Bundesgerichtshof, Urteil vom 05.12.2023, Az. VI ZR 108/21

6. Zivilsenat | REWIS RS 2023, 9126

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Gegenstand

Geburtsschaden: Indizwirkung der Behandlungsdokumentation


Leitsatz

1. Einer ordnungsgemäßen, zeitnah erstellten Dokumentation in Papierform, die keinen Anhalt für Veränderungen, Verfälschungen oder Widersprüchlichkeiten bietet, kommt zugunsten der Behandlungsseite Indizwirkung zu, die im Rahmen der freien tatrichterlichen Beweiswürdigung nach § 286 Abs. 1 ZPO zu berücksichtigen ist.

2. In die Beweiswürdigung sind alle vom Beweisgegner vorgebrachten Gesichtspunkte einzubeziehen. Der Beweisgegner muss nicht die inhaltliche Richtigkeit der Dokumentation widerlegen. Ihm obliegt nicht der Beweis des Gegenteils. Vielmehr genügt es, wenn er Umstände dartut, die bleibende Zweifel daran begründen, dass das Dokumentierte der Wahrheit entspricht, das Beweisergebnis also keine Überzeugung im Sinne von § 286 ZPO rechtfertigt. So verhält es sich insbesondere, wenn der Beweisgegner Umstände aufzeigt, die den Indizwert - die abstrakte Beweiskraft - der Dokumentation in Frage stellen.

3. An dem erforderlichen Indizwert der Dokumentation fehlt es dann, wenn der Dokumentierende Umstände in der Patientenakte festgehalten hat, die sich zu Lasten des im konkreten Fall in Anspruch genommenen Mitbehandlers (Beweisgegners) auswirken, und nicht ausgeschlossen werden kann, dass dies aus eigenem Interesse an einer Vermeidung oder Verringerung der eigenen Haftung erfolgt ist.

Tenor

Auf die Revision der Beklagten zu 1 bis 4 wird das Urteil des 5. Zivilsenats des [X.] vom 17. März 2021 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des [X.], an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

1

Die [X.] begehren als Träger der gesetzlichen [X.] Schadensersatz aus übergegangenem Recht des bei ihnen versicherten Kindes [X.] wegen behaupteter Behandlungsfehler bei dessen Geburt.

2

Die Mutter von [X.] suchte am 10. September 2009 um 8.00 Uhr bei einsetzender Wehentätigkeit das Krankenhaus auf, in dem die Beklagte zu 1 als eine in Form der Gesellschaft bürgerlichen Rechts betriebene Gemeinschaftspraxis eine gynäkologische und geburtshilfliche Belegabteilung unterhält. Die [X.] zu 2 und 3 sind die persönlich haftenden Gesellschafter der [X.] zu 1. Der Beklagte zu 4 war zur [X.] als Assistenzarzt in Weiterbildung bei der [X.] zu 1 angestellt. Die ehemalige Beklagte zu 5 war in dem Krankenhaus als Beleghebamme tätig und nahm auf Wunsch der bei den [X.] versicherten Kindesmutter auf der Grundlage eines entsprechenden [X.] die Betreuung der Geburt wahr.

