Bundesverfassungsgericht, Einstweilige Anordnung vom 16.12.2015, Az. 2 BvR 2349/15

2. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2015, 572

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Erlass einer einstweiligen Anordnung: Aussetzung eines Beschlusses über die Durchführung einer molekulargenetischen Untersuchung gem § 81g Abs 1 S 1 StPO - Anforderungen an die Begründung der Untersuchungsanordnung


Tenor

1. Die Vollziehung der Beschlüsse des [X.] vom 6. Oktober 2015 - 61 [X.] 6885/15 - und des [X.] vom 6. November 2015 und vom 26. November 2015 - 3 [X.] - wird bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde - längstens für die Dauer von sechs Monaten - ausgesetzt.

2. Der [X.] hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfahren der einstweiligen Anordnung zu erstatten.

Gründe

1

1. Das [X.] verurteilte den nicht vorbestraften Beschwerdeführer am 25. November 2014 wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Nach den Feststellungen schlug der Beschwerdeführer am 30. Mai 2013 im Rahmen einer längeren Auseinandersetzung in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken mit einem Mitangeklagten auf den Nebenkläger ein, wodurch dieser diverse Prellungen im Gesicht und an den Rippen, Schwellungen sowie andauernde Übelkeit und Schmerzen am Schultergelenk erlitt. Das Urteil ist rechtskräftig.

2

2. Vor dem Hintergrund dieser Verurteilung ordnete das [X.] mit Beschluss vom 6. Oktober 2015 die molekulargenetische Untersuchung der durch eine körperliche Untersuchung zu erlangenden Körperzellen des Beschwerdeführers zum Zwecke der Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren an. Zur Begründung führte es aus, dass es sich bei der abgeurteilten Straftat um eine solche von erheblicher Bedeutung im Sinne von § 81g Abs. 1 Satz 1 StPO handle, denn sie zeuge "von einem hohen Maß an Brutalität und Gewaltbereitschaft des Betroffenen". Wegen dieser erheblichen Gewaltbereitschaft bestehe zudem Grund zu der Annahme, dass gegen den Beschwerdeführer auch künftig Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung zu führen sein werden.

3

3. Die hiergegen eingelegte Beschwerde des Beschwerdeführers wurde vom [X.] mit Beschluss vom 6. November 2015 als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung führte das [X.] lediglich aus, es teile die Auffassung des Erstgerichts und trete den Gründen der angefochtenen Entscheidung bei. Auf eine Gehörsrüge des Beschwerdeführers hin lehnte das [X.] mit Beschluss vom 26. November 2015 eine Abänderung seiner Entscheidung ab.

4

4. Mit seiner [X.]beschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) und beantragt, die Vollziehung der im Tenor genannten Beschlüsse im Wege der einstweiligen Anordnung auszusetzen.

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1. Nach § 32 [X.] kann das [X.] im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die [X.]widrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die [X.]beschwerde wäre von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. [X.] 134, 135 <137 Rn. 3>; stRspr). Bei offenem Ausgang muss das [X.] die Folgen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die [X.]beschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der [X.]beschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. [X.] 131, 47 <55>; stRspr).

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2. Die [X.]beschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet.

7

Der Beschwerdeführer trägt vor, die angefochtenen Entscheidungen würden nicht den Anforderungen genügen, die von [X.] wegen an die Begründung einer Negativprognose im Sinne des § 81g Abs. 1 Satz 1 StPO zu stellen seien.

8

Da die im Tenor bezeichneten Entscheidungen des [X.] und des [X.]s Augsburg die Negativprognose lediglich aus der pauschalen Feststellung, der Beschwerdeführer sei erheblich gewaltbereit, herleiten und eine einzelfallbezogene Abwägung der für die Entscheidung bedeutsamen Umstände - insbesondere dass der Beschwerdeführer keine Vorstrafen aufweist und die verhängte Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde - nicht erkennbar ist, kann der [X.]beschwerde jedenfalls nicht von vornherein die Erfolgsaussicht abgesprochen werden (vgl. [X.] 103, 21 <35 ff.>).

9

3. Im Rahmen der somit erforderlichen Abwägung überwiegen die Gründe für den Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die [X.]beschwerde später aber als begründet, so könnte die Anordnung der Entnahme und molekulargenetischen Untersuchung von Körperzellen des Beschwerdeführers in der Zwischenzeit vollzogen werden. Der damit verbundene Eingriff in die Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG kann in der Regel auch durch eine spätere Löschung der erhobenen Daten nicht vollständig rückgängig gemacht werden (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 23. Januar 2013 - 2 BvR 2392/12 -, juris, Rn. 9 m.w.N).

Gegenüber diesem zumindest teilweise irreparablen [X.], der dem Beschwerdeführer droht, wiegen die Nachteile, die entstünden, wenn eine einstweilige Anordnung erlassen würde, die [X.]beschwerde aber später keinen Erfolg hätte, weniger schwer. Zwar könnte in diesem Fall die gegen den Beschwerdeführer ergangene Anordnung der Entnahme und Untersuchung von Körperzellen vorübergehend nicht vollzogen werden. Es ist allerdings nicht ersichtlich, dass wegen dieser Verzögerung ein erheblicher Nachteil für das Wohl der Allgemeinheit zu besorgen wäre.

4. Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 3 [X.].

Meta

2 BvR 2349/15

16.12.2015

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 2. Kammer

Einstweilige Anordnung

Sachgebiet: BvR

vorgehend LG Augsburg, 26. November 2015, Az: 3 Qs 562/15, Beschluss

Art 1 Abs 1 GG, Art 2 Abs 1 GG, Art 2 Abs 2 S 1 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 81g Abs 1 S 1 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Einstweilige Anordnung vom 16.12.2015, Az. 2 BvR 2349/15 (REWIS RS 2015, 572)

Papier­fundstellen: NJW 2016, 2799 REWIS RS 2015, 572

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