Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 23.01.2014, Az. 2 BvR 565/12

2. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2014, 8410

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung von Grundrechten durch Fortdauer der Unterbringung nach dem Therapieunterbringungsgesetz (juris: ThUG) bei unzureichender fachgerichtlicher Verhältnismäßigkeitsprüfung - Fortbestehendes Rechtsschutzinteresse trotz zwischenzeitlicher Freilassung - Gegenstandswertfestsetzung


Tenor

1. Der Beschluss des [X.] vom 30. Dezember 2011 - 15 W 2355/11 [X.] und 15 W 2356/11 [X.] - und der Beschluss des [X.] vom 28. Oktober 2011 - 7 AR 9/11 [X.] - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.

Der Beschluss des [X.] wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung über die Kosten und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers an das [X.] zurückverwiesen.

2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

3. Der [X.] hat dem Beschwerdeführer zwei Drittel seiner notwendigen Auslagen zu erstatten.

4. [X.] wird auf 120.000,00 € (in Worten: einhundertzwanzigtausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1

Der Beschwerdeführer wendet sich unmittelbar gegen seine gerichtlich angeordnete Unterbringung nach dem [X.] ([X.]). [X.] ist die Verfassungsbeschwerde gegen die Vorschriften des [X.]es selbst gerichtet.

I.

2

1. Das [X.] verurteilte den Beschwerdeführer mit Urteil vom 7. April 1995 wegen Mordes in Tateinheit mit Raub mit Todesfolge zu einer Freiheitstrafe von 14 Jahren, die er bis zum 15. März 2008 vollständig verbüßte. Mit Urteil vom 16. April 2008 ordnete das [X.] die nachträgliche Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung an, die seit dem 30. September 2008 in der [X.] vollzogen wurde. Nachdem die auswärtige Strafvollstreckungskammer des [X.] mit Sitz in [X.] den weiteren Vollzug der nachträglichen Sicherungsverwahrung angeordnet hatte, erklärte das [X.] mit Beschluss vom 9. Juni 2011 die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung zum 31. Dezember 2011 für erledigt.

3

Im Verfahren nach dem [X.] ordnete das [X.] mit Beschluss vom 14. Oktober 2011 zunächst die vorläufige Unterbringung des Beschwerdeführers an. Mit Beschluss vom 28. Oktober 2011 erfolgte die Unterbringungsanordnung in der Hauptsache bis zum 17. April 2013. Das [X.] wies die hiergegen gerichtete Beschwerde mit Beschluss vom 30. Dezember 2011 zurück. In den Entscheidungsgründen wird hinsichtlich des erforderlichen Gefährlichkeitsmaßstabes ausgeführt, dass der strenge Maßstab, der bei einer Vertrauensschutzbelange betreffenden Sicherungsverwahrung anzulegen sei und eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten verlange, nicht auf den Tatbestand des § 1 [X.] zu übertragen sei.

4

2. Mit der am 31. Januar 2012 eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 und Art. 20 Abs. 3 sowie Art. 103 Abs. 1 und 2 GG. Dem [X.] fehle die Gesetzgebungskompetenz zum Erlass des [X.]es, es liege ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot und das Bestimmtheitsgebot vor, und die Annahme einer psychischen Störung durch die Fachgerichte sei fehlerhaft. Darüber hinaus verstoße die Unterbringung gegen die Vorgaben der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten - [X.] -, und es fehle an geeigneten Unterbringungseinrichtungen. Ergänzend macht der Beschwerdeführer geltend, das [X.] könne entgegen der Ansicht des [X.] des [X.]esverfassungsgerichts (Beschluss vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. -) nicht verfassungskonform ausgelegt werden.

5

3. Das Verfahren wurde dem [X.] mit der Gelegenheit zur Stellungnahme zugestellt. Das Ministerium hat von einer Stellungnahme abgesehen.

II.

6

1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde - soweit sie gegen den Beschluss des [X.] vom 30. Dezember 2011 - 15 W 2355/11 [X.] und 15 W 2356/11 [X.] - und den Beschluss des [X.] vom 28. Oktober 2011 - 7 AR 9/11 [X.] - gerichtet ist - zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen für eine stattgebende [X.] nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 [X.] sind insoweit erfüllt. Das [X.]esverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen - insbesondere die Frage der Anforderungen an eine verfassungskonforme Auslegung von § 1 Abs. 1 Nr. 1 [X.] (vgl. [X.], Beschluss des [X.] vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. -, juris, Rn. 69 ff.) - bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 [X.]), und die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]).