3

Beim Eintreffen der Mutter in der Klinik wurde diese zunächst von einer im Krankenhaus angestellten Hebamme betreut. Eine ärztliche Eingangsuntersuchung fand nicht statt. Um 11.00 Uhr übernahm die ehemalige Beklagte zu 5 (nachfolgend: Beleghebamme) die Betreuung der Mutter. Sie schrieb mehrfach ein [X.], das ab 15.00 Uhr pathologisch, ab 15.30 Uhr eindeutig pathologisch und ab 15.55 Uhr hochpathologisch war. Die Beleghebamme reagierte hierauf allerdings nicht. In der von ihr geführten Dokumentation ist für 19.10 Uhr vermerkt: "(...) [X.], [X.][...] [Beklagter zu 4] [X.] gezeigt (...)". Um 19.36 Uhr rief die Beleghebamme den [X.] zu 4 an und bat ihn, vorbeizukommen. Der Beklagte zu 4 traf spätestens um 19.45 Uhr im Kreißsaal ein und stellte fest, dass das [X.] eine Bradykardie zeigte. Er nahm eine medikamentöse Notfalltokolyse vor und informierte den [X.] zu 2. Dieser ordnete zunächst eine eilige und nach einem weiteren massiven Abfall der Herztöne eine Notsectio an. [X.] wurde um 20.20 Uhr geboren. Ein Operationsbericht über den Kaiserschnitt existiert nicht. Es liegen jedoch am Folgetag gefertigte Berichte der [X.] zu 2 und 4 vor. Im Bericht des [X.] zu 2 heißt es auszugsweise: "Nach Eintreffen von [X.] […] [Beleghebamme] (Uhrzeit?) wird Frau G.[…] von der Hebamme übernommen und ausschließlich von ihr betreut. Über die weiteren Schritte, die von [X.][…] durchgeführt werden sowie über das [X.] werden keine Informationen an [X.][…] [Beklagter zu 4] und [X.] weitergegeben. Um 18.00 Uhr frage ich bei der Hebamme nach dem Befund und dem [X.] nach. [X.] wird mitgeteilt, dass der Muttermund 7 cm eröffnet ist, im [X.] habe es einen [X.] gegeben. Es sei jetzt aber wieder alles völlig in Ordnung. Um 19.55 Uhr werde ich dann von [X.] [… ] angerufen, dass ich bitte sofort in den Kreißsaal kommen möchte. (...) Aufgrund von immer wiederkehrenden Dezelerationen und dem Untersuchungsbefund Entschluss zur Sectio caesarea. Während der Vorbereitungen zur Sectio kommt es zu einem weiteren massiven Herztonabfall. Um 20.15 Uhr lassen sich die Herztöne des Kindes nicht mehr finden, deshalb sofortiger Entschluss zur Notsectio. Um 20.20 Uhr wird dann ein schlaffes Neugeborenes entwickelt, welches an den anwesenden Anästhesisten übergeben wird (...)".

4

Im Bericht des [X.] zu 4 heißt es auszugsweise: "Von der stationären Aufnahme der Patientin bis 19.36 Uhr war ich informiert: Um 16.20 Uhr Blasensprung und Muttermund bis auf 7 cm weit geöffnet. Keine Informationen über [X.]. Um 19.36 Uhr wurde ich von [X.] […] angerufen, der Muttermund ist vollständig, sonst keine anderen Informationen am Telefon. Neun Minuten später bin ich im Kreißsaal vor Ort angekommen. [X.]: [X.] (...) Info an Herrn Dr. med. A. […] [Beklagter zu 2] über [X.] und Befund. Dr. A. […] trifft 8 Minuten später im Kreißsaal ein."

5

Das Kind war bei seiner Entbindung leblos, ohne eigene Atmung und ohne Muskeltonus. Es wurde von dem die Geburt betreuenden Anästhesisten reanimiert und um 20.35 Uhr von dem pädiatrischen Notdienst übernommen. Es leidet unter einer irreversiblen Hirnschädigung, aufgrund derer die [X.] Leistungen in der [X.] erbrachten und weiter erbringen.

6

Das [X.] hat die Leistungsklagen der [X.] gegen die Beleghebamme dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und deren Ersatzverpflichtung festgestellt. Die Hebamme habe grob behandlungsfehlerhaft nicht auf den dokumentierten Geburtsverlauf und das hochpathologische [X.] reagiert. Spätestens um 15.55 Uhr habe eine zwingende Indikation bestanden, den diensthabenden Arzt zu informieren. Insoweit ist das Urteil rechtskräftig. Die gegen die [X.] zu 1 bis 4 gerichteten Klagen hat das [X.] abgewiesen. Es konnte sich nicht davon überzeugen, dass die Ärzte der [X.] zu 1 die Geburtsleitung vor 19.45 Uhr übernommen hatten. Es konnte sich insbesondere nicht davon überzeugen, dass der Beklagte zu 4 das [X.] um 19.10 Uhr gesehen hatte. Das einzige Indiz, das für eine Anwesenheit des [X.] zu 4 zu diesem Zeitpunkt im Kreißsaal spreche, sei die auf ihre eigene schriftliche Dokumentation gestützte Darstellung der Beleghebamme. Dies reiche für die Überzeugung der Kammer angesichts der Angaben der Kindsmutter und der Anhörung der Beleghebamme nicht aus.

