Bundesfinanzhof, Beschluss vom 09.10.2014, Az. GrS 1/13

Großer Senat | REWIS RS 2014, 2317

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Gegenstand

Erfordernis der Divergenzanfrage - Spannungsverhältnis zwischen Rechtsfortbildung und Einheitlichkeit der Rechtsprechung - Zulässigkeit einer erneuten Vorlage derselben Rechtsfrage an den Großen Senat


Leitsatz

Ein Senat des BFH, der von einer Entscheidung eines anderen Senats abweichen will, hat auch dann bei diesem Senat nach § 11 Abs. 3 FGO anzufragen und für den Fall, dass dieser an seiner Rechtsauffassung festhält, den Großen Senat anzurufen, wenn der erkennende Senat zwar nach dem Geschäftsverteilungsplan für die Rechtsfrage zuständig geworden ist, der andere Senat aber weiterhin mit der Rechtsfrage befasst werden kann .

Tatbestand

[X.] [X.] Rechtsfrage

1

Der [X.]. Senat des [X.] ([X.]) hat durch Beschluss vom 18. April 2013 [X.] R 60/11 ([X.]E 241, 141, [X.], 868) dem [X.] des [X.] gemäß § 11 Abs. 4 der Finanzgerichtsordnung (FGO) folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:

2

Ist ein Senat, der von einer Entscheidung eines anderen Senats des [X.] abweichen will, auch dann verpflichtet, gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 FGO bei diesem anzufragen, ob er an seiner bisherigen Rechtsprechung festhält, und für den Fall, dass der angefragte Senat der Änderung der Rechtsprechung nicht zustimmt, die streitige Rechtsfrage dem [X.] des [X.] gemäß § 11 Abs. 2 FGO vorzulegen, wenn der erkennende Senat aufgrund einer Änderung des [X.] für die streitige Rechtsfrage --hier außergewöhnliche [X.] zuständig geworden ist, wenn "nur diese streitig" ist, der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, jedoch weiterhin mit einer derartigen Rechtsfrage befasst werden kann.

3

II. Sachverhalt

4

1. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) wurden im Streitjahr 2008 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Sie erzielten Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. In ihrer Einkommensteuererklärung machten sie Aufwendungen für die Adoption eines in [X.] geborenen Kindes als außergewöhnliche Belastung i.S. des § 33 des Einkommensteuergesetzes (EStG) geltend. Wegen Zeugungsunfähigkeit des [X.] haben die Kläger keine leiblichen Kinder. [X.] lehnen sie aus ethischen und gesundheitlichen Gründen ab.

5

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt) berücksichtigte die geltend gemachten Aufwendungen nicht als außergewöhnliche Belastung, weil sie nicht zwangsläufig entstanden seien. Nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhoben die Kläger Klage, die das Finanzgericht mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte 2012, 414 veröffentlichten Gründen als unbegründet abwies.

6

Mit der Revision machen die Kläger geltend, die streitigen Aufwendungen seien einer heterologen Insemination gleichzustellen und daher als außergewöhnliche Belastung anzuerkennen. [X.] sich Steuerpflichtige aus ethisch-religiösen Gründen nicht zu einer heterologen Insemination in der Lage, sei bei Zeugungsunfähigkeit eines Ehegatten die Adoption die einzige Möglichkeit der Familiengründung.

7

2. Der [X.]. Senat ist nach der Geschäftsverteilung des [X.] seit 2009 für außergewöhnliche Belastungen i.S. der §§ 33 ff. EStG zuständig, "wenn nur diese streitig sind". Bis zum [X.] war hierfür der [X.] des [X.] zuständig. Der [X.] hat mit Urteilen vom 13. März 1987 III R 301/84 ([X.]E 149, 245, [X.] 1987, 495) und vom 20. März 1987 III R 150/86 ([X.]E 149, 539, [X.] 1987, 596) entschieden, dass Aufwendungen für eine Adoption nicht als außergewöhnliche Belastung gemäß § 33 EStG abgezogen werden können.

8

Nach der derzeitigen Geschäftsverteilung des [X.] ist der [X.] u.a. für Einkommensteuer zuständig (vgl. A. [X.] Nrn. 1 und 2 des [X.] für 2014). Er kann daher mit Fragen der Anwendung der §§ 33 ff. EStG befasst werden, wenn nicht nur diese streitig sind.

