Bundesfinanzhof, Beschluss vom 28.06.2022, Az. II B 94/21

2. Senat | REWIS RS 2022, 3649

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Rechtliches Gehör: wiederholende Schriftsätze; Sachdienlichkeit der Antragstellung


Leitsatz

1. NV: Die unterlassene Übermittlung eines wiederholenden Schriftsatzes stellt regelmäßig keine Verletzung rechtlichen Gehörs dar.

2. NV: Ein Antrag ist im Allgemeinen sachdienlich, wenn er dem Gericht ermöglicht, über das sachliche Anliegen des Klägers zu entscheiden.

Tenor

Die Beschwerde der Kläger wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des [X.] vom 22.09.2021 - 14 K 14128/19 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens haben die Kläger zu tragen.

Tatbestand

I.

1

Die Kläger und Beschwerdeführer (Klägerin und Kläger) sind Miterben nach ihrem 2015 verstorbenen, im Zeitpunkt seines Todes unter Betreuung stehenden Bruder. Der Bruder war neben weiteren Familienangehörigen Miterbe nach seinem im Jahre 1945 verstorbenen Vater. Der Beklagte und Beschwerdegegner (Finanzamt --[X.]--) setzte gegenüber beiden Klägern Erbschaftsteuer fest und berücksichtigte dabei jeweils Verbindlichkeiten aus einer Ausgleichsverpflichtung des [X.] gegenüber der Erbengemeinschaft nach dem Vater. Deren Höhe ist zwischen den Beteiligten streitig.

2

Mit Schreiben vom 28.12.2018 ersuchte das [X.] das für den Bruder zuständige Betreuungsgericht (Amtsgericht --AG--) um Übersendung aller dessen Vermögensverhältnisse betreffenden Vorgänge, hilfsweise die Überlassung der Betreuungsakte, um die Nachlassverbindlichkeit zu prüfen. Unterlagen, die das Persönlichkeitsrecht des Verstorbenen oder innerfamiliäre Angelegenheiten beträfen, benötige es nicht.

3

Die Kläger legten gegen das Auskunftsersuchen Einspruch ein. Das AG teilte dem [X.] mit, eine Aussonderung der tatsächlich erforderlichen Aktenbestandteile sei nicht möglich, da sich nahezu der gesamte Akteninhalt auf das [X.] beziehe. Mit Einspruchsentscheidung vom [X.] wies das [X.] den Einspruch (nur) der Klägerin zurück. In der Einspruchsentscheidung heißt es u.a.:

"Die Übersendung der erbetenen Unterlagen stellt auch keine Überforderung des AG dar, wie die Einspruchsführerin dem Schreiben des [X.] zu entnehmen meint. Wenn sich - wie das AG ausführt - 'nahezu der gesamte Akteninhalt' mit dem Thema Erbauseinandersetzung/Ausgleichsforderung befasst, dürfte es kein Problem sein, die Aktenteile, die z.B. Gesundheitszustand des [[X.]] oder Pflegeheimfragen betreffen, auszusondern. ... "

4

Die Kläger erhoben Anfechtungsklage, der sie die Einspruchsentscheidung beifügten. Vor Eingang einer Klagebegründung erwiderte das [X.] auf die Klage durch Verweisung auf die Einspruchsentscheidung. Nach Eingang der Klagebegründung, mit der die Kläger ankündigten, dass die Klägerin die Aufhebung der Einspruchsentscheidung, der Kläger die Aussetzung des Verfahrens bis zum Erlass einer Einspruchsentscheidung beantragen werde, nahm das [X.] mit einem Schriftsatz vom 30.08.2021 zur Sache Stellung. Darin hieß es u.a.:

"Wenn sich - ausweislich der Angabe des Amtsgerichts […] - der Akteninhalt nahezu vollständig auf die Erbauseinandersetzung bezieht, dürfte es unproblematisch sein, etwaige, die Persönlichkeit des Erblassers oder Angaben zu seinen gesundheitlichen Einschränkungen betreffende Aktenstücke auszusondern, sofern sich diese nicht ohnehin in getrennten Aktenstücken befinden."