7

Auf die Berufung der [X.] hat das [X.] das landgerichtliche Urteil abgeändert und die bezifferten [X.] auch gegen die [X.] zu 1 bis 4 für gerechtfertigt erklärt. Darüber hinaus hat das [X.] die Ersatzverpflichtung der [X.] zu 1 bis 4 festgestellt. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgen die [X.] zu 1 bis 4 ihren Klageabweisungsantrag weiter.

Entscheidungsgründe

I.

8

Nach Auffassung des Berufungsgerichts haften die [X.] zu 1 bis 4 den [X.] aus gemäß § 116 Abs. 1 SGB X übergegangenem Recht für den [X.] bei den [X.] mitversicherten Kindes. Die Beklagte zu 1 hafte wegen Verletzung des mit der Mutter des Kindes geschlossenen Behandlungsvertrags, in dessen Schutzbereich das Kind einbezogen sei. Die Beklagte zu 1 müsse sich allerdings nicht die Fehler der Beleghebamme zurechnen lassen. Denn diese sei im relevanten Zeitraum nicht Erfüllungsgehilfin der [X.] zu 1 gewesen. Vor 19.45 Uhr habe die Beklagte zu 1 die Verantwortung für die Leitung der Geburt nicht übernommen. Unstreitig sei eine ärztliche Eingangsuntersuchung der Kindsmutter nicht erfolgt. Der Beklagte zu 2 habe die Leitung der Geburt nicht um 18.00 Uhr übernommen. Unstreitig habe er sich zu diesem Zeitpunkt bei der Beleghebamme abgemeldet und diese bei Bedarf für ärztliche Unterstützung an den noch anwesenden [X.] zu 4 verwiesen. Der Beklagte zu 2 habe die Kindsmutter weder untersucht noch eine Entscheidung bezüglich ihrer weiteren Behandlung getroffen. Etwas Anderes sei auch nicht dann anzunehmen, wenn er bei dieser Gelegenheit einen Blick auf das [X.] geworfen habe, was zwischen den Parteien streitig sei. Denn hieraus hätte er dann ersichtlich keine Konsequenzen gezogen und wäre stattdessen gegangen. Dass der Beklagte zu 2 bei sorgfältigem Blick auf das [X.] die Behandlung hätte übernehmen müssen, sei geeignet, eine Eigenhaftung des [X.] zu 2 durch unterlassene [X.] zu begründen, führe aber nicht als solches zu einer [X.].