9

III. Vorlagebeschluss des [X.]. Senats

1. Die Vorlagefrage ist nach Auffassung des [X.]. Senats zu verneinen. Der Senat, der aufgrund einer Änderung des [X.] vorrangig für ein bestimmtes Rechtsgebiet zuständig geworden sei, könne von der Rechtsprechung eines anderen Senats des [X.] ohne vorherige Anfrage bei diesem abweichen. Eine Pflicht zur Vorlage an den [X.] sei zu verneinen.

Die Pflicht zur Anrufung des [X.]s entfalle, wenn der erkennende Senat aufgrund einer Änderung in der Geschäftsverteilung ausschließlich für die streitige Rechtsfrage zuständig geworden sei. Die Gefahr einander widerstreitender Urteile bestehe dann künftig nicht.

Ebenso sei es, wenn der bisher zuständige Senat aufgrund der Änderung der Geschäftsverteilung künftig nur noch gelegentlich in die Lage kommen könne, über die Rechtsfrage zu entscheiden, weil die Zuständigkeit auf einen anderen Senat übergegangen sei, soweit nur diese Rechtsfrage streitig ist.

Durch die Zuweisung eines Rechtsgebiets an einen bestimmten Senat werde diesem die Rechtsfortbildung hierfür übertragen. Auch wenn der bislang zuständige Senat in seltenen Fällen weiterhin mit Rechtsfragen aus diesem Rechtsgebiet befasst werden könne, werde er sich nach dem [X.] mit fortschreitender Zeit von der Rechtsmaterie entfernen. Dies spreche dafür, die Entscheidung über Streitfragen dem Senat zuzuweisen, der vornehmlich für dieses Rechtsgebiet zuständig geworden sei. Die Gefahr widerstreitender Urteile sei gering, weil ein Senat, der sich nur gelegentlich mit der Materie eines anderen Senats befassen müsse, in aller Regel der Rechtsprechung dieses Senats folgen werde.

Die durch die Geschäftsverteilung seit 2009 in erster Linie dem vorlegenden ([X.].) Senat für das Rechtsgebiet der außergewöhnlichen Belastungen zugewiesene Aufgabe der Rechtsfortbildung sei vorrangig vor dem Interesse an der Einheitlichkeit der Rechtsprechung, das durch die Verpflichtung zur Vorlage an den [X.] in den gesetzlich vorgesehenen Fällen gewahrt werden solle. Der mehrdeutige Wortlaut des § 11 Abs. 3 Satz 2 FGO stehe einer Änderung der Rechtsprechung ohne Anfrage nicht entgegen. [X.] ein dritter Senat, für den zu keinem Zeitpunkt eine vorrangige Zuständigkeit bestanden habe, von der Rechtsprechung des früher vorrangig zuständigen (III.) Senats abzuweichen, müsse dieser nach § 11 Abs. 3 Satz 2 FGO beim nunmehr vorrangig zuständigen ([X.].) Senat anfragen.

2. Der [X.]. Senat hält die vorgelegte Rechtsfrage für entscheidungserheblich. Er sieht sich als zu einer Abweichung von der Rechtsprechung des [X.]s berechtigt an, ohne dass hierin eine Abweichung i.S. von § 11 Abs. 2 und 3 FGO zu sehen sei, die eine Entscheidung durch den [X.] erforderlich mache. Dies führe zum Erfolg der Revision.

IV. Rechtsgrund der Vorlage

1. Der vorlegende Senat begründet die Vorlage mit der grundsätzlichen Bedeutung i.S. des § 11 Abs. 4 FGO. Die vorgelegte Rechtsfrage stelle sich nicht nur bei außergewöhnlichen Belastungen, sondern auch bei anderen Materien des Ertragsteuerrechts.

