Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 22.01.2014, Az. 2 BvR 1100/12

2. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2014, 8516

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung von Grundrechten durch Fortdauer der Unterbringung nach dem Therapieunterbringungsgesetz (juris: ThUG) bei unzureichender fachgerichtlicher Verhältnismäßigkeitsprüfung - Fortbestehendes Rechtsschutzinteresse trotz zwischenzeitlicher Freilassung - Gegenstandswertfestsetzung


Tenor

1. Der Beschluss des [X.] vom 26. März 2011 - 15 W 407/12 Th - und die Beschlüsse des [X.] vom 18. Februar 2012 und vom 3. Februar 2012 - 7 AR 4/11 [X.] - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.

Der Beschluss des [X.] wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung über die Kosten und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers an das [X.] zurückverwiesen.

2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

3. Der [X.] hat dem Beschwerdeführer zwei Drittel seiner notwendigen Auslagen zu erstatten.

4. [X.] wird auf 120.000,00 € (in Worten: einhundertzwanzigtausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1

Der Beschwerdeführer wendet sich unmittelbar gegen seine gerichtlich angeordnete Unterbringung nach dem [X.] ([X.]). [X.] ist die Verfassungsbeschwerde gegen die Vorschriften des [X.]es selbst gerichtet.

I.

2

1. Das [X.] verurteilte den mehrfach vorbestraften Beschwerdeführer mit Urteil vom 9. April 1987 wegen versuchten Mordes in zwei tateinheitlichen Fällen zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren und ordnete die Sicherungsverwahrung an, die - nachdem zwei weitere kurzzeitige Freiheitsstrafen gegen den Beschwerdeführer vollstreckt worden waren - ab dem 5. November 1996 zunächst im Vollzug der Maßregel der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und nach Aufhebung des entsprechenden Beschlusses ab dem 26. August 1999 in der [X.] vollzogen wurde. Nachdem die auswärtige Strafvollstreckungskammer des [X.] mit Sitz in [X.] mit Beschluss vom 25. August 2011 den weiteren Vollzug der Sicherungsverwahrung über die Zehnjahresfrist hinaus angeordnet hatte, erklärte das [X.] mit Beschluss vom 14. Dezember 2011 die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung mit sofortiger Wirkung für erledigt.

3

Im Verfahren nach dem [X.] ordnete das [X.] mit Beschluss vom 14. Dezember 2011 zunächst die vorläufige Unterbringung des Beschwerdeführers an. Mit Beschluss vom 3. Februar 2012 erfolgte die Unterbringungsanordnung in der Hauptsache bis zum 13. Juni 2013. Nachdem das [X.] der Beschwerde mit Beschluss vom 18. Februar 2012 nicht abgeholfen hatte, wies das [X.] die Beschwerde mit Beschluss vom 26. März 2012 zurück. In den Entscheidungsgründen wird hinsichtlich des erforderlichen Gefährlichkeitsmaßstabes auf eine Erheblichkeit der Straftat im Sinne des § 66b Satz 1 Nr. 2 StGB abgestellt, die als Gefahrenmaßstab für die Beurteilung der Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 [X.] heranzuziehen sei, während der bei einer Vertrauensschutzbelange betreffenden Sicherungsverwahrung anzulegende Maßstab einer hochgradigen Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten nicht zur Anwendung gebracht wurde.

4

2. Mit der am 19. Mai 2012 eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3, Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3, Art. 19 Abs. 1 Satz 1, Art. 103 Abs. 1, Art. 103 Abs. 2 und Art. 104 Abs. 1 GG sowie von Art. 5 und 7 [X.]. Dem Bundesgesetzgeber fehle die Gesetzgebungskompetenz für das [X.]. Das Rückwirkungsverbot beziehungsweise das Vertrauensschutzgebot werde verletzt, weil die Therapieunterbringung zum [X.]punkt der strafrechtlichen Vorverurteilungen noch nicht gesetzlich geregelt gewesen sei und die Unterbringung deshalb eine Rückanknüpfung darstelle. Überdies genüge der Begriff der psychischen Störung nicht den Bestimmtheitsanforderungen. Das [X.] stelle zudem ein unzulässiges Einzelfallgesetz dar und verstoße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Darüber hinaus rügt der Beschwerdeführer sowohl die Anwendung des [X.]es als auch die konkrete Verfahrensgestaltung. Ergänzend macht der Beschwerdeführer geltend, das [X.] könne entgegen der Ansicht des [X.] des [X.] (Beschluss vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. -) nicht verfassungskonform ausgelegt werden.

5

3. Den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat die [X.] des [X.] mit Beschluss vom 20. Juni 2012 abgelehnt.

6

4. Das Verfahren wurde dem [X.] mit der Gelegenheit zur Stellungnahme zugestellt. Das Ministerium hat von einer Stellungnahme abgesehen.

II.

