Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 23.01.2014, Az. 2 BvR 1239/12

2. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2014, 8416

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Parallelentscheidung


Tenor

1. Der Beschluss des [X.] vom 10. April 2012 - 15 W 479/12 Th - und die Beschlüsse des [X.] vom 7. März 2012 und vom 9. Februar 2012 - 7 AR 27/11 [X.] - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.

Der Beschluss des [X.] wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung über die Kosten und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers an das [X.] zurückverwiesen.

2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

3. Der [X.] hat dem Beschwerdeführer zwei Drittel seiner notwendigen Auslagen zu erstatten.

4. [X.] wird auf 120.000,00 € (in Worten: einhundertzwanzigtausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1

Der Beschwerdeführer wendet sich unmittelbar gegen seine gerichtlich angeordnete Unterbringung nach dem [X.] ([X.]). [X.] ist die Verfassungsbeschwerde gegen die Vorschriften des [X.]es selbst gerichtet.

2

1. Das [X.] verurteilte den Beschwerdeführer, der bereits zuvor wegen mehrfachen sexuellen Missbrauchs von Kindern zu Freiheitsstrafen verurteilt worden war und zur Tatzeit unter Führungsaufsicht stand, mit Urteil vom 23. Oktober 1990 unter anderem wegen mehrfachen sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und ordnete die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung an, die ab dem 12. September 1997 in der [X.] vollzogen wurde. Mit Beschluss der auswärtigen Strafvollstreckungskammer des [X.] mit Sitz in [X.] vom 20. Oktober 2011 wurde die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung über die Zehnjahresfrist hinaus für erledigt erklärt.

3

Im Verfahren nach dem [X.] ordnete das [X.] mit Beschluss vom 28. Oktober 2011 zunächst die vorläufige Unterbringung des Beschwerdeführers an; die hiergegen gerichtete Beschwerde blieb erfolglos. Mit Beschluss vom 9. Februar 2012 erfolgte die Unterbringungsanordnung in der Hauptsache bis zum 9. Mai 2013. Nachdem das [X.] der Beschwerde mit Beschluss vom 7. März 2012 nicht abgeholfen hatte, wies das [X.] die Beschwerde mit Beschluss vom 10. April 2012 zurück. In den Entscheidungsgründen wird hinsichtlich des erforderlichen Gefährlichkeitsmaßstabes auf die zutreffenden Ausführungen des [X.] verwiesen, das seinerseits Bezug auf die vorangegangene Beschwerdeentscheidung im Verfahren der einstweiligen Anordnung nimmt, der zufolge der strenge Maßstab, der bei einer Vertrauensschutzbelange betreffenden Sicherungsverwahrung anzulegen sei und eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten verlange, nicht auf den Tatbestand des § 1 [X.] zu übertragen sei.

4

2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3, Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3, Art. 19 Abs. 1 Satz 1, Art. 103 Abs. 1, Art. 103 Abs. 2 und Art. 104 Abs. 1 GG sowie von Art. 5 und 7 [X.]. Dem Bundesgesetzgeber fehle die Gesetzgebungskompetenz für das [X.]. Das Rückwirkungsverbot beziehungsweise das Vertrauensschutzgebot werde verletzt, weil die Therapieunterbringung zum [X.]punkt der strafrechtlichen Vorverurteilungen noch nicht gesetzlich geregelt gewesen sei und die Unterbringung deshalb eine Rückanknüpfung darstelle. Überdies genüge der Begriff der psychischen Störung nicht den Bestimmtheitsanforderungen. Das [X.] stelle zudem ein unzulässiges Einzelfallgesetz dar und verstoße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Darüber hinaus begründe die konkrete Anwendung des [X.]es eine Verletzung des Freiheitsrechts. Schließlich könne das [X.] entgegen der Ansicht des [X.] des [X.] (Beschluss vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. -) nicht verfassungskonform ausgelegt werden.

5

3. Den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat die [X.] des [X.] mit Beschluss vom 20. Juni 2012 abgelehnt.

6

4. Das Verfahren wurde dem [X.] mit der Gelegenheit zur Stellungnahme zugestellt. Das Ministerium hat von einer Stellungnahme abgesehen.