Der [X.] habe in den Beschlüssen vom 15. November 1971 GrS 1/71 ([X.]E 103, 433, [X.] 1972, 68), vom 21. Oktober 1985 GrS 2/84 ([X.]E 145, 147, [X.] 1986, 207) und vom 28. November 1988 GrS 1/87 ([X.]E 154, 556, [X.] 1989, 164) über die hier vorgelegte Rechtsfrage noch nicht abschließend entschieden. Diese Entscheidungen beschäftigten sich in erster Linie mit der Frage, welchem Senat des [X.] ein Entsendungsrecht an den [X.] (§ 11 Abs. 2 Satz 2 FGO a.F.) zustehe. Zudem habe der zum Zeitpunkt der bisherigen Entscheidung des [X.]s anzuwendende § 11 FGO a.F. einen anderen Wortlaut als § 11 FGO in der seit 1992 geltenden Fassung des [X.] ([X.]) vom 17. Dezember 1990 ([X.] 1990, 2847, [X.] 1991, 3) gehabt.

Auch andere Senate des [X.] seien der Auffassung, dass einen Senat, der vorrangig für ein Rechtsgebiet zuständig sei, keine Pflicht zur Anfrage wegen Divergenz an den [X.] treffe, wenn er von einer Entscheidung eines anderen Senats abweichen wolle, der nach wie vor im Zusammenhang mit anderen Streitpunkten mit der streitgegenständlichen Rechtsfrage befasst werden könne. Den Entscheidungen des [X.]s in [X.]E 103, 433, [X.] 1972, 68, in [X.]E 145, 147, [X.] 1986, 207 und in [X.]E 154, 556, [X.] 1989, 164 sei für die heute geltende Fassung des § 11 FGO keine Bedeutung beizumessen.

2. Hilfsweise sei der [X.] nach § 11 Abs. 2 FGO anzurufen, da der vorlegende Senat beabsichtige, von den Entscheidungen des [X.]s in [X.]E 103, 433, [X.] 1972, 68, in [X.]E 145, 147, [X.] 1986, 207 und in [X.]E 154, 556, [X.] 1989, 164 abzuweichen.

Entscheidungsgründe

B. I. Zulässigkeit der Vorlage

Die Vorlage des [X.]. Senats ist zulässig.

1. Die Zulässigkeit der Vorlage ergibt sich aus § 11 Abs. 4 FGO. Der erkennende Senat kann danach eine Frage grundsätzlicher Bedeutung dem [X.] zur Entscheidung vorlegen, wenn das nach seiner Auffassung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist.

2. Eine erneute Vorlage derselben Rechtsfrage an den [X.] ist nur zulässig, falls in der Zwischenzeit neue rechtliche Gesichtspunkte aufgetreten sind, die bei der ursprünglichen Entscheidung nicht berücksichtigt werden konnten, und/ oder neue Rechtserkenntnisse eine andere Beurteilung der entschiedenen Rechtsfrage rechtfertigen könnten ([X.] vom 20. Februar 2013 GrS 1/12, [X.], 282, [X.], 441, Rz 19).

3. [X.] hat im Streitfall nicht zu entscheiden, ob an dieser Einschränkung festzuhalten ist (vgl. hierzu [X.] in [X.], 282, [X.], 441, Rz 21), da jedenfalls aufgrund der Änderungen in § 11 FGO durch das RpflVereinfG neue rechtliche Gesichtspunkte vorliegen, die der [X.] in seiner bisherigen Rechtsprechung in [X.], 433, [X.] 1972, 68, in [X.], 147, [X.] 1986, 207 und in [X.], 556, [X.] 1989, 164 noch nicht berücksichtigen konnte.

4. Da die aufgeworfene Rechtsfrage erhebliche Bedeutung für die Abgrenzung der Entscheidungskompetenz zwischen den einzelnen Senaten des [X.] hat, besteht auch ein allgemeines Interesse an einer Klärung der Rechtslage durch den [X.].

5. Ob die Vorlage hilfsweise auch nach § 11 Abs. 2 FGO zulässig wäre, ist ohne Bedeutung.

II. Entscheidungserheblichkeit

Die vorgelegte Rechtsfrage ist für die Entscheidung des vorlegenden Senats erheblich. Bei einer Verneinung der Vorlagefrage entsprechend der Rechtsauffassung des vorlegenden Senats wäre die Revision der Kläger begründet, da der vorlegende Senat abweichend von der bisherigen Rechtsprechung des [X.]s in [X.]E 149, 245, [X.] 1987, 495 und in [X.]E 149, 539, [X.] 1987, 596 Aufwendungen für eine Adoption als außergewöhnliche Belastung gemäß § 33 EStG anerkennen will. Bei einer Bejahung der Vorlagefrage wäre dies nicht möglich. Denn der [X.] hat den [X.] des vorlegenden Senats vom 13. November 2012 zur Zustimmung zu einer Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung durch Beschluss vom 31. Januar 2013 dahingehend beantwortet, dass er an seiner Rechtsauffassung festhalte.