7

1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde - soweit sie gegen den Beschluss des [X.] vom 26. März 2012 - 15 W 407/12 Th - und die Beschlüsse des [X.] vom 18. Februar 2012 und vom 3. Februar 2012 - 7 AR 4/11 [X.] - gerichtet ist - zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen für eine stattgebende [X.] nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 [X.] sind insoweit erfüllt. Das [X.] hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen - insbesondere die Frage der Anforderungen an eine verfassungskonforme Auslegung von § 1 Abs. 1 Nr. 1 [X.] (vgl. [X.], Beschluss des [X.] vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. -, juris, Rn. 69 ff.) - bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 [X.]), und die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]).

8

a) Die Verfassungsbeschwerde ist - soweit die Kammer sie zur Entscheidung annimmt - zulässig und begründet.

9

aa) Der Zulässigkeit steht nicht entgegen, dass die Beschlüsse nicht mehr die Grundlage für eine aktuelle Unterbringung bilden. Der Beschwerdeführer hat ein fortbestehendes schutzwürdiges Interesse an einer nachträglichen verfassungsrechtlichen Überprüfung, weil die Therapieunterbringung aufgrund der angegriffenen Beschlüsse in der [X.] vom 3. Februar 2012 bis zum 13. Juni 2013 einen tiefgreifenden Eingriff in sein Freiheitsgrundrecht darstellte (vgl. dazu [X.]E 9, 89 <92 ff.>; 32, 87 <92>; 53, 152 <157 f.>; 104, 220 <234>; [X.], Beschluss der [X.] des [X.] vom 31. Oktober 2005 - 2 BvR 2233/04 -, juris, Rn. 20 ff.).

bb) In dem bezeichneten Umfang ist die Verfassungsbeschwerde auch begründet. In den angegriffenen Beschlüssen über die Anordnung der Therapieunterbringung ist ein unzutreffender Maßstab zugrunde gelegt und der Beschwerdeführer dadurch in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt.

Mit Beschluss vom 11. Juli 2013 hat das [X.] festgestellt, dass § 1 Abs. 1 des [X.]es in der Fassung des [X.] und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 ([X.]) mit dem Grundgesetz mit der Maßgabe vereinbar ist, dass die Unterbringung oder deren Fortdauer nur angeordnet werden darf, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist ([X.], Beschluss des [X.] vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11, u.a. -, juris, Rn. 69 ff.).

Die im Umfang der Annahme (§ 93a [X.]) zur Prüfung stehenden fachgerichtlichen Beschlüsse sind mit diesen Vorgaben für die Anwendung des [X.]es nicht zu vereinbaren. Sowohl das [X.] als auch das [X.] übertragen den strengen Verhältnismäßigkeitsmaßstab der hochgradigen Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten, wie ihn das [X.] für die Vertrauensschutzbelange betreffende Sicherungsverwahrung verlangt (vgl. [X.]E 128, 326 <399>) und wie er in gleicher Weise für die Therapieunterbringung Geltung beansprucht (vgl. [X.], Beschluss vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. -, juris, Rn. 69 ff.), nicht auf den Tatbestand des § 1 Abs. 1 [X.]. Daher genügen die Beschlüsse den Anforderungen an eine verfassungskonforme Auslegung und Anwendung des § 1 Abs. 1 [X.] nicht und verletzen den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

Dabei kommt es für die Feststellung der Grundrechtsverletzung allein auf die objektive Verfassungswidrigkeit der angefochtenen fachgerichtlichen Entscheidungen im [X.]punkt der Entscheidung des [X.] an; unerheblich ist hingegen, ob die Grundrechtsverletzung den Fachgerichten vorwerfbar ist (vgl. [X.]E 128, 326 <407 f.>).

cc) Da die Verfassungsbeschwerde schon wegen der Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG begründet ist, bedarf es keiner Entscheidung, ob darüber hinaus weitere Grundrechte verletzt sind.

b) Der Beschluss des [X.] vom 26. März 2012 ist daher aufzuheben. Die Sache ist zur Entscheidung über die Kosten und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers (vgl. [X.]E 128, 326 <407>) an das [X.] zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 [X.]).

2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Hinsichtlich des mittelbaren Angriffs auf das [X.] wird - auch unter Berücksichtigung des darauf gerichteten Vortrags des Beschwerdeführers - auf den Beschluss des [X.] des [X.] vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. - verwiesen und im Übrigen von einer Begründung abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 [X.]).

3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2 [X.]. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. [X.]E 79, 365 <366 ff.>).

Meta

2 BvR 1100/12

22.01.2014

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 3. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend OLG Nürnberg, 26. März 2012, Az: 15 W 407/12 Th, Beschluss

Art 2 Abs 2 S 2 GG, Art 20 Abs 3 GG, Art 104 Abs 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 14 Abs 1 RVG, § 37 Abs 2 S 2 RVG, § 66 StGB, § 1 Abs 1 Nr 1 ThUG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 22.01.2014, Az. 2 BvR 1100/12 (REWIS RS 2014, 8516)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 8516

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