Bundessozialgericht, Beschluss vom 24.03.2015, Az. B 8 SO 73/14 B

8. Senat | REWIS RS 2015, 13581

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verwerfung der Berufung als unzulässig - Versäumung der Berufungsfrist - keine ordnungsgemäße Zustellung des Urteils des Sozialgerichts - Fehlerhaftigkeit der öffentlichen Zustellung


Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des [X.] vom 4. August 2014 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Die 1934 geborene Klägerin, die seit Januar 2014 - wie auch bis Februar 2008 - unter Betreuung steht, erhielt seit 2005 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem [X.] - ([X.]). Die gegen die Pfändung ihrer Sparguthaben durch vom Beklagten erwirkte Pfändungs- und Überweisungsbeschlüsse gerichtete Klage wies das [X.] ([X.]) ab (Urteil nach mündlicher Verhandlung vom 1.8.2012). Die am 1.10.2012 an die Anschrift "[X.], [X.]" verfügte Zustellung des Urteils war erfolglos; die [X.] kam mit dem Vermerk "Empfänger unbekannt verzogen" zurück. Auf Anfrage des [X.] teilte das Einwohnermeldeamt als alleinige Wohnung "[X.], [X.]" mit. In der Akte wurde vermerkt, eine Rückfrage bei der Geschäftsstelle der [X.] und den Sozialämtern des [X.] bzw der [X.] habe ergeben, dass dort "ebenfalls keine aktuelle Anschrift bekannt" sei. Daraufhin erfolgte die öffentliche Zustellung des Urteils (Aushang vom 10.10. bis 13.11.2012).

2

Am 3.4.2014 legte die Klägerin Berufung gegen das Urteil ein, von dem sie erst bei ihrer persönlichen Vorsprache beim [X.] am 3.4.2014 Kenntnis erlangt habe. Nach Anhörung der Klägerin wurde die Berufung als unzulässig verworfen (Beschluss des [X.] vom 4.8.2014). Die Berufung sei wegen Versäumens der Frist zu ihrer Einlegung unzulässig. Die öffentliche Zustellung sei ordnungsgemäß erfolgt; das Urteil habe mithin am 13.11.2012 als zugestellt gegolten. Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand lägen nicht vor. Auch auf Vorhalt der Fristversäumnis habe die Klägerin auf ihrer Rechtsansicht zum materiellen Recht insistiert und nur darauf hingewiesen, sie habe auf einen Brief des Gerichts gewartet und keine Veranlassung gesehen, selbst tätig zu werden.

3

Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des L[X.] rügt die Klägerin einen Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 [X.] Sozialgerichtsgesetz <[X.]G>). Das L[X.] sei zu Unrecht von einer wirksamen öffentlichen Zustellung des Urteils ausgegangen und habe deshalb zu Unrecht ein Prozess- anstelle eines [X.] gefällt. Sie habe immer an der bezeichneten Anschrift gewohnt. Zudem sei sie bereits im [X.]punkt der Entscheidung des [X.] prozessunfähig gewesen, sodass an sie schon aus diesem Grund nicht hätte wirksam zugestellt werden können.

4

II. Die Beschwerde der Klägerin, eingelegt durch den von ihrer Betreuerin wirksam bevollmächtigten Rechtsanwalt, ist zulässig. Die Zulässigkeit scheitert nicht daran, dass der Beschluss des L[X.] ihr noch nicht wirksam zugestellt und damit ihr gegenüber nicht wirksam ist. Dass die Zustellung der L[X.]-Entscheidung an die zu diesem [X.]punkt bereits (wieder) unter Betreuung stehende Klägerin selbst erfolgte (§ 63 Abs 2 Satz 1 [X.]G iVm § 170 Abs 1 Zivilprozessordnung ), führt schon deshalb nicht zu deren Unwirksamkeit, weil das L[X.] weder davon noch von einer eventuellen Prozessunfähigkeit Kenntnis hatte (vgl dazu [X.], 109 mwN). Ob anderenfalls das Beschwerdeverfahren in entsprechender Anwendung des § 114 Abs 2 [X.]G auszusetzen wäre (vgl dazu [X.], Beschluss vom [X.] - [X.]/13), bedarf keiner Entscheidung.

5

Die Beschwerde genügt auch hinsichtlich des geltend gemachten Verfahrensfehlers den Bezeichnungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 [X.]G iVm § 160 Abs 2 [X.] [X.]G. Da der gerügte Verfahrensfehler auch vorliegt, hat der Senat den angefochtenen Beschluss gemäß § 160a Abs 5 [X.]G aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das L[X.] zurückverwiesen. Ob sich die Entscheidung des L[X.] aus anderen Gründen als richtig darstellt, was dem Senat unter Umständen eine Entscheidung in der Sache hätte ermöglichen können (dazu nur [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 11. Aufl 2014, § 160a [X.] mwN), kann nicht beurteilt werden, weil für eine Entscheidung in der Sache die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen des L[X.] (§ 163 [X.]G) fehlen.