5

Das Finanzgericht ([X.]) übersandte diesen Schriftsatz ausweislich des Absendevermerks am 09.09.2021 dem Prozessbevollmächtigten der Kläger an dessen ihm zum damaligen Zeitpunkt bekannte Anschrift. Kurz danach erfuhr es von der neuen Kanzleianschrift seit dem 06.09.2021.

6

Am 22.09.2021 führte das [X.] die mündliche Verhandlung in Anwesenheit des Prozessbevollmächtigten durch. Das [X.] erklärte erneut, es sei mit einer Filterung der Gesundheitsdaten einverstanden, während der Prozessbevollmächtigte bekundete, er könne nicht übersehen, ob das möglich sei. Beide Kläger beantragten, das [X.] zu verpflichten, das Amtshilfeersuchen an das AG zurückzunehmen.

7

Das [X.] wies die Klagen ab. Beide Klagen seien zulässig, diejenige des [X.] ohne Vorverfahren, da das Amtshilfeersuchen kein Verwaltungsakt sei, diejenige der Klägerin trotz rechtswidriger Einspruchsentscheidung, da ihr dies die Leistungsklage nicht nehme. In der Sache sei das Amtshilfeersuchen zur Sachaufklärung gerechtfertigt. In den schriftlichen Gründen führte das [X.] u.a. aus, das [X.] habe ausdrücklich erklärt, keine Gesundheitsdaten zu benötigen.

8

Einen Tatbestandsberichtigungsantrag mit verschiedenen Berichtigungsbegehren vom 01.11.2021 hat das [X.] mit Beschluss vom 15.12.2021 zurückgewiesen. Darin hat es u.a. ausgeführt, dem Prozessbevollmächtigten sei der per Fax übermittelte Schriftsatz des [X.] vom 30.08.2021 bereits am [X.] per Post übersandt worden.

9

Mit ihrer Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision rügen die Kläger einen Verfahrensmangel i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) in Gestalt einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes i.V.m. § 119 Nr. 3 [X.]O. Zum einen sei durch die unterlassene Übersendung der Stellungnahme des [X.] vom 30.08.2021 § 96 Abs. 2 [X.]O verletzt. Hätten sie --die [X.] rechtzeitig von der darin enthaltenen Behauptung erfahren, nicht benötigte Aktenstücke könnten unproblematisch ausgesondert werden, hätten sie dazu Beweisantrag gestellt, zumal das AG zuvor gerade das Gegenteil erklärt habe. Zum anderen habe das [X.] in der mündlichen Verhandlung unter Verletzung seiner Hinweispflicht aus § 76 Abs. 2 [X.]O auf einen ungünstigen, nämlich zur Klageabweisung führenden Antrag hingewirkt. Hätte es stattdessen auf die Rechtswidrigkeit der Einspruchsentscheidung hingewiesen, hätte die Klägerin den Antrag nicht umgestellt, so dass der Klage stattzugeben gewesen wäre. Offenbar habe das [X.] unter Verstoß gegen seine Pflicht zur Unparteilichkeit unbedingt die Akteneinsicht gewähren wollen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Beschwerde ist unbegründet. Die gerügten Verfahrensmängel liegen nicht vor.

1. Soweit die Kläger den Schriftsatz vom 30.08.2021 nicht vor der mündlichen Verhandlung zur Kenntnis erhalten haben, begründet dies keine Verletzung rechtlichen Gehörs.

