Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 10.08.2017, Az. 1 BvR 1504/16

1. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2017, 6711

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Parallelentscheidung


Tenor

1. Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

2. Die [X.] hat den Beschwerdeführenden ein Drittel ihrer notwendigen Auslagen aus dem Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

3. Der Gegenstandswert der Verfassungsbeschwerde wird auf 500.000 € (in Worten: fünfhunderttausend [X.]) festgesetzt.

Gründe

1

Bei den Beschwerdeführenden handelt es sich um eine [X.] und vier ihrer Mitglieder, die sich wie andere [X.]en und [X.]smitglieder auch gegen das Gesetz zur Tarifeinheit vom 3. Juli 2015 ([X.], [X.]) wenden.

2

1. Die Beschwerdeführerin zu 1) gehört dem Christlichen [X.]sbund an. Ihr Organisationsbereich erstreckt sich bundesweit auf die Bereiche der metallerzeugenden und metallverarbeitenden Industrie, des Metallhandwerks, der Elektroindustrie sowie der sonstigen [X.]. Sie ist tariffähig. Zu ihren satzungsmäßigen Aufgaben gehört der Abschluss von Tarifverträgen zur Regelung gerechter Entgelte und sonstiger Arbeitsbedingungen sowie der Mitarbeiterbeteiligung. Die Mitgliedschaft bei der Beschwerdeführerin zu 1) ist ohne Rücksicht auf die konfessionelle Bindung möglich. Als bundesweit agierende Branchengewerkschaft konkurriert sie mit der [X.] Metall.

3

Die Beschwerdeführenden zu 2) bis 5) sind Mitglieder der Beschwerdeführerin zu 1). Sie unterfallen verschiedenen von der Beschwerdeführerin zu 1) abgeschlossenen Tarifverträgen.

4

2. Die Verfassungsbeschwerde wendet sich gegen § 4a Abs. 1 und Abs. 2 [X.] sowie gegen die Verfahrensregeln der § 2a Abs. 1 Nr. 6, § 58 Abs. 3 und § 99 ArbGG in der Fassung von Art. 1 und Art. 2 des [X.] vom 3. Juli 2015 ([X.]). Die Beschwerdeführenden machen eine Verletzung von Art. 9 Abs. 3 und Art. 3 Abs. 1 GG geltend. Sie teilen im Wesentlichen die in den mit Urteil vom 11. Juli 2017 - 1 BvR 1571/15 u.a. -, [X.], entschiedenen Verfassungsbeschwerden vorgebrachten verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die angegriffenen Regelungen.

5

a) Die Beschwerdeführende zu 1) verweist insbesondere darauf, im Verhältnis zur [X.] regelmäßig die mitgliederschwächere [X.] zu sein. Unter der Geltung des [X.]es sei es daher sehr wahrscheinlich, dass die von ihr abgeschlossenen Tarifverträge verdrängt würden. Dies beeinträchtige auch die Rechte der Beschwerdeführenden zu 2) bis 5), weil für sie gerade solche Tarifverträge Anwendung fänden, die der Verdrängungswirkung der Kollisionsregelung des § 4a Abs. 2 Satz 2 [X.] unterfielen.

6

b) Die Tarifautonomie entfalte vor allem eine Schutzfunktion zu Gunsten der Beschäftigten. Zudem habe Art. 9 Abs. 3 GG eine Funktion als Kollektivgrundrecht, denn es schütze das Recht der Koalitionen auf koalitionsspezifische Betätigung. Die wesentliche Form sei der Abschluss von Tarifverträgen. Da Art. 9 Abs. 3 GG die Koalitionsbetätigung für alle konkurrierenden [X.]en gleichermaßen schütze, werde ein pluralistisches System der Tarifautonomie gewährleistet. Damit sei die Bevorzugung der einen gegenüber der anderen [X.] nicht vereinbar.

