Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 10.08.2017, Az. 1 BvR 1454/16

1. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2017, 6683

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Parallelentscheidung


Tenor

1. Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

2. Die [X.] hat der Beschwerdeführerin ein Drittel ihrer notwendigen Auslagen aus dem Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

3. Der Gegenstandswert der Verfassungsbeschwerde wird auf 500.000 € (in Worten: fünfhunderttausend [X.]) festgesetzt.

Gründe

1

Die Beschwerdeführerin ist eine [X.], die sich wie andere [X.]en auch gegen das Gesetz zur Tarifeinheit vom 3. Juli 2015 ([X.], [X.]) wendet.

2

1. Die Beschwerdeführerin ist im Jahr 2003 aus dem Zusammenschluss des [X.] und des [X.] und -ingenieure hervorgegangen. Diese handelten zunächst in einer Tarifgemeinschaft mit der Deutschen Angestellten-[X.] ([X.]), sahen aber, nachdem die [X.] in der [X.] ([X.]) aufgegangen war, ihre berufsspezifischen Interessen dort nicht mehr wirksam vertreten und entschlossen sich zur tarifpolitischen Selbstständigkeit. Die Beschwerdeführerin setzt sich nach § 2 Abs. 3 ihrer Satzung insbesondere für den Abschluss und die Durchsetzung von Tarifverträgen und anderer Vereinbarungen, die Verteidigung des Streikrechts, den Ausbau der [X.] und den Kampf gegen Aussperrungen ein. Ihre Tariffähigkeit war mehrfach Gegenstand arbeitsgerichtlicher Feststellungsverfahren. [X.] schloss die Beschwerdeführerin mit der [X.] einen ersten Tarifvertrag. Sie hat bereits mehrfach Streikmaßnahmen durchgeführt.

3

In Unternehmen der Überwachung und Lenkung von Luftfahrzeugen in der Luft und am Boden vertritt die Beschwerdeführerin nach § 4 Abs. 2 Satz 1 der Satzung die Interessen aller Beschäftigten. Zudem vertritt sie nach § 4 Abs. 2 Satz 2 der Satzung - insoweit als [X.] - die mit Flugsicherungsleistungen betrauten Beschäftigten, also Lotsen, Flugsicherungstechniker und Flugsicherungskräfte, in branchenfremden Unternehmen.

4

2. Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen das [X.]. Sie rügt eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 9 Abs. 3 und Art. 3 Abs. 1 GG. Hierzu hat sie schriftsätzlich umfangreich vorgetragen. Sie teilt im Wesentlichen die verfassungsrechtlichen Bedenken, die auch in den mit Urteil vom 11. Juli 2017 - 1 BvR 1571/15 u.a. -, [X.], entschiedenen Verfassungsbeschwerden vorgebracht worden sind.

5

a) Die Beschwerdeführerin macht insbesondere geltend, das [X.] verletze die Koalitionsautonomie und die negative Freiheit, sich gegen ein [X.] zu entscheiden. Das [X.] erzeuge einen faktischen Zwang zur Kooperation oder zur Erweiterung des [X.]. Es entziehe den Tarifnormen, die [X.] erreicht hätten, den von Art. 9 Abs. 3 GG geschützten [X.]. Das gelte insbesondere für Sonderarbeitsbedingungen, die von der verdrängten [X.] ausgehandelt worden seien, denn auf sie beziehe sich das Nachzeichnungsrecht nicht. Das Gesetz erschwere oder verhindere damit künftige Tarifabschlüsse.

6

Die Koalitionsfreiheit gebe den Koalitionen einen Anspruch auf Gleichbehandlung. Der Staat müsse sich in der Auseinandersetzung von [X.] und Arbeitgeber neutral verhalten. Hiergegen verstoße das [X.]. Es benachteilige [X.]en mit beschränkter Tarifzuständigkeit gegenüber Branchengewerkschaften strukturell, denn diese hätten eine größere Chance auf die nun entscheidende Mehrheit im Betrieb. Es entstehe auch eine strukturelle Ungleichheit gegenüber dem Arbeitgeber, der beeinflussen könne, ob und wie es zu einer Tarifkollision komme.

7

b) Unabhängig davon, ob das [X.] als Ausgestaltung oder Eingriff in Art. 9 Abs. 3 GG einzuordnen sei, müsse es den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit genügen. Daran fehle es.