9

Eine Haftung der [X.] zu 1 ergebe sich aber aus den Versäumnissen des [X.] zu 4, der als angestellter Assistenzarzt deren Erfüllungsgehilfe gewesen sei. Er habe einen groben Behandlungsfehler dadurch begangen, dass er um 19.10 Uhr das hochpathologische [X.] gesehen und gleichwohl nichts unternommen habe. Die entgegenstehende Feststellung des [X.] begegne Bedenken, da das [X.] die Beweislast und insbesondere die Wirkung der an[X.]lautenden Dokumentation der Beleghebamme verkannt habe. Denn dafür, dass die Beleghebamme dem [X.] zu 4 das [X.] um 19.10 Uhr gezeigt habe, spreche eine tatsächliche Vermutung. Eine ärztliche Dokumentation indiziere nicht nur, dass nicht erwähnte dokumentationspflichtige Maßnahmen unterblieben seien, sondern auch, dass die in der Dokumentation genannten Behandlungsmaßnahmen durchgeführt worden seien. Insofern sei der Inhalt der Dokumentation als richtig zu unterstellen, soweit nicht der Behandelnde das Gegenteil beweise, wenn der Patient sich auf die Richtigkeit der Dokumentation berufe. Dies gelte auch für die Dokumentation der Beleghebamme, in der um 19.10 Uhr vermerkt sei, dass sie das [X.] dem [X.] zu 4 gezeigt habe. Dem stehe nicht entgegen, dass die Dokumentation insoweit nicht von den [X.] zu 1 bis 4 erstellt sei, sondern von der Beleghebamme. Denn es habe vorliegend keine gesonderte ärztliche Dokumentation des [X.] gegeben, sondern nur Berichte, die die [X.] zu 2 und 4 am Folgetag nachträglich erstellt hätten. Diese seien im Angesicht der unbefriedigenden Entwicklung gefertigt worden und nicht geeignet, die Dokumentation der Beleghebamme zu widerlegen. Eine Widerlegung der Vermutung sei den [X.] zu 1 bis 4 auch im Übrigen nicht gelungen. Die Kindeseltern hätten sich zwar nicht daran erinnern können, dass der Beklagte zu 4 um 19.10 Uhr da gewesen sei und auf das [X.] geschaut habe. Auch der Beklagte zu 4 habe sich nicht mehr erinnern können. Er habe sich darauf berufen, dass er das [X.] immer abzeichne, wenn er darauf schaue. Dies sei im vorliegenden Fall aber bereits dadurch widerlegt, dass er auch um 19.45 Uhr oder zu einem späteren Zeitpunkt das [X.] nicht abgezeichnet habe, als er es angeschaut und die Bradykardie festgestellt habe. Auf dem [X.] sei um 19.45 Uhr zwar vermerkt "Dr. S.[…] anwesend". Dies sei allerdings ein Eintrag der Beleghebamme und nicht des [X.] zu 4. Der dem [X.] zu 4 unterlaufene grobe Behandlungsfehler sei auch ursächlich für die Schädigung des bei den [X.] versicherten Kindes geworden. Den [X.] sei der Beweis nicht gelungen, dass das Kind die bei ihm eingetretene schwere hypoxisch-ischämische Hirnschädigung auch bei korrektem Vorgehen des [X.] zu 4 erlitten hätte.

Die [X.] zu 2 und 3 hafteten analog nach § 128 HGB für die Verbindlichkeit der [X.] zu 1. Ob dem [X.] zu 2 darüber hinaus auch eigene Behandlungsfehler vorzuwerfen seien, bedürfe deshalb keiner Entscheidung. Der Beklagte zu 4 hafte unmittelbar deliktisch aus § 823 Abs. 1 BGB.

II.

Diese Ausführungen halten der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Mit der Begründung des Berufungsgerichts kann eine Haftung der [X.] zu 1 bis 4 für den [X.] bei den [X.] versicherten Kindes nicht bejaht werden.

1. Das Berufungsgericht ist allerdings zu Recht davon ausgegangen, dass das Kind in den Schutzumfang des zwischen seiner Mutter und der [X.] zu 1 zustande gekommenen Vertrags über die Erbringung geburtshilflicher Leistungen einbezogen ist und aus Pflichtverletzungen der für die Beklagte zu 1 tätig gewordenen Erfüllungsgehilfen, die zur Verletzung seiner Gesundheit vor oder während der Geburt führten, eigene Schadensersatzansprüche gegen die Beklagte zu 1 herleiten kann (§ 280 Abs. 1, § 278 BGB, vgl. Senatsurteil vom 7. Dezember 2004 - [X.], [X.], 255, juris Rn. 22 mwN). Das Berufungsgericht hat auch zutreffend angenommen, dass die [X.] zu 2 und 3 als persönlich haftende Gesellschafter der [X.] zu 1 entsprechend § 128 HGB für etwaige Verbindlichkeiten der [X.] (vgl. [X.], Urteile vom 29. Januar 2001 - II ZR 331/00, [X.]Z 146, 341, juris Rn. 39; vom 24. Februar 2003 - [X.], [X.]Z 154, 88, juris Rn. 19 f.).