7

a) Die Verfassungsbeschwerde ist - soweit die Kammer sie zur Entscheidung annimmt - zulässig und begründet.

8

aa) Der Zulässigkeit steht nicht entgegen, dass die Beschlüsse nicht mehr die Grundlage für eine aktuelle Unterbringung bilden. Der Beschwerdeführer hat ein fortbestehendes schutzwürdiges Interesse an einer nachträglichen verfassungsrechtlichen Überprüfung, weil die Therapieunterbringung aufgrund der angegriffenen Beschlüsse in der [X.] vom 28. Oktober 2011 bis zum 17. April 2013 einen tiefgreifenden Eingriff in sein Freiheitsgrundrecht darstellte (vgl. dazu [X.]E 9, 89 <92 ff.>; 32, 87 <92>; 53, 152 <157 f.>; 104, 220 <234>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 31. Oktober 2005 - 2 BvR 2233/04 -, juris, Rn. 20 ff.).

9

bb) In diesem Umfang ist die Verfassungsbeschwerde auch begründet. In den angegriffenen Beschlüssen über die Anordnung der Therapieunterbringung ist ein unzutreffender Maßstab zugrunde gelegt und der Beschwerdeführer dadurch in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt.

Mit Beschluss vom 11. Juli 2013 hat das [X.]esverfassungsgericht festgestellt, dass § 1 Abs. 1 des [X.]es in der Fassung des [X.] und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 ([X.]) mit dem Grundgesetz mit der Maßgabe vereinbar ist, dass die Unterbringung oder deren Fortdauer nur angeordnet werden darf, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist ([X.], Beschluss des [X.] vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. -, juris, Rn. 69 ff.).

Die im Umfang der Annahme (§ 93a [X.]) zur Prüfung stehenden fachgerichtlichen Beschlüsse sind mit diesen Vorgaben für die Anwendung des [X.]es nicht zu vereinbaren. Sowohl das [X.] als auch das [X.] übertragen den strengen Verhältnismäßigkeitsmaßstab der hochgradigen Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten, wie ihn das [X.]esverfassungsgericht für die Vertrauensschutzbelange betreffende Sicherungsverwahrung verlangt (vgl. [X.]E 128, 326 <399>) und wie er in gleicher Weise für die Therapieunterbringung Geltung beansprucht (vgl. [X.], Beschluss vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. -, juris, Rn. 69 ff.), nicht auf den Tatbestand des § 1 Abs. 1 [X.]. Daher genügen die Beschlüsse den Anforderungen an eine verfassungskonforme Auslegung und Anwendung des § 1 Abs. 1 [X.] nicht und verletzen den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

Dabei kommt es für die Feststellung der Grundrechtsverletzung allein auf die objektive Verfassungswidrigkeit der angefochtenen fachgerichtlichen Entscheidungen im [X.]punkt der Entscheidung des [X.]esverfassungsgerichts an; unerheblich ist hingegen, ob die Grundrechtsverletzung den Fachgerichten vorwerfbar ist (vgl. [X.]E 128, 326 <407 f.>).

cc) Da die Verfassungsbeschwerde schon wegen der Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG begründet ist, bedarf es keiner Entscheidung, ob darüber hinaus weitere Grundrechte verletzt sind.

b) Der Beschluss des [X.] vom 30. Dezember 2011 ist daher aufzuheben. Die Sache ist zur Entscheidung über die Kosten und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers (vgl. [X.]E 128, 326 <407>) an das [X.] zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 [X.]).

2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Hinsichtlich des mittelbaren Angriffs auf das [X.] wird - auch unter Berücksichtigung des darauf gerichteten Vortrags des Beschwerdeführers - auf den Beschluss des [X.] des [X.]esverfassungsgerichts vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. - verwiesen und im Übrigen von einer Begründung abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 [X.]).

3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2 [X.]. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. [X.]E 79, 365 <366 ff.>).

Meta

2 BvR 565/12

23.01.2014

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 3. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend OLG Nürnberg, 30. Dezember 2011, Az: 15 W 2355/11 ThUG, Beschluss

Art 2 Abs 2 S 2 GG, Art 20 Abs 3 GG, Art 104 Abs 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 14 Abs 1 RVG, § 37 Abs 2 S 2 RVG, § 66 StGB, § 1 Abs 1 Nr 1 ThUG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 23.01.2014, Az. 2 BvR 565/12 (REWIS RS 2014, 8410)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 8410

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