Bundesfinanzhof, Beschluss vom 11.12.2015, Az. VI B 53/15

6. Senat | REWIS RS 2015, 824

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung - Berücksichtigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens - Wahrung der Prozessfürsorgepflicht


Leitsatz

1. NV: Die Zulassung der Revision zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung setzt voraus, dass der vom FG aufgestellte Rechtssatz, der von dem Rechtssatz einer angeblichen Divergenzentscheidung abweichen soll, für die Entscheidung des FG tragend (entscheidungserheblich) ist. Daran fehlt es, wenn das FG den Rechtssatz nur in Bezug auf einen von ihm lediglich unterstellten Sachverhalt formuliert .

2. NV: Die Rüge eines Verstoßes gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO setzt die Darlegung voraus, dass das FG seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde gelegt hat, der dem schriftlichen oder protokollierten Vorbringen der Beteiligten nicht entspricht oder eine nach den Akten klar feststehende, nach der insoweit maßgeblichen materiell-rechtlichen Auffassung des FG entscheidungserhebliche Tatsache unberücksichtigt gelassen hat .

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des [X.] vom 5. März 2015  12 K 1413/14 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat die Klägerin zu tragen.

Gründe

1

Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unbegründet. Die geltend gemachten Revisionszulassungsgründe der Notwendigkeit der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--) sowie eines [X.] (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O) liegen nicht vor.

2

1. Die Revision ist nicht gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 [X.]O zuzulassen.

3

a) Eine Divergenz i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 [X.]O ist gegeben, wenn das Finanzgericht ([X.]) mit einem das angegriffene Urteil tragenden und entscheidungserheblichen Rechtssatz von einem ebensolchen Rechtssatz einer anderen Gerichtsentscheidung abgewichen ist. Das angefochtene Urteil und die vorgebliche Divergenzentscheidung müssen dabei dieselbe Rechtsfrage betreffen und zu gleichen oder vergleichbaren Sachverhalten ergangen sein (z.B. Beschluss des [X.] --BFH-- vom 12. Oktober 2011 III B 56/11, [X.], 178). Die voneinander abweichenden Rechtssätze müssen sich aus dem angefochtenen Urteil des [X.] und der Divergenzentscheidung mit hinreichender Deutlichkeit ergeben ([X.] vom 12. Dezember 2013 III B 55/12, [X.], 575, m.w.N.). Nicht erforderlich ist dabei, dass der abstrakte Rechtssatz nach Art eines Leitsatzes in den Gründen des angefochtenen Urteils formuliert ist; er kann sich auch aus scheinbar nur fallbezogenen Rechtsausführungen ergeben ([X.] vom 23. April 1992 VIII B 49/90, [X.], 488, [X.] 1992, 671, und vom 2. Juni 2014 III B 153/13, [X.], 1377).

4

b) Daran gemessen liegt die von der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) vorgetragene Divergenz nicht vor. Soweit die Klägerin aus dem BFH-Urteil vom 28. Februar 1978 VII R 92/74 ([X.], 487, [X.] 1978, 390) und dem Beschluss des [X.] ([X.]) vom 26. März 1997  2 BvR 842/96 ([X.] --[X.]-- 1997, 769) entscheidungserhebliche Rechtssätze herausgestellt hat, ist zu berücksichtigen, dass der Rechtssatz, den sie dem Urteil des [X.] entnommen und den Rechtssätzen der angeblichen Divergenzentscheidungen gegenübergestellt hat, für die Entscheidung des [X.] nicht tragend (entscheidungserheblich) war. Das [X.] hat den von der Klägerin herausgestellten Rechtssatz ausweislich der Entscheidungsgründe des finanzgerichtlichen Urteils nur für den Fall aufgestellt, dass "unterstellt" wird, die [X.] sei zu den Steuerakten gelangt ([X.]. 13 des Urteilsumdrucks). Das [X.] konnte aufgrund des erstinstanzlichen Vorbringens der Klägerin jedoch schon nicht die Überzeugung gewinnen, "ob die danach existierende amtliche Bescheinigung zur [X.] ... überhaupt (zusammen mit dem Schreiben vom 22. Dezember 1999) zu den Steuerakten gelangt ist."