2. Die Revision wendet sich aber mit Erfolg gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, dem von der [X.] zu 1 zur Erbringung der ihr obliegenden ärztlichen Leistungen der Geburtshilfe eingesetzten [X.] zu 4 sei deshalb ein Behandlungsfehler unterlaufen, weil er das hochpathologische [X.] um 19.10 Uhr zur Kenntnis genommen und gleichwohl zunächst nichts unternommen habe. Das Berufungsgericht hat rechtsfehlerhaft den [X.] die Beweislast dafür auferlegt, dass der Beklagte zu 4 das [X.] nicht bereits um 19.10 Uhr gesehen hat.

a) Wie das Berufungsgericht im Ausgangspunkt zutreffend angenommen hat, ist es grundsätzlich Sache des Anspruchstellers, einen behaupteten Behandlungsfehler des Arztes nachzuweisen (vgl. Senatsurteile vom 27. April 2021 - [X.], [X.]Z 229, 331 Rn. 13; vom 21. Dezember 2010 - [X.], [X.]Z 188, 29 Rn. 19; vom 22. Oktober 2019 - [X.], [X.], 233 Rn. 8). Das Berufungsgericht hat sich zu einer positiven Feststellung des angenommenen Behandlungsfehlers nicht in der Lage gesehen. Nach seinen Ausführungen kann nicht festgestellt werden, dass der Beklagte zu 4 das [X.] auf Bitten der Beleghebamme um 19.10 Uhr in Augenschein genommen hat. Es liege vielmehr eine "unklare Beweislage" vor.

b) [X.] hat das Berufungsgericht eine Umkehr der Beweislast zugunsten der [X.] daran geknüpft, dass in der Dokumentation des [X.] durch die Beleghebamme für 19.10 Uhr vermerkt ist, sie habe das [X.] dem [X.] zu 4 gezeigt. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist der Inhalt der Dokumentation nicht zugunsten des [X.] als richtig zu unterstellen, soweit nicht der [X.] das Gegenteil beweist. Eine derart weitgehende Wirkung kommt der Dokumentation des [X.] nicht zu.

aa) Die Dokumentation des [X.] in Papierform ist eine Urkunde im Sinne der §§ 415 ff. ZPO (vgl. [X.], NJW 2021, 2367 sowie allgemein zum Begriff der Urkunde: [X.] in Musielak/[X.], ZPO, 20. Aufl., § 415 Rn. 4 mwN). Dabei wird es sich in der Regel - so auch bei dem von der Beleghebamme im Streitfall erstellten [X.] - um eine Privaturkunde im Sinne des § 416 ZPO handeln. Eine von ihrem Aussteller unterschriebene Privaturkunde begründet nach § 416 ZPO vollen Beweis allein dafür, dass die in der Urkunde enthaltenen Erklärungen von dem Aussteller abgegeben worden sind. Die [X.] erstreckt sich dagegen nicht auf die inhaltliche Richtigkeit des Erklärten. Ob die in der Privaturkunde enthaltenen Angaben zutreffen, insbesondere ob die darin bezeugten tatsächlichen Vorgänge wirklich so geschehen sind oder nicht, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab und unterliegt der freien tatrichterlichen Beweiswürdigung nach § 286 Abs. 1 ZPO (vgl. [X.], Urteile vom 27. September 2018 - [X.], NJW 2019, 421 Rn. 36; vom 22. Mai 2014 - [X.], [X.], 341 Rn. 21; vom 17. April 1986 - [X.], juris Rn. 12; Beschluss vom 12. März 2015 - [X.], NJW-RR 2015, 819 Rn. 13, vgl. zum Operationsbericht: Senatsurteil vom 16. April 2013 - [X.], [X.], 1045 Rn. 10 f.). In diese Würdigung sind jedenfalls bei einer Privaturkunde, die tatsächliche Vorgänge bezeugt, auch alle vom [X.] im Wege des [X.] vorgebrachten Gesichtspunkte einzubeziehen; der [X.] muss nicht die inhaltliche Richtigkeit des in der Urkunde Erklärten widerlegen. Vielmehr genügt es, wenn er [X.], dass die inhaltliche Richtigkeit zweifelhaft bleibt, das Beweisergebnis also keine Überzeugung im Sinne von § 286 ZPO rechtfertigt (vgl. [X.], Urteil vom 22. Mai 2014 - [X.], [X.], 341 Rn. 21; [X.] in Musielak/[X.], ZPO, 20. Aufl., § 284 Rn. 6; [X.] in [X.], ZPO, 23. Aufl., Vorbemerkungen vor § 415 Rn. 19; zu über ein Rechtsgeschäft aufgenommenen Urkunden vgl. [X.], Urteile vom 10. Juni 2016 - [X.], [X.], 475; vom 5. Juli 2002 - [X.], [X.], 3164, juris Rn. 7; vom 29. November 1989 - [X.], [X.]Z 109, 240, juris Rn. 11). Allerdings können die auf Grund der [X.] des § 416 ZPO formell erwiesenen Erklärungen - je nach ihrem Inhalt - geeignet sein, dem Tatrichter allein oder im Zusammenhang mit weiteren Umständen die Überzeugung davon zu verschaffen, dass die in der Urkunde aufgeführten Tatsachen und Vorgänge der Wirklichkeit entsprechen (vgl. [X.], Urteil vom 13. April 1988 - [X.], [X.]Z 104, 172, juris Rn. 11; [X.] in Musielak/[X.], ZPO, 20. Aufl., § 416 Rn. 4; [X.] in [X.], ZPO, 23. Aufl., Vorbemerkungen vor § 415 Rn. 19 f.).

