Bundesgerichtshof, Beschluss vom 29.09.2016, Az. 2 StR 63/16

2. Strafsenat | REWIS RS 2016, 4652

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Gegenstand

Beweiswürdigung im Strafverfahren: Abweichung des Tatgerichts von einem Sachverständigengutachten


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 31. August 2015

a) hinsichtlich des Schuldspruchs im Fall II.1 der Urteilsgründe mit den Feststellungen,

b) im Strafausspruch aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

I.

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes, wegen Besitzes von kinderpornographischen Schriften, wegen exhibitionistischer Handlung in drei Fällen und vorsätzlichen Besitzes von Munition zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt und [X.] getroffen. Die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist sie offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

2

1. [X.] begegnet – im Gegensatz zu den Taten II. 2 – 5 der Urteilsgründe – durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Die Beweiswürdigung des [X.]s hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

3

Das [X.] ist der Einlassung des Angeklagten, die es als „verquastes Gerede von der Erziehungsaufgabe eines Vaters, die Tochter in die erwachsene Sexualität einzuführen“, ansieht, nicht gefolgt und hat seine Überzeugung auf die Angaben des [X.] gestützt. Es hat hierzu ein aussagepsychologisches Sachverständigengutachten eingeholt, nachdem die Zeugin in der Hauptverhandlung erstmals bekundet hatte, sie habe Bilder im Kopf und sehe kleine filmartige Szenen des Missbrauchsgeschehens. Anlass war insoweit die Frage, ob sich dahinter dissoziative Zustände verbergen könnten, deren Aufdeckung und Beurteilung dem Sachverstand der [X.] nicht mehr hinreichend zugänglich seien ([X.] 43).

4

Die Sachverständige hat das Vorliegen eines dissoziativen Zustands verneint ([X.]), ist weiterhin davon ausgegangen, dass die sogenannte Nullhypothese nicht zuverlässig zurückgewiesen werden könne, da die Ausbildung von Pseudoerinnerungen sehr wahrscheinlich sei ([X.], 46). Dies hat sie auf verschiedene Erwägungen gestützt, etwa auf den Umstand, dass die Tat lange zurückliege und die Zeugin zeitweise keinen bewussten Erinnerungszugang gehabt habe, auf das Vorliegen einer kognitiven Mangelsituation zur [X.] der Entstehung der Aussage, indem sie Erinnerungen aus Träumen entwickelt habe, auf das Gegebensein einer affektiven Mangelsituation und auch darauf, dass sich übergenaue Erinnerung an Einzelheiten fänden, die gedächtnispsychologisch nicht zu erwarten seien ([X.] f.).

5

Die [X.] ist dem Gutachten nicht gefolgt, weil es keine gesicherten aussagepsychologischen Erkenntnisse gebe, auf deren Grundlage sich der Wahrheitsgehalt einer Aussage in Fällen wie dem vorliegenden zweifelsfrei bestimmen lasse, und das noch viel weniger möglich sei, wenn suggestive Einflüsse in Rede stünden. Damit werde der Beweiswert des Gutachtens und die Bindungswirkung für das Gericht an das Ergebnis des Gutachtens schwerwiegend beeinträchtigt ([X.]). Die einzelnen Einwendungen des Gerichts hätten von der Sachverständigen nicht zur Überzeugung des Gerichts wiederlegt werden können ([X.] 54 ff.).

6

Diese Beweiswürdigung begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Es ist einem Tatgericht nicht verwehrt, vom Gutachten eines Sachverständigen abzuweichen. Wenn das Tatgericht aber eine Frage, für die es geglaubt hat, des Rates eines Sachverständigen zu bedürfen, im Widerspruch zu dem Gutachten lösen will, muss es die maßgeblichen Überlegungen des Sachverständigen wiedergeben und seine Gegenansicht unter Auseinandersetzung mit diesen begründen, damit ersichtlich wird, dass es mit Recht das bessere Fachwissen für sich in Anspruch nimmt (vgl. Senat, NStZ 2009, 571; ferner [X.], [X.], 82; st. Rspr.). Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.

7

a) Die [X.] legt ihrer Entscheidung im Ausgangspunkt eine gutachtenkritische Sichtweise zugrunde, die zu einer schwerwiegenden Einschränkung des [X.] des Gutachtens führen soll. Dies wird zum einen etwa damit belegt, dass es einen über Wissenschaftsgenerationen hinweg erworbenen und gesicherten Stand der Erkenntnisse nicht gebe ([X.] 49); zum anderen gäbe es ein grundsätzliches Problem der Aussagepsychologie; zwar dürften die statistischen Methoden als wissenschaftlich gesichert angesehen werden; die für eine qualitative Bewertung eines solcherart gefundenen Ergebnisses entscheidende Frage sei aber, welche Aussagekraft dem Ergebnis zukomme. Dies sei letztlich nur aufgrund einer wertenden Gesamtbetrachtung möglich, die sich jedoch gerade nicht wissenschaftlich zwingend ableiten lasse und auch sonst in einer justiziablen Weise kaum erkennbar sei ([X.] 51). Dies gelte etwa auch so für den von der Sachverständigen als Beleg für die angenommene irrtümliche Erinnerung angeführten Umstand erwarteter Gedächtnisleistungen, dabei handele es sich nicht um zwingende, in einem wissenschaftlichen Sinn auf jeden Einzelfall übertragbare Erkenntnisse ([X.]).

