Bundesfinanzhof, Beschluss vom 20.02.2013, Az. GrS 1/12

Großer Senat | REWIS RS 2013, 8028

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Keine sonstigen Einkünfte selbständig tätiger Prostituierter - Zulässigkeit einer Vorlage an den Großen Senat des BFH


Leitsatz

Selbständig tätige Prostituierte erzielen Einkünfte aus Gewerbebetrieb (Aufgabe des BFH-Urteils vom 23. Juni 1964 GrS 1/64 S, BFHE 80, 73, BStBl III 1964, 500) .

Tatbestand

1

A. [X.] Rechtsfrage, Sachverhalt und Ausgangsverfahren,
Anrufungsbeschluss des III. Senats

2

I. [X.] Rechtsfrage

3

[X.] [X.] ([X.]) hat durch Beschluss vom 15. März 2012 III R 30/10 ([X.]E 237, 421, [X.], 661) dem [X.] gemäß § 11 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:

4

Erzielen Prostituierte (sog. Eigenprostitution) Einkünfte aus Gewerbebetrieb oder sonstige Einkünfte?

5

II. Sachverhalt und Ausgangsverfahren

6

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) war seit dem Streitjahr (2006) als Prostituierte tätig und bot [X.] die Ausübung des Geschlechtsverkehrs gegen Entgelt in einer eigens dafür gemieteten Wohnung an. Ihre Betriebseinnahmen beliefen sich im Streitjahr einschließlich der Umsatzsteuer auf etwa 64.000 € und die Betriebsausgaben auf ca. 26.000 €. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --[X.]--) behandelte den aus der Prostitution erzielten Gewinn in Höhe von 38.115 € nicht --wie [X.] als sonstige Einkünfte, sondern als Einkünfte aus Gewerbebetrieb und setzte den [X.] auf 152 € fest.

7

Die Sprungklage hatte Erfolg. Das Finanzgericht entschied mit Urteil vom 14. April 2010  8 K 1846/07 (veröffentlicht in Entscheidungen der Finanzgerichte 2011, 318), dass die Klägerin Einkünfte i.S. von § 22 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) erzielt habe, und hob den Bescheid über den [X.] auf. Zur Begründung verwies es insbesondere auf das [X.]-Urteil vom 23. Juni 1964 GrS 1/64 S ([X.]E 80, 73, BStBl [X.], 500), wonach aus "gewerbsmäßiger Unzucht" sonstige Einkünfte i.S. des § 22 Nr. 3 EStG erzielt würden. An dieser Auffassung sei trotz veränderter Umstände festzuhalten (so auch [X.]-Urteile vom 28. November 1969 VI R 128/68, [X.]E 97, 378, [X.] 1970, 185; vom 17. April 1970 VI R 164/68, [X.]E 99, 200, [X.] 1970, 620).

8

Mit seiner Revision rügt das [X.] die Verletzung materiellen Rechts. Es ist der Meinung, die Klägerin habe aus ihrer Tätigkeit als Prostituierte gewerbliche Einkünfte erzielt.

9

III. Vorlagebeschluss des III. Senats

[X.] teilt die Auffassung des [X.] und beabsichtigt daher, der Revision des [X.] stattzugeben. Da diese Ansicht vom Urteil des [X.]s des [X.] in [X.]E 80, 73, BStBl [X.], 500 abweiche, sei eine erneute Klärung dieser im Streitfall entscheidungserheblichen Rechtsfrage erforderlich (§ 11 Abs. 2 FGO).

Entscheidungsgründe

B. Entscheidung des Großen Senats zu Verfahrensfragen

I. Keine mündliche Verhandlung

[X.] entscheidet gemäß § 11 Abs. 7 Satz 2 FGO ohne mündliche Verhandlung, weil eine weitere Förderung der Entscheidung durch eine mündliche Verhandlung nicht zu erwarten ist. Die Vorlagefrage und die Auffassungen, die dazu in Rechtsprechung und Schrifttum vertreten werden, sind im Vorlagebeschluss eingehend dargestellt worden. Die Beteiligten hatten Gelegenheit, zu der Vorlagefrage [X.]ellung zu nehmen.