bb) Dementsprechend haben der Senat und die überwiegende oberlandesgerichtliche Rechtsprechung einer ordnungsgemäßen, zeitnah erstellten Dokumentation in Papierform, die keinen Anhalt für Veränderungen, Verfälschungen oder Wi[X.]prüchlichkeiten bietet, zugunsten der [X.] Indizwirkung beigemessen, die im Rahmen der freien tatrichterlichen Beweiswürdigung nach § 286 Abs. 1 ZPO zu berücksichtigen ist (vgl. Senatsurteile vom 14. März 1978 - [X.], [X.], 542, juris Rn. 24 f.; vom 16. April 2013 - [X.], [X.], 1045 Rn. 11; vom 22. Oktober 2019 - [X.], [X.], 233 Rn. 14; vom 27. April 2021 - [X.], [X.]Z 229, 331 Rn. 28 sowie die umfassenden Nachweise zur oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung bei [X.]/[X.], BGB, Neubearbeitung 2021, § 630h Rn. 130; vgl. zur Indizwirkung eines mechanischen Datenblatts der Verwaltung: Senatsurteil vom 3. Februar 1998 - [X.], [X.], 634, juris Rn. 11). Eine in diesem Sinne vertrauenswürdige Dokumentation kann dem Tatrichter die Überzeugung davon vermitteln, dass die dokumentierten Maßnahmen tatsächlich getroffen worden sind. Ihr darf der Tatrichter im Rahmen der freien tatrichterlichen Beweiswürdigung nach § 286 Abs. 1 ZPO grundsätzlich Glauben schenken.