III. Entscheidung des Großen Senats über die vorgelegte Rechtsfrage

1. Rechtsgrundlagen

Nach § 11 Abs. 2 FGO in der seit 1. Januar 1992 geltenden Fassung entscheidet der [X.], wenn ein Senat in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Senats oder des [X.]s abweichen will.

Eine Vorlage an den [X.] ist gemäß § 11 Abs. 3 FGO n.F. nur zulässig, wenn der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, auf Anfrage des erkennenden Senats erklärt hat, dass er an seiner Rechtsauffassung festhält. Kann der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, wegen einer Änderung des Geschäftsverteilungsplanes mit der Rechtsfrage nicht mehr befasst werden, tritt der Senat an seine Stelle, der nach dem Geschäftsverteilungsplan für den Fall, in dem abweichend entschieden wurde, nunmehr zuständig wäre. Über die Anfrage und die Antwort entscheidet der jeweilige Senat durch Beschluss in der für Urteile erforderlichen Besetzung.

2. Rechtsentwicklung

Regelungen zur Entscheidung durch den [X.] enthielten bereits die Reichsabgabenordnung 1919 in § 46 und die Reichsabgabenordnung 1931 in § 66.

Die Finanzgerichtsordnung vom 6. Oktober 1965 ([X.] 1965, 1477) bestimmte in § 11 Abs. 3: "[X.] in einer Rechtsfrage ein Senat des [X.] von der Entscheidung eines anderen Senats oder des [X.]s abweichen, so entscheidet der [X.]."

§ 2 Abs. 2 der neu gefassten Geschäftsordnung des [X.] vom 1. Januar 1971 ([X.] 1974, 286 --GeschO[X.] 1971--) regelte ergänzend, dass in den Fällen des § 11 Abs. 3 FGO der Senat, der von der Entscheidung des anderen Senats abweichen will, zunächst bei diesem anzufragen hat, ob er der Abweichung zustimmt. Hat sich die Geschäftsverteilung geändert, so ist als anderer Senat derjenige anzusehen, auf den die Zuständigkeit für die Streitfrage übergegangen ist.

3. Rechtsprechung

[X.] hat die Vorlagefrage unter Geltung von § 11 FGO a.F. bejaht. Nach dem [X.] in [X.], 433, [X.] 1972, 68, unter [X.] gilt die bisherige Rechtsprechung, nach der es keiner Anrufung des [X.]s bedarf, wenn die die früheren Fälle betreffende Zuständigkeit inzwischen auf den nunmehr erkennenden Senat übergegangen ist, nur für den Fall, dass die Beurteilung der zu entscheidenden Frage ausschließlich dem erkennenden Senat zugewiesen ist.

Nach den [X.]-Beschlüssen in [X.], 147, [X.] 1986, 207, unter [X.] und in [X.], 556, [X.] 1989, 164, unter [X.] liegt eine Abweichung i.S. des § 11 Abs. 3 FGO auch dann vor, wenn zwar eine Änderung in der Geschäftsverteilung eingetreten ist, der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, aber trotz des Wechsels in der Zuständigkeit jederzeit in die Lage kommen kann, über die Rechtsfrage erneut entscheiden zu müssen, so dass diesem auch das [X.] nach § 11 Abs. 2 Satz 2 FGO a.F. zustand.

Das [X.] ([X.]) hat erkannt, die Vorlagepflicht wegen Divergenz entfalle nur dann, wenn für die Zukunft die Gefahr divergierender Entscheidungen auszuschließen sei (vgl. Beschluss des [X.]s des [X.] vom 24. Juni 1985 GS 1/84, [X.]E 58, 183, unter 2. der Entscheidungsgründe). Nur wenn der nach einer Geschäftsverteilung nunmehr zuständige Senat für die Bearbeitung eines abgeschlossenen Rechtsgebietes allein zuständig sei, entfalle die Vorlagepflicht.

4. Schrifttum

Im Schrifttum wird die Vorlagefrage unterschiedlich beurteilt.