7

1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde - soweit sie gegen den Beschluss des [X.] vom 10. April 2012 - 15 W 479/12 Th - und die Beschlüsse des [X.] vom 7. März 2012 und vom 9. Februar 2012 - 7 AR 27/11 [X.] - gerichtet ist - zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen für eine stattgebende [X.] nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 [X.] sind insoweit erfüllt. Das [X.] hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen - insbesondere die Frage der Anforderungen an eine verfassungskonforme Auslegung von § 1 Abs. 1 Nr. 1 [X.] (vgl. [X.], Beschluss des [X.] vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. -, juris, Rn. 69 ff.) - bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 [X.]), und die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]).

8

a) Die Verfassungsbeschwerde ist - soweit die Kammer sie zur Entscheidung annimmt - zulässig und begründet.

9

aa) Der Zulässigkeit steht nicht entgegen, dass die Beschlüsse nicht mehr die Grundlage für eine aktuelle Unterbringung bilden. Der Beschwerdeführer hat ein fortbestehendes schutzwürdiges Interesse an einer nachträglichen verfassungsrechtlichen Überprüfung, weil die Therapieunterbringung aufgrund der angegriffenen Beschlüsse in der [X.] vom 9. Februar 2012 bis zum 9. Mai 2013 einen tiefgreifenden Eingriff in sein Freiheitsgrundrecht darstellte (vgl. dazu [X.]E 9, 89 <92 ff.>; 32, 87 <92>; 53, 152 <157 f.>; 104, 220 <234>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 31. Oktober 2005 - 2 BvR 2233/04 -, juris, Rn. 20 ff.).

bb) In dem bezeichneten Umfang ist die Verfassungsbeschwerde auch begründet. In den angegriffenen Beschlüssen über die Anordnung der Therapieunterbringung ist ein unzutreffender Maßstab zugrunde gelegt und der Beschwerdeführer dadurch in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt.

Mit Beschluss vom 11. Juli 2013 hat das [X.] festgestellt, dass § 1 Abs. 1 des [X.]es in der Fassung des [X.] und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 ([X.]) mit dem Grundgesetz mit der Maßgabe vereinbar ist, dass die Unterbringung oder deren Fortdauer nur angeordnet werden darf, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist ([X.], Beschluss des [X.] vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. -, juris, Rn. 69 ff.).

Die im Umfang der Annahme (§ 93a [X.]) zur Prüfung stehenden fachgerichtlichen Beschlüsse sind mit diesen Vorgaben für die Anwendung des [X.]es nicht zu vereinbaren. Sowohl das [X.] als auch das [X.] übertragen den strengen Verhältnismäßigkeitsmaßstab der hochgradigen Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten, wie ihn das [X.] für die Vertrauensschutzbelange betreffende Sicherungsverwahrung verlangt (vgl. [X.]E 128, 326 <399>) und wie er in gleicher Weise für die Therapieunterbringung Geltung beansprucht (vgl. [X.], Beschluss des [X.] vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. -, juris, Rn. 69 ff.), nicht auf den Tatbestand des § 1 Abs. 1 [X.]. Daher genügen die Beschlüsse den Anforderungen an eine verfassungskonforme Auslegung und Anwendung des § 1 Abs. 1 [X.] nicht und verletzen den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

Dabei kommt es für die Feststellung der Grundrechtsverletzung allein auf die objektive Verfassungswidrigkeit der angefochtenen fachgerichtlichen Entscheidungen im [X.]punkt der Entscheidung des [X.] an; unerheblich ist hingegen, ob die Grundrechtsverletzung den Fachgerichten vorwerfbar ist (vgl. [X.]E 128, 326 <407 f.>).

cc) Da die Verfassungsbeschwerde schon wegen der Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG begründet ist, bedarf es keiner Entscheidung, ob darüber hinaus weitere Grundrechte verletzt sind.

b) Der Beschluss des [X.] vom 10. April 2012 ist daher aufzuheben. Die Sache ist zur Entscheidung über die Kosten und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers (vgl. [X.]E 128, 326 <407>) an das [X.] zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 [X.]).

2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Hinsichtlich des mittelbaren Angriffs auf das [X.] wird - auch unter Berücksichtigung des darauf gerichteten Vortrags des Beschwerdeführers - auf den Beschluss des [X.] des [X.] vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. - verwiesen und im Übrigen von einer Begründung abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 [X.]).

3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2 [X.]. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. [X.]E 79, 365 <366 ff.>).

Meta

2 BvR 1239/12

23.01.2014

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 3. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend OLG Nürnberg, 10. April 2012, Az: 15 W 479/12 Th, Beschluss

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 23.01.2014, Az. 2 BvR 1239/12 (REWIS RS 2014, 8416)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 8416

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