II. Zulässigkeit der Vorlage

Die Vorlage des [X.] ist zulässig.

1. Der vorlegende Senat ist zu Recht davon ausgegangen, dass eine Pflicht zur Vorlage der Rechtsfrage an den [X.] besteht. Das Urteil des [X.]s in [X.], 73, B[X.]Bl [X.], 500 ist vor Inkrafttreten der Finanzgerichtsordnung (31. Dezember 1965) ergangen. Da es jedoch gemäß § 64 der Reichsabgabenordnung i.d.F. der Bekanntmachung vom 22. Mai 1931 ([X.] 1931, 161) veröffentlicht wurde, ist die Anrufung des [X.]s gleichwohl erforderlich (§ 184 Abs. 2 Nr. 5 FGO i.d.F. vom 6. Oktober 1965, [X.] 1965, 1477; vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 11 [X.] 7).

2. Die gemäß § 11 Abs. 3 FGO vorgesehene Anfrage bei anderen Senaten war nicht erforderlich. Nach § 11 Abs. 3 Satz 1 FGO ist eine Vorlage an den [X.] nur zulässig, wenn der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, auf Anfrage des erkennenden Senats erklärt hat, dass er an seiner Rechtsauffassung festhält. Zwar hat der [X.]. Senat mit Urteilen in [X.], 378, [X.] 1970, 185 und in [X.], 200, [X.] 1970, 620 entschieden, selbständig tätige Prostituierte erzielten sonstige Einkünfte. Eine Anfrage war aber deshalb entbehrlich, weil hierdurch die Divergenz zum Urteil des [X.]s in [X.], 73, B[X.]Bl [X.], 500 nicht beseitigt werden könnte. [X.] der erkennende Senat von einer Entscheidung des [X.]s des [X.] abweichen, muss er die Rechtsfrage dem [X.] des [X.] erneut vorlegen. Eine Anfrage bei allen anderen Senaten des [X.] kommt ebenso wenig in Betracht wie eine Anfrage beim [X.] selbst, ob dieser an seiner Rechtsauffassung festhalte ([X.] in [X.]/[X.]/[X.] --[X.]--, § 11 FGO [X.] 44; [X.] in Tipke/[X.], Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 11 FGO [X.] 10; [X.] in [X.], FGO § 11 [X.] 18; [X.] in [X.], FGO § 11 [X.] 18; wohl auch [X.]-Beschluss vom 24. Juni 1985 GrS 1/84, [X.]E 144, 124, [X.] 1985, 587). Der in § 11 Abs. 3 Satz 1 FGO angesprochene "Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll", ist stets (nur) ein Fachsenat, nicht aber der [X.] selbst.

3. Die Vorlage ist auch nicht deshalb unzulässig, weil der [X.] bereits durch Urteil in [X.], 73, B[X.]Bl [X.], 500 über die aufgeworfene Rechtsfrage entschieden hat.

a) Nach der Rechtsprechung des [X.]s ist eine erneute Vorlage [X.]elben Rechtsfrage an ihn nur zulässig, falls in der Zwischenzeit neue rechtliche Gesichtspunkte aufgetreten sind, die bei der ursprünglichen Entscheidung nicht berücksichtigt werden konnten, und/oder neue Rechtserkenntnisse eine andere Beurteilung der entschiedenen Rechtsfrage rechtfertigen könnten ([X.]-Beschlüsse vom 18. Januar 1971 GrS 4/70, [X.]E 101, 13, [X.] 1971, 207; in [X.]E 144, 124, [X.] 1985, 587).

b) Gegen diese Auffassung wird vorgebracht, § 11 FGO enthalte derlei Einschränkungen für die erneute Vorlage einer Rechtsfrage an den [X.] nicht. § 11 Abs. 7 Satz 3 FGO erkläre im Gegenteil die Entscheidung des [X.]s nur in der vorliegenden Sache für den erkennenden Senat als bindend, woraus sich im Gegenschluss ergebe, dass eine erneute Vorlage in einer anderen Sache selbst für den vorlegenden Senat möglich wäre (zur Kritik vgl. [X.] in Tipke/[X.], a.a.[X.], § 11 FGO [X.] 11; Gräber/Ruban, a.a.[X.], § 11 [X.] 34; [X.] in [X.], § 11 FGO [X.] 45). Die Auffassung berge überdies die Gefahr der Rechtserstarrung (Gräber/Ruban, a.a.[X.], § 11 [X.] 34).