Auch hier gilt aber, dass in die Beweiswürdigung alle vom [X.] vorgebrachten Gesichtspunkte einzubeziehen sind. Der [X.] muss nicht die inhaltliche Richtigkeit der Dokumentation widerlegen. Ihm obliegt nicht der Beweis des Gegenteils. Vielmehr genügt es, wenn er Umstände [X.], die bleibende Zweifel daran begründen, dass das Dokumentierte der Wahrheit entspricht, das Beweisergebnis also keine Überzeugung im Sinne von § 286 ZPO rechtfertigt. So verhält es sich insbesondere, wenn der [X.] Umstände aufzeigt, die den Indizwert - die abstrakte Beweiskraft - der Dokumentation in Frage stellen (vgl. Senatsurteil vom 27. April 2021 - [X.], [X.]Z 229, 331 Rn. 28 f.; [X.], Urteile vom 13. Juli 2016 - [X.], juris Rn. 46, vom 14. Januar 1993 - [X.], NJW 1993, 935, juris Rn. 21; vgl. auch [X.], [X.], 1714, 1720). Ein [X.] ist nur überzeugungskräftig, wenn andere Schlüsse aus den Indiztatsachen ernstlich nicht in Betracht kommen. Die Hilfstatsache reicht für den Nachweis der [X.] dann nicht aus und ist unerheblich, wenn das Indiz für sich allein und im Zusammenhang mit weiteren Indizien sowie dem sonstigen Sachverhalt nicht den ausreichend sicheren Schluss auf die [X.] zulässt ([X.], Urteil vom 14. Januar 1993 - [X.], NJW 1993, 935, juris Rn. 21). Sollte dem Senatsurteil vom 14. März 1978 ([X.], [X.], 542, juris Rn. 24) diesbezüglich Anderes zu entnehmen sein, wird daran nicht festgehalten.

An dem erforderlichen Indizwert der Dokumentation fehlt es jedenfalls dann, wenn der Dokumentierende Umstände in der Patientenakte festgehalten hat, die sich zu Lasten des im konkreten Fall in Anspruch genommenen [X.] ([X.]s) auswirken, und nicht ausgeschlossen werden kann, dass dies aus eigenem Interesse an einer Vermeidung oder Verringerung der eigenen Haftung erfolgt ist. In diesem Fall ist die Indiztatsache - die Dokumentation der jeweiligen Maßnahme - ambivalent. Sie lässt sich zwanglos sowohl mit dem vom Patienten zu haltenden Vortrag, der Dokumentierende habe die von ihm festgehaltene Maßnahme tatsächlich ergriffen, als auch mit dem von dem in Anspruch genommenen [X.] zu erwartenden Vortrag vereinbaren, der Dokumentierende habe in Wirklichkeit nicht gegebene Umstände dokumentiert, um seine eigene Verantwortung für das Geschehen in Abrede zu stellen.

cc) Eine andere Beurteilung folgt auch nicht aus § 630h Abs. 3 BGB. Abgesehen davon, dass diese Bestimmung erst mit Wirkung vom 26. Februar 2013 in [X.] getreten und deshalb im Streitfall noch nicht anwendbar ist, enthält sie nicht die Vermutung, dass eine dokumentierte Maßnahme tatsächlich durchgeführt worden ist. In dieser Bestimmung ist die bisherige Rechtsprechung zur Beweislastumkehr bei Dokumentationsversäumnissen kodifiziert worden. Im Einklang mit dieser knüpft sie beweisrechtliche Folgen lediglich daran, dass der Behandelnde eine medizinisch gebotene wesentliche Maßnahme und ihr Ergebnis entgegen § 630f BGB nicht in der Patientenakte aufgezeichnet oder die Patientenakte nicht aufbewahrt hat (vgl. Senatsurteil vom 27. April 2021 - [X.], [X.]Z 229, 331 Rn. 27). Eine positive Beweisvermutung spricht die Norm nicht aus. Es besteht auch keine Veranlassung, den Anwendungsbereich des § 630h Abs. 3 BGB in Abkehr von der bisherigen Senatsrechtsprechung erweiternd dahin auszulegen, dass der Inhalt der Patientenakte zugunsten des Patienten als richtig fingiert wird, wenn nicht der Behandelnde das Gegenteil nachweist (so auch [X.]/[X.], Medizinrecht, 4. Aufl., § 630h BGB Rn. 11; [X.]., [X.], 1714, 1720; vgl. auch Gödicke [X.], 531, 533; [X.] in [X.], 9. Aufl., § 630h Rn. 67; Laumen, [X.], 1481, 1488; offener [X.]/[X.], BGB, Neubearbeitung 2021, § 630h Rn. 127, 130: "folgerichtige Erweiterung des Grundgedankens der Norm über ihren (klaren) Wortlaut hinaus" und "Indizwirkung einer ordnungsgemäßen Dokumentation" sowie der Hinweis auf das "zutr. Argument" von Gödicke [X.], 531, 533, "dem Arzt dürften [X.] aus einer allein von ihm erstellten Privaturkunde erst zukommen, wenn die angegriffenen Punkte der Dokumentation so wie dokumentiert im Kontext des gesamten [X.] auch zu überzeugen vermögen").