5

Insofern liegt der Vorentscheidung des [X.] und den angeblichen Divergenzentscheidungen auch kein vergleichbarer Sachverhalt zugrunde. Denn in den Fällen, über die in dem BFH-Urteil in [X.], 487, [X.] 1978, 390 und in dem [X.]-Beschluss in [X.] 1997, 769 zu entscheiden war, stand fest, dass das fragliche Schriftstück bei der [X.] (jeweils einem Gericht) eingegangen war, es aber durch Versagen organisatorischer Vorkehrungen, auf die der Bürger keinen Einfluss hatte, nicht zu den Akten genommen wurde. Ein solcher Sachverhalt steht im Streitfall allerdings nicht fest. Denn das [X.] konnte sich schon nicht davon überzeugen, dass die [X.] für das Streitjahr dem Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt --[X.]--) überhaupt zugegangen war. Nur für den Fall, dass solches "unterstellt" wird, hat das [X.] den von der Klägerin herausgestellten Rechtssatz gebildet.

6

2. Die Revision ist auch nicht wegen eines von der Klägerin geltend gemachten [X.] zuzulassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O).

7

a) Das [X.] hat nicht gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 [X.]O verstoßen. Nach dieser Vorschrift hat das [X.] nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu entscheiden. Die Rüge eines derartigen Verfahrensverstoßes setzt die Darlegung voraus, dass das [X.] seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde gelegt hat, der dem schriftlichen oder protokollierten Vorbringen der Beteiligten nicht entspricht oder eine nach den Akten klar feststehende Tatsache unberücksichtigt gelassen hat ([X.] vom 08. Mai 2014 X B 105/13, [X.], 1213).

8

Soweit die Klägerin rügt, das [X.] habe das Schreiben des [X.] vom 19. Juni 2000 verfahrensfehlerhaft nicht berücksichtigt, übersieht sie, dass dieses Schreiben, auch soweit dort eine von der Klägerin vorgelegte [X.] angesprochen wurde, gar nicht das Streitjahr, sondern das Folgejahr betraf. Damit kam es nach der materiell-rechtlichen Auffassung des [X.], von der bei der Beantwortung der Frage, ob das [X.] einen Verfahrensfehler begangen hat, auszugehen ist (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Urteil vom 6. Juli 1999 VIII R 12/98, [X.], 148, [X.] 1999, 731; [X.] vom 1. September 2005 VI B 30/05, [X.] 2005, 2046, und vom 8. Oktober 2004 IV B 202/02, [X.] 2005, 367), auf das Schreiben des [X.] vom 19. Juni 2000 nicht an. Denn das [X.] hat materiell-rechtlich (zutreffend) darauf abgestellt, ob für das Streitjahr, nicht aber für ein Vor- oder ein Folgejahr, eine [X.] vorlag.

9

b) Das [X.] hat den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 [X.]O) auch nicht durch den Erlass einer sog. Überraschungsentscheidung verletzt. Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das [X.] sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger [X.] selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Auffassungen nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlung nicht rechnen musste ([X.] vom 2. April 2002 [X.], [X.] 2002, 947). Danach ist im Streitfall keine Überraschungsentscheidung gegeben.