a) Nach § 96 Abs. 2 [X.]O darf das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten. Es besteht ein umfassender Anspruch, über den gesamten [X.] kommentarlos und ohne Einschränkungen unterrichtet zu werden. Das [X.] ist verpflichtet, entscheidungserhebliche Fakten und Unterlagen nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern diese auch nach § 77 Abs. 1 Satz 4 [X.]O dem jeweils anderen Beteiligten von Amts wegen zur Kenntnis zu geben. Die unterlassene Übersendung oder ggf. Übergabe eines entsprechenden Schriftsatzes in der mündlichen Verhandlung verletzt daher grundsätzlich das rechtliche Gehör (Beschluss des [X.] --BFH-- vom 08.05.2017 - X B 150/16, [X.], 1185, Rz 14 f., m.w.N.). Das setzt allerdings voraus, dass dieser Schriftsatz für die Entscheidung des [X.] erheblich gewesen sein kann ([X.] vom 15.02.2012 - IV B 126/10, [X.], 774, Rz 14, und in [X.], 1185, Rz 15). Die Kausalitätsvermutung des § 119 [X.]O ist nach ständiger Rechtsprechung auf diejenigen Fälle beschränkt, in denen sich die Verletzung rechtlichen Gehörs auf das Gesamtergebnis des Verfahrens bezieht. Betrifft sie nur einzelne Feststellungen oder rechtliche Gesichtspunkte, hat der Beschwerdeführer darzulegen, was er im Falle der Gewährung rechtlichen Gehörs noch vorgetragen hätte und inwiefern bei Berücksichtigung dieses Vorbringens eine andere Entscheidung möglich gewesen wäre (vgl. [X.] vom 10.10.1994 - VI B 139/93, [X.] 1995, 326, und in [X.], 1185, Rz 17, m.w.N.). Wiederholt ein Schriftsatz nur bisheriges Vorbringen, begründet deshalb die unterlassene Übermittlung regelmäßig keine Gehörsverletzung mehr (vgl. [X.] vom 19.11.2003 - I R 41/02, [X.] 2004, 604, unter II.2.).

b) Zwar hat nach Aktenlage der Schriftsatz vom 30.08.2021 den Prozessbevollmächtigten der Kläger bis zur mündlichen Verhandlung tatsächlich nicht erreicht. Die beanstandete Passage des Schriftsatzes vom 30.08.2021 war jedoch wiederholendes Vorbringen, das bereits in der Einspruchsentscheidung gegenüber der Klägerin enthalten war. Die Einspruchsentscheidung hatte das [X.] durch Bezugnahme bereits zum Gegenstand seiner Klageerwiderung gemacht. Soweit die Einspruchsentscheidung nur gegenüber der Klägerin, nicht aber gegenüber dem Kläger, ergangen war, ist das ebenfalls unerheblich, weil der gemeinsame Prozessbevollmächtigte sie angesichts der Anlage zur Klageschrift nachweislich kannte. Diese Kenntnis ist dem Kläger zuzurechnen. Inhaltlich unterscheiden sich die Einspruchsentscheidung und der Schriftsatz vom 30.08.2021 in dem streitigen Punkt nicht. In der Einspruchsentscheidung heißt es, es "dürfte ... kein Problem sein, die Aktenteile, die z.B. Gesundheitszustand ... betreffen, auszusondern", in dem Schriftsatz, "dürfte ... unproblematisch sein, etwaige, ... Angaben zu seinen gesundheitlichen Einschränkungen betreffende Aktenstücke auszusondern". Auf die Frage, ob auch die Einlassung des [X.] in der mündlichen Verhandlung inhaltlich dieser Aussage entsprach, kommt es deshalb nicht mehr an.

2. Es kann dahinstehen, ob die Kläger mit dem Vorhalt, das [X.] habe trotz gegenteiliger Angabe des AG einfach die Annahme des [X.] zu der [X.] übernommen, eine gesonderte Verfahrensrüge erheben wollen. Diese wäre ungeachtet der [X.] nach § 116 Abs. 3 Satz 3 [X.]O jedenfalls unbegründet.

Insbesondere liegt kein Verstoß gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 [X.]O vor. Das [X.] hat es nicht mit dem [X.] für feststehend gehalten, dass die Akten tatsächlich gefiltert werden könnten. Das [X.] hat die gegenteilige Aussage des AG im Tatbestand zitiert; sie war ihm also bewusst. Das Urteil ist daher nur so zu verstehen, dass das [X.] die Rechtsauffassung vertritt, etwaige Schwierigkeiten bei der Aussonderung führten zu einem Anspruch des [X.] auf Einsicht in die gesamte Akte. Auf Grundlage dieser Rechtsauffassung war die Frage, ob tatsächlich eine [X.] bestand, für die Entscheidung unerheblich. Dann bedurfte es dazu auch keiner weiteren Sachaufklärung, so dass auch ein Verstoß gegen § 76 Abs. 1 Satz 1 [X.]O nicht vorliegt.