[X.] in [X.]/[X.]/[X.] --[X.]--, § 11 FGO Rz 60 schließt aus § 11 Abs. 3 Satz 2 FGO, dass die Anfrage bei dem früher entscheidenden Senat nur unterbleiben kann, wenn er die Zuständigkeit für die zu entscheidende Rechtsfrage vollständig verloren hat. Nach [X.] in Tipke/ [X.], Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 11 FGO Rz 5 ist ein Abweichen von einer Entscheidung eines anderen Senats, dessen Zuständigkeit aber vollständig auf den nun entscheidenden Senat übergegangen ist, nicht vorlagepflichtig. [X.] in Gräber, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 11 Rz 20 geht davon aus, dass die Anfragepflicht bei dem anderen Senat nur entfällt, wenn der bisher zuständige Senat künftig nicht mehr in die Lage kommen kann, über die streitige Rechtsfrage entscheiden zu müssen.

Nach Auffassung von [X.] entsprechen die [X.]-Beschlüsse in [X.], 147, [X.] 1986, 207 und in [X.], 556, [X.] 1989, 164 nicht dem Sinn und Zweck des Anfrageverfahrens ([X.] Steuerrecht --DStR-- 1987, 439, 440). Der [X.] in [X.], 147, [X.] 1986, 207 sei aufgrund der Neuregelung des § 11 FGO nicht mehr anwendbar ([X.], [X.], 382, 385; ähnlich [X.], [X.] 2001, 1084, der dennoch die Auffassung vertritt, auch für die Neufassung des § 11 Abs. 3 FGO solle an der Rechtsprechung des [X.]s festgehalten werden, wonach nur eine ausschließliche Zuständigkeit des erkennenden Senats eine Anfrage bei dem Senat erübrigt, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll). [X.] in [X.]/Gosch, FGO § 11 Rz 14 sieht es als sachgerecht an, dass der vorrangig für eine Rechtsfrage zuständige Fachsenat in der Rechtsfortbildung frei ist, ohne nach § 11 Abs. 3 FGO zur Vorlage verpflichtet zu sein.

Die Autoren zu den § 11 FGO inhaltsgleichen Vorschriften der Verwaltungsgerichtsordnung --VwGO-- (§ 11), des Arbeitsgerichtsgesetzes --ArbGG-- (§ 45), des Sozialgerichtsgesetzes --[X.]-- (§ 41) und des Gerichtsverfassungsgesetzes --[X.]-- (§ 132) vertreten --soweit sie sich mit dieser Fragestellung befassen-- übereinstimmend die Auffassung, die Divergenzlage entfalle nur dann, wenn der früher zuständige Senat mit der in Rede stehenden Rechtsfrage nicht mehr befasst werden könne ([X.], in: [X.]/[X.], VwGO, 4. Aufl., § 11 Rz 37; Pietzner in [X.]/[X.]/Bier, VwGO § 11 Rz 27; [X.] in [X.]/[X.], 2. Aufl., § 45 ArbGG Rz 20; [X.] in [X.], [X.], 4. Aufl., § 41 Rz 7; [X.] in [X.]/[X.]/ [X.], 11. Aufl., § 41 [X.] Rz 11; [X.]/[X.]/[X.], [X.], Bd. 1, 4. Aufl., § 41 [X.] Rz 22; [X.]/[X.], [X.], § 132 Rz 17).

IV. Auffassung des Großen Senats

1. [X.] teilt nicht die Auffassung des vorlegenden Senats.

a) § 11 Abs. 3 Satz 2 FGO setzt voraus, dass der andere Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, "wegen einer Änderung des Geschäftsverteilungsplanes mit der Rechtsfrage nicht mehr befasst werden [kann]". Dies erfordert bei grammatikalischer Auslegung einen vollständigen Zuständigkeitsverlust des anderen Senats und damit die Unmöglichkeit einer nochmaligen Befassung dieses Senats mit der streitigen Rechtsfrage.

b) Dass § 11 Abs. 3 Satz 2 FGO in Bezug auf seine Voraussetzungen und Rechtsfolgen als "nicht homogen" (vgl. [X.] in [X.], § 11 FGO Rz 60) anzusehen sein könnte, rechtfertigt keine vom Wortlaut der Vorschrift abweichende Auslegung. An den Gründen, die den [X.] bewogen haben, für das Absehen vom Erfordernis einer Anfrage bei einem anderen Senat auf einen vollständigen und nicht nur auf einen schwerpunktmäßigen Zuständigkeitswechsel abzustellen, ist vielmehr unter der Geltung des § 11 FGO n.F. ebenfalls festzuhalten.