8

aa) Der Staat dürfe nicht den Zweck verfolgen, Beschäftigte in Schlüsselpositionen zu bewegen, solidarisch mit anderen Beschäftigten zu agieren. Das fördere unter Verletzung seiner Neutralitätspflicht eine bestimmte Organisationsform. Änderungen der Rahmenbedingungen seien nur zu rechtfertigen, wenn es hinreichend konkrete Unzuträglichkeiten der Funktionsfähigkeit des [X.] gebe; hier fehle ein subsumtionsfähiger Störungstatbestand. Es sei kein legitimes Ziel, den tarifpolitischen [X.]swettbewerb zu unterbinden. Auch eine widerspruchsfreie Ordnung der Arbeitsbeziehungen im Betrieb könne nicht gesetzlich erzwungen werden, sondern werde von den Sozial- und Betriebspartnern autonom hergestellt. Eine Verdrängung von Tarifverträgen ließe sich allenfalls rechtfertigen, wenn deren Geltung den [X.] konkret feststellbar störe. Hierfür gebe es keine Belege.

9

bb) Das [X.] sei nicht geeignet, die Funktionen des [X.] im Betrieb zu sichern. Es bedürfe einer stabilen Tarifanwendung; die Kollisionsregel bewirke aber das Gegenteil, weil jede Änderung oder jedes Ende des [X.]s seinen Vorrang beende und erneut die Mehrheit festgestellt werden müsse. Eine Verteilungsgerechtigkeit könne nicht erreicht werden, weil das [X.] die einheitliche Geltung geschlossener Tarifwerke zerstöre. Das Gesetz fordere vom [X.] nichts, weshalb dort Funktionseliten ungehindert [X.] durchsetzen könnten. Es sei auch nicht gesichert, dass mit dem [X.] ein Tarifvertrag zur Anwendung komme, der die gesamte Belegschaft eines Betriebs erfasse. Tarifeinheit werde nicht erreicht, denn auch unter Geltung des [X.]es könnten Tarifnormen eines verdrängten Tarifvertrags zur Anwendung kommen, der arbeitsvertraglich in Bezug genommen werde. [X.] könnten auch unter Geltung des Tarifvertrags einer Mehrheitsgewerkschaft auftreten.

Das [X.] knüpfe mit dem Betrieb an die falsche und an eine manipulierbare Einheit an. Auch Mitgliederzahlen seien beispielsweise durch Begrüßungsgeld oder beitragsfreie Mitgliedschaften manipulierbar. Die notarielle Feststellung der Mehrheit der organisierten Beschäftigten im Betrieb nach § 58 Abs. 3 ArbGG scheitere, weil sie die notwendige Würdigung der Befundtatsache durch das Gericht selbst nicht ersetze.

Das Gesetz sei nicht geeignet, Belastungen durch Arbeitskämpfe zu mindern. Eine Regelung zum Arbeitskampf sei dann das mildere Mittel.

cc) Das [X.] sei aufgrund der [X.], des strukturellen Ungleichgewichts zwischen Branchen- und [X.] und dem ungleich verteilten Verlustrisiko im Kollisionsfall sowie aufgrund der hohen Hürden, die sich daraus für neue Arbeitnehmervereinigungen ergäben, unzumutbar. [X.]en, deren Tarifvertrag einmal verdrängt worden sei, hätten kaum Chancen, Mitglieder zu gewinnen und in einem Betrieb die [X.] einzunehmen. [X.] bleibe nur die Nachzeichnung, die eine Zwangssolidarisierung darstelle. Das Nachzeichnungsrecht kompensiere den [X.] nicht.

3. Zu der Verfassungsbeschwerde gegen das [X.] haben - im Rahmen einer gemeinsamen Zustellung mit den mit Urteil vom 11. Juli 2017 auf die mündliche Verhandlung vom 24. und 25. Januar 2017 entschiedenen Verfahren 1 BvR 1571/15 u.a., [X.], Stellung genommen die Bundesregierung, die Präsidentin des [X.], der Bund der [X.]innen und [X.] der Arbeitsgerichtsbarkeit ([X.]), die [X.] ([X.]K) und die [X.], von Arbeitnehmerseite der Deutsche [X.]sbund ([X.]), die [X.] ([X.]) und der Verband angestellter Akademiker und leitender Angestellter der chemischen Industrie ([X.]), aus Sicht der Arbeitgeberseite die [X.] ([X.]) gemeinsam mit dem [X.] (AGVL), die [X.] ([X.]), der [X.] ([X.]), der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverband der [X.] ([X.]) für die [X.] und der [X.] ([X.]), und aus Sicht der Forschung das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI).