3. Das [X.] hat auch nicht gegen seine Hinweispflicht aus § 76 Abs. 2 [X.]O verstoßen, indem es auf einen ungünstigen, nämlich zur Klageabweisung führenden Antrag der Klägerin hingewirkt haben soll.

a) Es kann dahinstehen, ob die Klägerin mit dieser Rüge bereits aus formellen Gründen ausgeschlossen ist, weil sich die behaupteten Hinweise nicht aus dem Protokoll ergeben. Nach § 94 [X.]O i.V.m. § 160 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) sind die wesentlichen Vorgänge der Verhandlung in das Protokoll aufzunehmen. Die Beachtung der für die Verhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten kann nach § 94 [X.]O i.V.m. § 165 Satz 1 ZPO nur durch das Protokoll bewiesen werden. Die Reichweite der negativen Beweiskraft hängt mithin davon ab, ob die Erteilung von Hinweisen hinsichtlich der Antragstellung auch gegenüber dem fachkundigen Vertreter der Klägerin als wesentlicher Vorgang nach § 160 Abs. 2 ZPO zu werten ist (zum Hinweis gegenüber dem nicht vertretenen und selbst nicht fachkundigen Kläger [X.] vom 25.11.2014 - X B 98/14, [X.] 2015, 504, Rz 11). Einen Antrag auf Protokollberichtigung nach § 94 [X.]O i.V.m. § 164 ZPO hat die Klägerin nicht gestellt.

b) Anders als die Klägerin meint, hätte das [X.] mit einem derartigen Hinweis seine Hinweispflicht nicht verletzt, sondern gerade erfüllt. Nach § 76 Abs. 2 [X.]O hat der Vorsitzende darauf hinzuwirken, dass sachdienliche Anträge gestellt werden. Sachdienlich und im Zweifel gewollt ist, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage entspricht. Allerdings darf das Gericht nicht über das Klagebegehren hinausgehen (vgl. BFH-Urteil vom 18.09.2019 - II R 15/16, [X.] 266, 57, [X.] 2021, 64, Rz 18). "Sach"-dienlich ist nur derjenige Antrag, der dem Gericht ermöglicht, über das sachliche Anliegen des [X.] zu entscheiden. Nicht maßgebend ist, welchen Inhalt die später ergehende Entscheidung hat. In der Sache begehrte die Klägerin die Beseitigung des [X.]. Das hätte sie mit der Aufhebung der Einspruchsentscheidung nicht erreicht. Sie hätte dafür einen weiteren Prozess anstrengen müssen, der sich auch hinsichtlich des [X.] nicht von dem vorliegenden Prozess unterschieden hätte.

c) Die Behauptung, der Hinweis zeuge von Parteilichkeit, weil das [X.] unbedingt die Akteneinsicht habe ermöglichen wollen, berührt die Sachdienlichkeit eines etwaigen Hinweises nicht und lässt im Übrigen keine konkrete Zulassungsrüge erkennen.

4. [X.] folgt aus § 135 Abs. 2 [X.]O.

5. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat nach § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 [X.]O ab.

Meta

II B 94/21

28.06.2022

Bundesfinanzhof 2. Senat

Beschluss

vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg, 22. September 2021, Az: 14 K 14128/19, Urteil

§ 76 Abs 2 FGO, § 77 Abs 1 S 4 FGO, § 94 FGO, § 96 Abs 1 S 1 FGO, § 96 Abs 1 S 2 FGO, § 96 Abs 2 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 119 FGO, § 160 ZPO, § 164 ZPO, § 165 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 28.06.2022, Az. II B 94/21 (REWIS RS 2022, 3649)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 3649

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

VI B 5/22 (Bundesfinanzhof)

Keine Verletzung des rechtlichen Gehörs bei der Zurückweisung präkludierten Vorbringens


I R 97/15 (Bundesfinanzhof)

Ausländisches Amtshilfeersuchen


XI B 129/17 (Bundesfinanzhof)

Isolierte Anfechtung der Einspruchsentscheidung nur ausnahmsweise zulässig - Innenausgleich bei umsatzsteuerrechtlicher Organschaft


V B 57/18 (Bundesfinanzhof)

Verfahrensfehler, Grundordnung des Verfahrens, Gewährung rechtlichen Gehörs


XI B 107/16 (Bundesfinanzhof)

Auslegung von Verwaltungsakten - Inhalt einer Rechtsbehelfsbelehrung


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.