3. Das angegriffene Urteil stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 561 ZPO). Die Revisionserwiderung macht ohne Erfolg geltend, die Beklagte zu 1 müsse sich den groben Behandlungsfehler der Beleghebamme gemäß § 278 BGB zurechnen lassen.

a) Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, dass der Belegarzt von dem Zeitpunkt an für Fehler der Beleghebamme einstehen muss, in dem die Leitung der Geburt zu seiner Vertragsaufgabe geworden ist (Senatsurteile vom 14. Februar 1995 - [X.], [X.]Z 129, 6, juris Rn. 17; vom 6. Dezember 2022 - [X.], [X.]Z 235, 369 Rn. 20). Wann dies der Fall ist, hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab (vgl. Senatsurteil vom 14. Februar 1995 - [X.], [X.]Z 129, 6, juris Rn. 19 f.). Dabei ist zu berücksichtigen, dass es grundsätzlich zu den Aufgaben einer Hebamme gehört, eine Geburt ohne besondere Komplikationen selbständig zu betreuen. Das gilt aber nur so lange, bis ein Arzt die Behandlung übernommen hat; von diesem Zeitpunkt an ist die Hebamme seine Gehilfin, für die er vertraglich nach § 278 BGB und deliktisch nach § 831 BGB einstehen muss (vgl. Senatsurteile vom 16. Mai 2000 - [X.], [X.]Z 144, 296, juris Rn. 10 f.; vom 6. Dezember 2022 - [X.], [X.]Z 235, 369 Rn. 20 mwN).

b) Die Revisionserwiderung macht ohne Erfolg geltend, der zur Erfüllung der Verpflichtungen der [X.] zu 1 tätige Beklagte zu 2 habe die Geburtsleitung bereits um 18.00 Uhr übernommen. Nach den von der Revisionserwiderung nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts meldete sich der Beklagte zu 2 um diese Uhrzeit nach seinem Dienstende bei der Beleghebamme ab und verwies sie bei Bedarf für ärztliche Unterstützung an den noch anwesenden [X.] zu 4; weder untersuchte er die Kindsmutter noch traf er eine Entscheidung bezüglich ihrer weiteren Behandlung. Es ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht hierin nicht die Übernahme der Behandlung durch den [X.] zu 2 gesehen hat und zwar auch für den Fall, dass dieser einen kurzen Blick auf das [X.] geworfen hat. Das Berufungsgericht musste diesen Sachverhalt entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung insbesondere nicht dahingehend würdigen, dass der Beklagte zu 2 den [X.]-Befund damit auf Veranlassung der Hebamme ärztlich überprüft, sein ärztliches "Okay" gegeben und damit die Leitung der Geburt übernommen hatte.

III.

Das Berufungsurteil war deshalb aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Aufgrund des Grundsatzes der Einheitlichkeit der Kostenentscheidung erfasst die Aufhebung auch die Entscheidung des Berufungsgerichts über diejenigen Kosten, die durch die - jeweils zurückgenommenen - Berufungen der ehemaligen [X.] zu 5 und der [X.] in Bezug auf die ehemalige Beklagte zu 6 entstanden sind.

[X.]     

      

von [X.]     

      

[X.]

      

Klein     

      

Linder     

      

Meta

VI ZR 108/21

05.12.2023

Bundesgerichtshof 6. Zivilsenat

Urteil

Sachgebiet: ZR

vorgehend OLG Koblenz, 17. März 2021, Az: 5 U 568/20

§ 278 BGB, § 280 Abs 1 BGB, § 630a BGB, § 630h Abs 3 BGB, § 823 Abs 1 BGB, § 286 Abs 1 ZPO, § 416 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 05.12.2023, Az. VI ZR 108/21 (REWIS RS 2023, 9126)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 9126

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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