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen (§ 93a Abs. 2 [X.]). Sie ist unzulässig.

1. Soweit die Kollisionsnorm des § 4a Abs. 2 [X.] und die darauf bezogenen Regelungen in § 4a Abs. 3 bis 5 [X.] und die begleitenden Regelungen zum Beschlussverfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 6, § 99 ArbGG als Annex zur Kollisionsnorm Beschwerdegegenstand der Verfassungsbeschwerde sind, besteht kein Rechtsschutzbedürfnis mehr. Daran fehlt es hier, weil das [X.] die mit der Verfassungsbeschwerde angestrebte verfassungsrechtliche Überprüfung des [X.]es mittlerweile im Urteil vom 11. Juli 2017 - 1 BvR 1571/15 u.a. -, [X.], vorgenommen hat. Der [X.] hat die Unvereinbarkeit von § 4a des Tarifvertragsgesetzes in der Fassung des [X.] vom 3. Juli 2015 ([X.]) mit Art. 9 Abs. 3 GG insoweit festgestellt, als es an Vorkehrungen fehlt, die sicherstellen, dass die Interessen der Berufsgruppen, deren Tarifvertrag nach § 4a Abs. 2 Satz 2 des Tarifvertragsgesetzes verdrängt wird, im verdrängenden Tarifvertrag hinreichend berücksichtigt werden. Im Übrigen hat das [X.] die angegriffenen Regelungen des [X.]es mit konkreten Maßgaben für die Auslegung und Handhabung der einfachgesetzlichen Regelungen als verfassungsgemäß erachtet. Diese Entscheidung hat Gesetzeskraft (§ 31 Abs. 2 Satz 2 [X.]).

Für eine auf denselben Gegenstand zielende verfassungsgerichtliche Entscheidung über die im Wesentlichen inhaltsgleichen [X.] besteht daher kein Bedürfnis mehr. Die Beschwerdeführerin hat insoweit keine verfassungsrechtlichen Fragen aufgeworfen, die in ihrem materiellen Gehalt über die im Urteil geprüften Einwände gegen das Gesetz hinausgehen.

2. Unzulässig ist die Verfassungsbeschwerde auch, soweit sie sich ausdrücklich gegen die beweisrechtliche Regelung des § 58 Abs. 3 ArbGG wendet. Es fehlt insoweit an der Beschwerdebefugnis, denn die Regelung bedeutet für sich genommen keine Beeinträchtigung von Grundrechten. Sie bietet lediglich eine Möglichkeit, den Nachweis über die betrieblichen Mehrheitsverhältnisse zu führen, und schließt andere Wege der Beweisführung und die Entscheidung nach Maßgabe der Darlegungs- und Beweislasten nicht aus.

Mit Blick auf die erhebliche subjektive und objektive Bedeutung der Verfassungsbeschwerde ([X.] 79, 365 <366 ff.>) wird unter Berücksichtigung der in § 14 Abs. 1 [X.] genannten Umstände nach billigem Ermessen (§ 37 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 [X.]) ein Gegenstandswert von 500.000 € festgesetzt (ebenso [X.], Urteil vom 11. Juli 2017 - 1 BvR 1571/15 u.a. -, [X.], Rn. 219).

Die Auslagenentscheidung beruht auf § 34a Abs. 3 [X.]. Die teilweise Erstattung der Auslagen an die Beschwerdeführerin entspricht der Billigkeit, da die maßgeblichen Rechtsfragen im Zeitpunkt der Erhebung der Verfassungsbeschwerde nicht geklärt waren und diese, wie aus dem Urteil vom 11. Juli 2017 ersichtlich, teilweise Aussicht auf Erfolg hatte.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.] abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 1454/16

10.08.2017

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 2. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 10.08.2017, Az. 1 BvR 1454/16 (REWIS RS 2017, 6683)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 6683

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