Auch nach der Neuregelung wäre es "sinnwidrig", einen erkennenden Senat über die Verbindlichkeit der von einem anderen Senat vertretenen Rechtsauffassung entscheiden zu lassen, wenn der bisher für ein bestimmtes Sachgebiet zuständige Senat trotz der Änderung der Geschäftsverteilung aufgrund seiner nunmehr bestehenden Zuständigkeit gleichwohl jederzeit in die Lage kommen kann, die strittige Rechtsfrage erneut entscheiden zu müssen (vgl. [X.]-Beschlüsse in [X.], 147, [X.] 1986, 207, unter [X.], und in [X.], 556, [X.] 1989, 164, unter [X.]). Gleiches gilt für die Annahme, dass der andere Senat bei einer Entscheidung über die Rechtsfrage seinerseits den [X.] anrufen müsse, um seiner ursprünglichen Rechtsansicht Geltung zu verschaffen (vgl. [X.]-Beschlüsse in [X.], 147, [X.] 1986, 207, unter [X.], und in [X.], 556, [X.] 1989, 164, unter [X.]).

c) Zu berücksichtigen ist, dass die Einrichtung der [X.]e bei allen obersten Bundesgerichten vor allem der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung dient (vgl. z.B. [X.], in: [X.]/[X.], a.a.[X.], § 11 Rz 9; Pietzner in [X.]/[X.]/Bier, a.a.[X.], § 11 Rz 14, und [X.]/[X.], a.a.[X.], § 132 Rz 1). Sie herzustellen und zu bewahren ist speziell Aufgabe der obersten Bundesgerichte und durch das im Gleichheitsgrundsatz wurzelnde Postulat der Rechtsanwendungsgleichheit auch verfassungsrechtlich geboten (Pietzner in [X.]/[X.]/Bier, a.a.[X.], § 11 Rz 14). Die Einheitlichkeit der Rechtsprechung ist ein Gebot der Rechtssicherheit und damit des Rechtsstaatsprinzips ([X.]/[X.], a.a.O, § 132 Rz 1).

Die Divergenzvorlage soll die Einheitlichkeit der Rechtsprechung nicht nur innerhalb des [X.], sondern in der gesamten Finanzgerichtsbarkeit sichern und so auseinanderdriftendes Recht möglichst verhindern (vgl. hierzu Pietzner in [X.]/ [X.]/Bier, a.a.[X.], § 11 Rz 14). Die Divergenzvorlage erreicht dies, indem sie Meinungsverschiedenheiten zwischen den einzelnen Senaten des [X.] dem [X.] zur Entscheidung bringt und damit auf [X.] zum Ausgleich und zur Koordination bringt (Pietzner in [X.]/ [X.]/Bier, a.a.[X.], § 11 Rz 4). Dementsprechend entfällt eine Vorlagepflicht wegen Divergenz nur, wenn für die Zukunft die Gefahr divergierender Entscheidungen auszuschließen ist (vgl. Beschluss des [X.]s des [X.] in [X.]E 58, 183, unter 2.).

Im Fall der Änderung eines Geschäftsverteilungsplanes setzt dies voraus, dass der früher zuständige Senat mit der in Rede stehenden Rechtsfrage nicht mehr befasst werden kann. Hiervon ist nur dann auszugehen, wenn der abweichungswillige Senat die Zuständigkeit für das Sachgebiet, aus dem die frühere Entscheidung stammt, vollständig übernommen hat ([X.], in: [X.]/[X.], a.a.[X.], § 11 Rz 37), so dass er aufgrund des Wechsels der Geschäftsverteilung für die zu entscheidende Rechtsfrage allein zuständig geworden ist ([X.] in [X.]/[X.], a.a.[X.], § 45 ArbGG Rz 20; [X.] in [X.], a.a.[X.], § 41 Rz 7, und [X.]/[X.], a.a.[X.], § 132 Rz 17).

d) Die Pflicht zur Anfrage gemäß § 11 Abs. 3 FGO bleibt im Übrigen auch dann bestehen, wenn ein erkennender Senat bereits in der Vergangenheit von der Rechtsprechung eines anderen Senats bewusst oder unbewusst abgewichen ist.