8

Diese Ausführungen des [X.]s lassen besorgen, dass die [X.] den möglichen Erkenntnisgewinn aussagepsychologischer Gutachten für das Strafverfahren grundsätzlich in Frage stellt, jedenfalls dann, wenn – wie hier – der Grund für die Einholung des Gutachtens – das mögliche Vorliegen dissoziativer Zustände – in Wegfall geraten ist. Dies wird der Bedeutung aussagepsychologischer Begutachtung im Strafverfahren nicht gerecht. Ob es (auto)suggestive Einflüsse auf eine Aussage gegeben hat oder nicht, ist grundsätzlich sachverständiger Prüfung zugänglich (vgl. [X.], in: [X.] (Hrsg.), Psychologisch-psychiatrische Begutachtung in der Strafjustiz, 2012, [X.], 49). Dass mögliche Erkenntnisse aus einer sachverständigen Erörterung nicht zwingend sind, machen weder das daraus folgende Ergebnis unbrauchbar noch führt dies dazu, dass damit eigene richterliche Würdigungen ohne Weiteres zu einer gegenüber der sachverständigen Einschätzung besseren Erkenntnisquelle werden. Dies gilt auch für eine [X.], die aus sehr langer Tätigkeit weiß, dass „Ergebnisse der Forschung nicht ohne Weiteres für die gerichtliche Entscheidung nutzbar“ seien, sondern „stets genauer Betrachtung im Einzelfall bedürften“. Die genaue richterliche Betrachtung im Einzelfall belegt nicht besseres Fachwissen gegenüber (vom [X.] als nicht aussagekräftig empfundene) sachverständigen Würdigungen. Schon dieser skeptische Zugriff auf das aussagepsychologische Gutachten macht die Beweiswürdigung mangelhaft; es ist nicht auszuschließen, dass sich bei der gebotenen offenen Würdigung des Gutachtens deren Ergebnisse als tragfähig erwiesen hätten.

9

b) Ungeachtet dessen erweisen sich auch einzelne konkrete Erwägungen der [X.], die sie der sachverständigen Einschätzung einer Ausbildung von Pseudoerinnerungen entgegensetzt, als nicht rechtsfehlerfrei. Dies gilt zunächst hinsichtlich des Arguments, die Zeugin habe keinen bewussten Erinnerungszugang gehabt, als sie von dem Missbrauch einer Mitschülerin gehört habe. Diese Erwägung wird – wissenschaftlich nicht zwingend – vom [X.] entkräftet, indem es als mögliche Ursache hierfür eine Art emphatischen „Schock“ anführt, in dem ihr ihre ohnehin verdrängten – nicht vergessenen – Erlebnisse nicht in den Sinn gekommen seien ([X.] 59). Konkrete Anhaltspunkte für eine solche Alternativerklärung hat die [X.] aber nicht vorgebracht.

Gleiches gilt mit Blick auf die sehr detaillierte Schilderung des Tatgeschehens durch die Nebenklägerin, die nach Aussage der Sachverständigen nach so langer [X.] gedächtnispsychologisch nicht zu erwarten seien. Dies entkräftet die [X.] zum einen damit, die Sachverständige habe es aber auch nicht ausgeschlossen, dass es solche detailgenauen Erinnerungen geben könne, auch wenn sie nicht zu erwarten seien. Zum anderen überformt sie diese Aussage der Sachverständigen mit gerichtlichen Alltagserfahrungen, wonach es Zeugen gebe, die bei ihrer Aussage bereits vieles vergessen hätten, es aber auch immer wieder vorkäme, dass [X.] sich nachgewiesenermaßen noch erstaunlich gut erinnern könnten, ([X.] 61). Soweit die [X.] „ein natürliches Bedürfnis“ eines Zeugen anerkennt, Erinnerungen zu vervollständigen, will sie es nicht ausschließen, dass die Zeugin (nicht relevante) Einzelheiten konfabuliert hat; soweit sie es aber für ausgeschlossen hält, dass sie den zentralen Umstand der Anklage, den Oralverkehr, hinzuerfunden hat, bleibt sie jegliche Begründung hierfür schuldig.