c) Es bedarf keiner Entscheidung, ob der [X.] an seiner bisherigen Auffassung zur Zulässigkeit heute noch festhalten könnte (offengelassen bereits im [X.]-Beschluss in [X.]E 144, 124, [X.] 1985, 587). Denn die erneute Vorlage der Rechtsfrage, ob selbständig tätige Prostituierte sonstige Einkünfte oder gewerbliche Einkünfte erzielen, ist jedenfalls schon deshalb zulässig, weil seit der Entscheidung des [X.]s mehr als 45 Jahre vergangen sind, Verwaltung und Literatur einhellig die Auffassung vertreten, Prostituierte erzielten gewerbliche Einkünfte (s. [X.] und 3.), und sich überdies die rechtlichen Rahmenbedingungen --wie im Einzelnen aus dem Beschluss des vorlegenden [X.] in [X.]E 237, 421, [X.] 2012, 661 ersichtlich-- für die Ausübung der Prostitution seither geändert haben.

III. Entscheidungserheblichkeit

Die vorgelegte Rechtsfrage ist für die Entscheidung des [X.] erheblich. Würde der [X.] an seiner Entscheidung in [X.], 73, B[X.]Bl [X.], 500 festhalten, wäre der III. Senat gehindert, der Revision des [X.] --wie beabsichtigt-- stattzugeben.

C. Entscheidung des Großen Senats über die vorgelegte Rechtsfrage

[X.] entscheidet die vorgelegte Rechtsfrage im Sinne der Auffassung des vorlegenden Senats.

I. Entwicklung der Rechtsprechung, Auffassung der Literatur und Verwaltung

1. Die Entwicklung der Rechtsprechung zur Behandlung der Einkünfte aus Prostitution ist im Vorlagebeschluss in [X.]E 237, 421, [X.] 2012, 661 wiedergegeben.

2. Die Verwaltung ist der Auffassung, dass selbständig tätige Prostituierte Einkünfte aus Gewerbebetrieb erzielen. So hat das [X.] ([X.]) in vorliegendem Verfahren zwar nicht seinen Beitritt erklärt, jedoch mitgeteilt, die Auffassung des vorlegenden [X.] werde von den obersten Finanzbehörden des [X.] und der Länder schon seit längerer Zeit vertreten (vgl. z.B. Verfügung der Oberfinanzdirektion [X.] vom 30. Juli 2004 S 2240 A - [X.] 11, E[X.]G-Kartei NW § 15 (1) Nr. 1 E[X.]G Nr. 802 in Übereinstimmung mit einem Beschluss der Referenten des [X.] und der Länder). Die im Vorlagebeschluss für diese Rechtsauffassung angeführten Argumente seien aus Sicht des [X.] zutreffend.

3. In der Literatur wird allgemein die Ansicht vertreten, selbständig tätige Prostituierte erzielten Einkünfte aus Gewerbebetrieb (z.B. Schön in Kirchhof/[X.]/[X.]/[X.] [Hrsg.], Festschrift [X.], 2000, S. 661, 668; [X.], Deutsches [X.]euerrecht --D[X.]R-- 2000, 1342; [X.]. in Kirchhof, E[X.]G, 11. Aufl., § 22 [X.] 69; [X.]/[X.], E[X.]G, 32. Aufl., § 22 [X.] 150 "Prostitution"; [X.]/[X.], § 15 E[X.]G [X.] 17, und [X.]/[X.], § 22 E[X.]G [X.] 168 "Gewerbsmäßige Prostitution"; [X.]apperfend in [X.]/[X.]/[X.], § 15 E[X.]G [X.] 1059; Reiß in Kirchhof, a.a.[X.], § 15 [X.] 34; [X.] in [X.]/[X.]einberg, [X.], § 2 [X.] 259; [X.], in: [X.][X.], E[X.]G, § 22 [X.] D 179 "Geschlechtsverkehr"; [X.], D[X.]R 2005, 543).