Das [X.] hat die Klägerin vor Erlass seines Urteils unter Hinweis auf das für das Streitjahr geltende Schreiben des [X.] vom 15. September 1997 (BSt[X.] I 1997, 826) aufgefordert, die Voraussetzungen für den Abzug von Unterhaltsaufwendungen für ihre in [X.] lebende Mutter nachzuweisen. Bei dieser Sachlage konnte die Klägerin nicht davon überrascht sein, dass das [X.] die Klage abwies, weil die Klägerin den Nachweis der [X.] ihrer Mutter im Streitjahr nicht erbracht habe. Da sich das Schreiben des [X.] vom 19. Juni 2000 --wie zuvor dargelegt wurde-- nicht auf das Streitjahr bezog, konnte es die Klägerin auch nicht überraschen, dass das [X.] sich trotz der in diesem Schreiben erwähnten [X.] nicht vom Vorliegen einer solchen Bescheinigung für das Streitjahr überzeugen konnte.

c) Der Anspruch der Klägerin auf Gehör sowie § 76 Abs. 2 [X.]O wurden schließlich auch nicht dadurch verletzt, dass das [X.] dem zum Termin zur mündlichen Verhandlung am 5. März 2015 ordnungsgemäß geladenen, aber nicht erschienenen [X.] den Schriftsatz der Klägerin vom 4. März 2015, der beim [X.] am 5. März 2015 um 02:13 Uhr einging, "kurz vor der Sitzung telefonisch ... kursorisch erläutert" hat. Hierdurch hat das [X.] der Klägerin nicht das rechtliche Gehör verweigert und auch seine Prozessfürsorgepflicht aus § 76 Abs. 2 [X.]O gegenüber der Klägerin nicht verletzt. Die Prozessfürsorgepflicht des § 76 Abs. 2 [X.]O dient in erster Linie der Gewährleistung eines fairen Verfahrens, der Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör sowie der Vermeidung von Überraschungsentscheidungen ([X.] vom 11. März 2013 I B 95/12, [X.] 2013, 1425).

Die Klägerin hatte im Streitfall indessen Gelegenheit, zur Sache vorzutragen und ihren Rechtsstandpunkt darzulegen. Auch müssen sich die --wie im [X.] und fristgemäß geladenen Beteiligten bewusst sein, dass im [X.] an die mündliche Verhandlung eine Entscheidung gefällt und zugestellt wird (§ 104 Abs. 2 [X.]O). Auch das Nichterscheinen der Beteiligten steht einer Verhandlung und Entscheidung nicht entgegen. Denn es kann ohne einen Beteiligten verhandelt und entschieden werden, wie sich aus § 91 Abs. 2 [X.]O ergibt. Die Klägerin konnte daher im Streitfall nicht davon ausgehen, dass das [X.] ihren kurz vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung eingereichten Schriftsatz vor der mündlichen Verhandlung dem [X.] noch übersenden oder die mündliche Verhandlung zu diesem Zweck unterbrechen werde oder den Schriftsatz dem zum Termin zur mündlichen Verhandlung ordnungsgemäß geladenen, aber nicht erschienenen [X.] vollständig telefonisch vorlesen werde.

3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 [X.]O ab.

4. [X.] folgt aus § 135 Abs. 2 [X.]O.

Meta

VI B 53/15

11.12.2015

Bundesfinanzhof 6. Senat

Beschluss

vorgehend Hessisches Finanzgericht, 5. März 2015, Az: 12 K 1413/14, Urteil

§ 76 Abs 2 FGO, § 96 Abs 1 S 1 FGO, § 104 Abs 2 FGO, § 115 Abs 2 Nr 2 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 11.12.2015, Az. VI B 53/15 (REWIS RS 2015, 824)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 824

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

III B 146/13 (Bundesfinanzhof)

Keine Divergenz nach Aufhebung der vorgeblichen Divergenzentscheidung durch den BFH


X B 117/10 (Bundesfinanzhof)

Darlegungserfordernisse bei behaupteter Divergenz und kumulativer finanzgerichtlicher Begründung


XI B 29/21 (Bundesfinanzhof)

(Begriff des Schwimmbads i.S. des § 12 Abs. 2 Nr. 9 UStG; unionsrechtskonforme Auslegung)


X B 22/18 (Bundesfinanzhof)

Nichtigkeit von Schätzungen


XI B 16/14 (Bundesfinanzhof)

Kein ermäßigter Steuersatz für Umsätze aus dem Betrieb einer "Sommerrodelbahn" - Darlegung einer Divergenz


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.