Schließlich erweisen sich die Erwägungen der Kammer, mit denen sie die Annahme der Sachverständigen, es habe eine kognitive Mangelsituation vorgelegen, indem die Zeugin Erinnerungen aus Träumen entwickelt habe, entkräften will, als nicht nachvollziehbar. Soweit sich aus den Angaben in der Exploration – in Abweichung zu der Aussage in der Hauptverhandlung, nach der die aufkommenden Bilder und die späteren Träume in ihrer Intensität und Häufigkeit vornehmlich das [X.] und die [X.] nach der [X.] gegenüber der Zeugin L.    betrafen – der Anschein ergeben soll, als habe die Zeugin aufgrund von Bildern begonnen, eine ihr plausible Geschichte darum zu rekapitulieren, gibt das [X.] zu bedenken, dass die Angaben dort „von erheblichem Widerwillen gedrängt“ gewesen seien. Die Zeugin habe das Geschehen nicht schon wieder jemand Fremden erzählen wollen, was geeignet sei, die Genauigkeit der Angaben zu beeinträchtigen. Sodann habe die Zeugin an mehreren Stellen der Exploration in ihren Antworten spontane, ersichtlich dem Redefluss geschuldete zeitliche Sprünge nach vorn und zurück vorgenommen. Schließlich habe sie sich zu diesem [X.]punkt in einer Therapie befunden, so dass auch von daher Einflüsse, welche die Zeugin zu plausiblen Abfolgen verführten, nicht auszuschließen und eher wahrscheinlich seien. Nicht zuletzt beruft sich die Kammer darauf, es gebe keinen wissenschaftlichen Lehrsatz, dass etwas, von dem man träume, nicht wahr sein könne.

Diese wenigen Sätze versetzen den Senat nicht in die Lage nachzuvollziehen, warum das [X.] anders als die Sachverständige den Träumen der Zeugin, die immerhin auch der Anlass waren, ein Gutachten einzuholen, keine Bedeutung für den Wahrheitsgehalt ihrer Angaben (im Sinne einer Ausbildung von Pseudoerinnerungen) beigemessen hat. Dies gilt ohne Weiteres, als sie hierfür die Angaben der Zeugin in der Hauptverhandlung bzw. in der Exploration in Bezug nimmt. Ohne nähere Kenntnis dieser Angaben im Einzelnen vermag der Senat nicht in die Prüfung einzutreten, ob die von der Sachverständigen angenommene Scheinerinnerung so entstanden sein kann oder ob angesichts gegenteiliger Angaben in der Hauptverhandlung eine solche Verfremdung der Aussage eher auszuschließen ist. Dabei hätte das [X.] darlegen müssen, ob und wie die Zeugin ihre damaligen Angaben verstanden wissen wollte. An all diesen Mitteilungen fehlt es, so dass die Widerlegung der sachverständigen Einschätzung durch die Kammer schon aus diesem Grund rechtlichen Bedenken unterliegt.

Aber auch die weiteren Erwägungen der [X.] erweisen sich nicht als tragfähig. Widerwillen oder zeitliche Sprünge in der Aussage mögen zu Ungenauigkeiten in den Angaben führen können; maßgeblich ist, ob dies tatsächlich so geschehen ist, was sich aus den diesbezüglichen Ausführungen der Kammer nicht ergibt. Schließlich beantwortet der Satz, man könne auch träumen, was wahr sei, nicht die Frage, ob – wie die Sachverständige in diesem Fall vorgebracht hat – aus Bildern (in Träumen) eine ihnen entsprechend plausible Geschichte geformt worden ist. Dies gilt um so mehr, als dem Urteil weiter zu entnehmen ist, dass die Zeugin von weiteren Missbräuchen durch den Vater träumt, mit denen sie aber keine konkreten Erinnerungen an wahre Erlebnisse verbindet.

Die Sache bedarf insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung, wobei auf die Träume der Zeugin und deren Einfluss auf den Wahrheitsgehalt der Angaben der Zeugin besonderes Augenmerk zu richten sein wird.

II.

Die Aufhebung des Schuldspruchs im Fall II.1 der Urteilsgründe führt zum Wegfall des Strafausspruchs in diesem Fall sowie im [X.]. Darüber hinaus waren auch die übrigen Strafaussprüche aufzuheben. Wie die Revision zu Recht beanstandet, hat des [X.] das Fehlen von Vorstrafen nicht ausdrücklich strafmindernd berücksichtigt. Da sich den [X.] auch im Übrigen nicht entnehmen lässt, ob die [X.] dies bei ihrer Strafbemessung beachtet hat, ist zu besorgen, dass ihr dies trotz Erwähnung bei den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten aus dem Blick geraten sein könnte.

Fischer     

Ri[X.] Dr. Appl ist an
der Unterschrift gehindert.

Krehl

Fischer

Eschelbach     

     Bartel     

Meta

2 StR 63/16

29.09.2016

Bundesgerichtshof 2. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Marburg, 31. August 2015, Az: 3 KLs 1 Js 576/13

§ 261 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 29.09.2016, Az. 2 StR 63/16 (REWIS RS 2016, 4652)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 4652

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