II. Auffassung des Großen Senats

[X.] teilt die Auffassung des vorlegenden Senats in [X.]E 237, 421, [X.] 2012, 661, dass selbständig tätige Prostituierte Einkünfte aus Gewerbebetrieb erzielen und damit einen Gewerbebetrieb i.S. des § 2 Abs. 1 Satz 2 des [X.]es (Gew[X.]G) i.V.m. § 15 Abs. 2 E[X.]G unterhalten.

Unter einem Gewerbebetrieb ist gemäß § 2 Abs. 1 Gew[X.]G, § 15 Abs. 2 E[X.]G jede selbständige nachhaltige Tätigkeit zu verstehen, die mit Gewinnerzielungsabsicht unternommen wird und sich als Beteiligung am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr darstellt, falls sie den Rahmen einer privaten Vermögensverwaltung überschreitet und es sich nicht um die Ausübung von Land- und Forstwirtschaft (§ 13 E[X.]G) oder einer selbständigen Arbeit (§ 18 E[X.]G) handelt.

Selbständig tätige Prostituierte erfüllen diese Voraussetzungen; sie nehmen insbesondere in Abweichung von der im [X.]-Urteil in [X.], 73, B[X.]Bl [X.], 500 vertretenen Auffassung auch am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr teil; die Prostitution kann in Gestalt eines "sich am wirtschaftlichen Verkehr beteiligenden Unternehmens" betrieben werden. Da dies einhelliger Auffassung in Verwaltung und Literatur (s. [X.] und 3.) entspricht, sieht der [X.] von weiteren Ausführungen hierzu ab, sondern verweist zur Begründung auf die zutreffenden Ausführungen im Vorlagebeschluss des [X.] in [X.]E 237, 421, [X.] 2012, [X.] Prostituierte erzielen auch keine Einkünfte aus selbständiger Arbeit i.S. des § 18 E[X.]G.

III. Entscheidung der Vorlagefrage

[X.] des [X.] beantwortet die vorgelegte Rechtsfrage danach wie folgt:

Selbständig tätige Prostituierte (sog. Eigenprostitution) erzielen Einkünfte aus Gewerbebetrieb.

Meta

GrS 1/12

20.02.2013

Bundesfinanzhof Großer Senat

Beschluss

vorgehend BFH, 15. März 2012, Az: III R 30/10, Vorlagebeschluss

§ 22 Nr 3 EStG 2002, § 15 Abs 2 EStG 2002, § 11 Abs 2 FGO, § 11 Abs 3 FGO, § 11 Abs 7 S 3 FGO, § 184 Abs 2 Nr 5 FGO vom 06.10.1965, § 2 Abs 1 S 2 GewStG 2002, § 18 EStG 2002, GewStG VZ 2006, EStG VZ 2006

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 20.02.2013, Az. GrS 1/12 (REWIS RS 2013, 8028)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 8028


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. GrS 1/12

Bundesfinanzhof, GrS 1/12, 20.02.2013.


Az. III R 30/10

Bundesfinanzhof, III R 30/10, 13.06.2013.

Bundesfinanzhof, III R 30/10, 15.03.2012.


Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

III R 30/10 (Bundesfinanzhof)

Qualifizierung der Einkünfte aus Eigenprostitution


III R 30/10 (Bundesfinanzhof)

Keine sonstigen Einkünfte selbständig tätiger Prostituierter


VI R 60/11 (Bundesfinanzhof)

(Vorlage gemäß § 11 FGO - Pflicht zur Anrufung des Großen Senats bei beabsichtigter Abweichung …


II R 44/15 (Bundesfinanzhof)

Erbschaftsteuerrechtlich begünstigtes Vermögen bei einer Wohnungsvermietungsgesellschaft


GrS 1/13 (Bundesfinanzhof)

Erfordernis der Divergenzanfrage - Spannungsverhältnis zwischen Rechtsfortbildung und Einheitlichkeit der Rechtsprechung - Zulässigkeit einer erneuten …


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.