6

Die Voraussetzungen für die öffentliche Zustellung des Urteils des [X.] durch dieses lagen nicht vor. Die Klägerin hat deshalb am 3.4.2014 fristgerecht (§ 151 [X.]G) Berufung eingelegt, und das L[X.] hat zu Unrecht ein Prozessurteil erlassen. Nach § 63 Abs 2 Satz 1 [X.]G iVm § 185 [X.] 1 ZPO kann die Zustellung durch öffentliche Bekanntmachung (nur) erfolgen, wenn der Aufenthaltsort einer Person unbekannt und eine Zustellung an einen Vertreter oder Zustellungsbevollmächtigten nicht möglich ist. Unbekannt ist der Aufenthalt einer Person, wenn nicht nur das Gericht, sondern auch die Allgemeinheit den Aufenthalt des Zustellungsadressaten nicht kennt (vgl nur [X.], Urteil vom 4.7.2012 - XII ZR 94/10 -, NJW 2012, 3582 ff; [X.]Z 149, 311 ff). Das traf für den Aufenthalt der Klägerin nicht zu, die in der gesamten [X.] unter derselben Adresse gewohnt hat. Insoweit war auch die Ladung zum Termin zur mündlichen Verhandlung nur kurze [X.] vorher möglich.

7

Demgemäß war bei allen angefragten Stellen die Anschrift "[X.], [X.]" bekannt. Abgesehen davon, dass dies das [X.] hätte erkennen können (zu dieser Voraussetzung für die Wirksamkeit einer öffentlichen Zustellung trotz fehlender gesetzlicher Voraussetzungen für eine solche [X.]Z 149, 311 ff), hätte es vor einer öffentlichen Zustellung ohnedies weitere Nachforschungen anstellen und die Zustellung des Urteils an die benannte Anschrift [X.] versuchen müssen, ggf auch, weil die letzte bekannte Anschrift der Klägerin am Sitz des Gerichts war, durch einen Boten (vgl zu den Anforderungen an die Ermittlung des Aufenthalts auch [X.], ZPO, 30. Aufl 2014, § 185 Rd[X.] 2 mwN). Die öffentliche Zustellung war somit fehlerhaft und hat den Lauf der Berufungsfrist nicht ausgelöst (vgl [X.], Urteil vom 6.10.2006 - [X.]/05).

8

Ob die fehlerhafte Zustellung am 3.4.2014 geheilt wurde (§ 63 Abs 2 Satz 1 [X.]G iVm § 189 ZPO), kann dahin stehen; nach Aktenlage kann nicht nachvollzogen werden, ob die Klägerin das maßgebliche Dokument ausgehändigt erhalten hat. Gleichwohl hätte die Klägerin gegen die vom [X.] verkündete Entscheidung Berufung einlegen können (vgl dazu allgemein [X.], aaO, § 143 Rd[X.] 2b); die Berufungsfrist wäre in diesem Fall eingehalten, weil eine Frist in diesem Fall noch gar nicht zu laufen begonnen hätte.

9

Ob die angefochtene Entscheidung auf einem Verstoß gegen § 72 Abs 1 [X.]G beruht, weil die Klägerin jedenfalls im Berufungsverfahren, ggf aber auch schon im Klageverfahren prozessunfähig und daher nicht wirksam vertreten war (§ 202 [X.]G iVm § 547 [X.] 4 ZPO), kann deshalb dahin stehen.

Das L[X.] wird ggf auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 8 SO 73/14 B

24.03.2015

Bundessozialgericht 8. Senat

Beschluss

Sachgebiet: SO

vorgehend SG Landshut, 1. August 2012, Az: S 10 SO 14/12

§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 151 Abs 1 SGG, § 63 Abs 2 S 1 SGG, § 185 Nr 1 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 24.03.2015, Az. B 8 SO 73/14 B (REWIS RS 2015, 13581)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 13581

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

B 4 AS 72/23 B (Bundessozialgericht)

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verwerfung der Berufung als unzulässig - Versäumung der …


B 8 SO 50/17 B (Bundessozialgericht)

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Prozessurteil - fingierte Klagerücknahme - Betreibensaufforderung - öffentliche …


B 13 R 188/12 B (Bundessozialgericht)

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Bestellung eines inländischen Zustellungsbevollmächtigten auf Verlangen des Gerichts …


B 8 SO 65/19 B (Bundessozialgericht)

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verwerfung der Berufung als unzulässig wegen Versäumung der …


B 8 SO 128/15 B (Bundessozialgericht)

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - partielle Prozessunfähigkeit eines Beteiligten - Absehen von der …


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

V B 54/13

XII ZR 94/10

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.