7

c) Die Verdrängung abgeschlossener Tarifverträge sei ein Eingriff in die Rechte aus Art. 9 Abs. 3 GG. Die individuelle Koalitionsfreiheit sei beeinträchtigt. Das Nachzeichnungsrecht zum Tarifvertrag einer anderen [X.] gleiche den Verlust des eigenen Tarifvertrages nicht aus, sondern sei mangels mitgliedschaftlicher Legitimation selbst ein Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit.

8

d) Die Eingriffe seien nicht zu rechtfertigen.

9

Es fehle bereits ein legitimer Regelungszweck. Die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie rechtfertige die Regelungen nicht, denn sonst würde die Tarifautonomie einer [X.] höher gewichtet als die einer anderen [X.]. Das sei mit dem Grundprinzip des Koalitionspluralismus nicht zu vereinbaren. Eine Schutzfunktion habe der Tarifvertrag nur im Verhältnis von Branchengewerkschaften zu Berufsgruppengewerkschaften desselben Wirtschaftszweiges. Das Gesetz wirke sich aber auch auf kleine Branchengewerkschaften aus, die im Verhältnis zu anderen Branchengewerkschaften desselben Wirtschaftszweiges in der Minderheit seien. Ein legitimes Ziel sei insoweit nicht erkennbar. Die Ordnung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sei Folge, nicht aber Zweck der Tarifautonomie. Der Schutz der Befriedungsfunktion des Tarifvertrages, die durch eine Vielzahl von Forderungen verschiedener [X.]en an denselben Arbeitgeber gefährdet sei, trage nicht, denn diese Erschwernis für Arbeitgeber sei dem Koalitionspluralismus immanent. Im Übrigen genüge eine auf notwendig einheitliche Normen beschränkte Kollisionsregel.

Die Kollisionsregel des § 4a Abs. 2 Satz 2 [X.] sei zur Zielerreichung auch nicht geeignet, da mit der Anknüpfung an den Betrieb erhebliche Unsicherheiten verbunden seien. Die Ermittlung der Mehrheitsverhältnisse sei insbesondere mit der Einschaltung von Beurkundungspersonen problematisch.

e) Die Kollisionsregel des § 4a Abs. 2 Satz 2 [X.] verstoße gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz. Das in Art. 9 Abs. 3 GG angelegte System des Koalitionspluralismus verbiete eine Benachteiligung einer [X.] zu Gunsten einer anderen; insofern sei die Koalitionsfreiheit eine besondere Ausprägung des allgemeinen Gleichheitsgebots aus Art. 3 Abs. 1 GG. Die angegriffene Regelung des § 4a Abs. 2 Satz 2 [X.] bewirke eine Ungleichbehandlung, die durch die unterschiedliche Anzahl der Mitglieder nicht zu rechtfertigen sei. Es werde verkannt, dass es sich bei Mehrheits- und Minderheitsgewerkschaft um tariffähige Koalitionen handle. Unterschiede in der Mitgliederzahl in einem Betrieb könnten nicht das Recht einer Koalition beseitigen, Tarifverträge abzuschließen. Die doppelte Hürde aus Tariffähigkeit und Mehrheitsprinzip sei sowohl mit Blick auf Art. 9 Abs. 3 GG als auch auf Art. 3 Abs. 1 GG nicht vereinbar.

3. Zu der Verfassungsbeschwerde gegen das [X.] haben - im Rahmen einer gemeinsamen Zustellung mit den mit Urteil vom 11. Juli 2017 auf die mündliche Verhandlung vom 24. und 25. Januar 2017 entschiedenen Verfahren 1 BvR 1571/15 u.a., [X.], Stellung genommen die Bundesregierung, die Präsidentin des [X.], der Bund der [X.]innen und [X.] der Arbeitsgerichtsbarkeit ([X.]), die [X.] ([X.]K) und die [X.], von Arbeitnehmerseite der Deutsche [X.]sbund ([X.]), die [X.] ([X.]) und der Verband angestellter Akademiker und leitender Angestellter der chemischen Industrie ([X.]), aus Sicht der Arbeitgeberseite die [X.] ([X.]) gemeinsam mit dem [X.] (AGVL), die [X.] ([X.]), der [X.] ([X.]), der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverband der [X.] ([X.]) für die [X.] und der [X.] ([X.]), und aus Sicht der Forschung das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI).