2. Für ein Festhalten an der bisherigen Rechtsprechung des [X.]s sprechen auch die Änderungen in § 11 FGO im Vergleich zu der zuvor bestehenden Rechtslage.

§ 11 FGO a.F. enthielt keine eigenständige Regelung zum Anfrageverfahren. Vielmehr bestimmte nur § 2 Abs. 2 Satz 2 GeschO[X.] 1971, dass anderer [X.] ist, auf den die Zuständigkeit für die Streitfrage übergegangen ist, wenn "sich die Geschäftsverteilung geändert [hat]".

Während es somit nach alter Rechtslage möglicherweise statthaft gewesen wäre, auf eine Anfrage bei einem anderen Senat nach Änderung der Geschäftsverteilung --entsprechend der Rechtsauffassung des vorlegenden [X.] zu verzichten, ist dies nach dem Wortlaut der Neuregelung in § 11 Abs. 3 Satz 2 FGO ausgeschlossen.

3. Die vom vorlegenden Senat gegen die Beibehaltung der bisherigen Rechtsprechung geäußerten Bedenken greifen nicht durch.

§ 11 Abs. 3 Satz 2 FGO ist nicht mehrdeutig. Im Übrigen besteht die Gefahr einander widerstreitender Entscheidungen auch, wenn der bisher allgemein für eine Rechtsfrage zuständige Senat nur noch gelegentlich in die Lage kommen kann, über die Rechtsfrage zu entscheiden. Die Zuweisung eines Rechtsgebiets an einen bestimmten Senat überträgt diesem die Rechtsfortbildung hierfür nur in den Grenzen des § 11 FGO. Das Spannungsverhältnis, das zwischen Rechtsfortbildung und Einheitlichkeit der Rechtsprechung bestehen kann, ist nach Maßgabe des § 11 FGO aufzulösen. Dass sich hieraus ein Vorrang der Einheitlichkeit der Rechtsprechung gemäß den Voraussetzungen dieser Vorschrift ergibt, beruht auf einer gesetzgeberischen Entscheidung, die von der Rechtsprechung zu beachten und auch im Fall des Übergangs einer "primären" Zuständigkeit angemessen ist.

Die Überlegungen des vorlegenden Senats zu einer Abweichungsanfrage eines dritten Senats greifen schon deshalb nicht durch, weil die Voraussetzungen für einen Zuständigkeitsübergang in Bezug auf den anzufragenden Senat nach § 11 Abs. 3 Satz 2 FGO nicht vorliegen. Für die Erwartung, dass ein Senat, der sich nur gelegentlich mit der Materie eines anderen Senats befassen müsse, in aller Regel der Rechtsprechung dieses Senats folgen werde, besteht schließlich keine hinreichende Grundlage, wie auch der Ausgangsfall in diesem Verfahren zeigt.

C. Entscheidung der Vorlagefrage

[X.] beantwortet die ihm vorgelegte Frage wie folgt:

Ein Senat des [X.], der von einer Entscheidung eines anderen Senats abweichen will, hat auch dann bei diesem Senat nach § 11 Abs. 3 FGO anzufragen und für den Fall, dass dieser an seiner Rechtsauffassung festhält, den [X.] anzurufen, wenn der erkennende Senat zwar nach dem Geschäftsverteilungsplan für die Rechtsfrage zuständig geworden ist, der andere Senat aber weiterhin mit der Rechtsfrage befasst werden kann.

Meta

GrS 1/13

09.10.2014

Bundesfinanzhof Großer Senat

Beschluss

vorgehend BFH, 18. April 2013, Az: VI R 60/11, Vorlagebeschluss

§ 11 Abs 2 FGO, § 11 Abs 3 FGO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 09.10.2014, Az. GrS 1/13 (REWIS RS 2014, 2317)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 2317


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. GrS 1/13

Bundesfinanzhof, GrS 1/13, 09.10.2014.


Az. VI R 60/11

Bundesfinanzhof, VI R 60/11, 10.03.2015.

Bundesfinanzhof, VI R 60/11, 18.04.2013.


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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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