt auch, soweit das [X.] bei der Feststellung "dass die Stiche mit großem Kraftaufwand ausgeführt worden sind" u.a. auf die "gefundenen Verletzungen" abstellt. Auch soweit die Kraftentfaltung bei den Stichen indiziell den Tötungsvorsatz mit begründen könnte, stellt das [X.] lediglich von dem Attest unabhängige Erwägungen an, die "bereits ohne Hinzuziehung eines Sachverständigen" zu klären waren und deren Grundlagen ihm durch die Vernehmung des [X.] sowie die Inaugenscheinnahme der Lichtbilder von seinen Verletzungen vermittelt worden sein konnten.

Frau VRinBGH
Prof. Dr. Rissing-van Saan
ist wegen Urlaubs an der
Unterschriftsleistung gehindert.

Fischer

Fischer      Roggenbuck
     Cierniak      [X.]     

Meta

2 StR 444/09

27.01.2010

Bundesgerichtshof 2. Strafsenat

Urteil

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Kassel, 17. Juni 2009, Az: 4641 Js 43207/08 Jug - 3 Ks, Urteil

§ 256 Abs 1 Nr 2 StPO, § 261 StPO, § 344 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 27.01.2010, Az. 2 StR 444/09 (REWIS RS 2010, 10015)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 10015

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2 StR 444/09

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