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen (§ 93a Abs. 2 [X.]). Sie ist unzulässig.

1. Soweit die Kollisionsnorm des § 4a Abs. 2 [X.] und die darauf bezogenen Regelungen in § 4a Abs. 3 bis 5 [X.] und die begleitenden Regelungen zum Beschlussverfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 6, § 99 ArbGG als Annex zur Kollisionsnorm Beschwerdegegenstand der Verfassungsbeschwerde sind, besteht kein Rechtsschutzbedürfnis mehr. Daran fehlt es hier, weil das [X.] die mit der Verfassungsbeschwerde angestrebte verfassungsrechtliche Überprüfung des [X.]es mittlerweile im Urteil vom 11. Juli 2017 - 1 BvR 1571/15 u.a. -, [X.], vorgenommen hat. Der [X.] hat die Unvereinbarkeit von § 4a des Tarifvertragsgesetzes in der Fassung des [X.] vom 3. Juli 2015 ([X.]) mit Art. 9 Abs. 3 GG insoweit festgestellt, als es an Vorkehrungen fehlt, die sicherstellen, dass die Interessen der Berufsgruppen, deren Tarifvertrag nach § 4a Abs. 2 Satz 2 des Tarifvertragsgesetzes verdrängt wird, im verdrängenden Tarifvertrag hinreichend berücksichtigt werden. Im Übrigen hat das [X.] die angegriffenen Regelungen des [X.]es mit konkreten Maßgaben für die Auslegung und Handhabung der einfachgesetzlichen Regelungen als verfassungsgemäß erachtet. Diese Entscheidung hat Gesetzeskraft (§ 31 Abs. 2 Satz 2 [X.]).

Für eine auf denselben Gegenstand zielende verfassungsgerichtliche Entscheidung über die im Wesentlichen inhaltsgleichen [X.] besteht daher kein Bedürfnis mehr. Die Beschwerdeführerin hat keine verfassungsrechtlichen Fragen aufgeworfen, die in ihrem materiellen Gehalt über die im Urteil geprüften Einwände gegen das Gesetz hinausgehen.

2. Unzulässig ist die Verfassungsbeschwerde auch, soweit sie sich ausdrücklich gegen die beweisrechtliche Regelung des § 58 Abs. 3 ArbGG wendet. Es fehlt insoweit an der Beschwerdebefugnis, denn die Regelung bedeutet für sich genommen keine Beeinträchtigung von Grundrechten. Sie bietet lediglich eine Möglichkeit, den Nachweis über die betrieblichen Mehrheitsverhältnisse zu führen, und schließt andere Wege der Beweisführung und die Entscheidung nach Maßgabe der Darlegungs- und Beweislasten nicht aus.

Mit Blick auf die erhebliche subjektive und objektive Bedeutung der Verfassungsbeschwerde ([X.] 79, 365 <366 ff.>) wird unter Berücksichtigung der in § 14 Abs. 1 [X.] genannten Umstände nach billigem Ermessen (§ 37 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 [X.]) ein Gegenstandswert von 500.000 € festgesetzt (ebenso [X.], Urteil vom 11. Juli 2017 - 1 BvR 1571/15 u.a. -, [X.], Rn. 219).

Die Auslagenentscheidung beruht auf § 34a Abs. 3 [X.]. Die teilweise Erstattung der Auslagen an die [X.] entspricht der Billigkeit, da die maßgeblichen Rechtsfragen im Zeitpunkt der Erhebung der Verfassungsbeschwerde nicht geklärt waren und diese, wie aus dem Urteil vom 11. Juli 2017 ersichtlich, teilweise Aussicht auf Erfolg hatte.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.] abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 1504/16

10.08.2017

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 2. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 10.08.2017, Az. 1 BvR 1504/16 (REWIS RS 2017, 6711)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 6711

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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