Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 29.12.2012, Az. 1 BvR 1849/12, 1 BvR 1850/12, 1 BvR 1851/12, 1 BvR 1852/12, 1 BvR 1853/12, 1 BvR 1854/12

1. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2012, 4

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Ambulante Behandlungen durch Hochschulambulanzen (§ 117 SGB V ) als Auftragsangelegenheit Teil der vertragsärztlichen Versorgung - Freiheit von Forschung und Lehre (Art 5 Abs 3 S 1 GG) lässt Grenzen der Erstattung medizinischer Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung unberührt - Wirtschaftlichkeitsgebot gilt auch für Hochschulambulanzen


Gründe

1

Die [X.] betreffen Entscheidungen einer [X.] und nachfolgend der Sozialgerichte.

2

1. Die Beschwerdeführerin, deren Rechtsvorgängerin in dem in den Ausgangsverfahren streitigen Zeitraum eine Poliklinik für Naturheilkunde betrieb und gemäß § 117 Abs. 1 [X.] (in der Fassung vom 16. Juni 1998, [X.]) zur ambulanten Versorgung gesetzlich [X.] ermächtigt war, wendet sich gegen [X.] wegen des im Zeitpunkt der Verordnung nicht mehr zugelassenen Arzneimittels [X.].

3

2. Die Klage- und Berufungsverfahren blieben erfolglos. Die Nichtzulassungsbeschwerden wies das [X.] zurück. Bei Therapien in Hochschulkliniken komme dem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG zwar Bedeutung zu. Die Beschränkung der Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln, die sich nach geprüfter Qualität und Wirksamkeit richte, werde jedoch nicht dadurch aufgehoben, dass die Behandlung von einer Hochschulambulanz im Sinne des § 117 Abs. 1 [X.] durchgeführt worden sei. Die Ermächtigung zur ambulanten Versorgung habe den Zweck, der Hochschulambulanz den Zugang zur ambulanten vertragsärztlichen Versorgung zu eröffnen, um die universitäre Lehre und Forschung zu unterstützen. Sie diene aber nicht dazu, den Behandlungs- oder den Erstattungsanspruch von Versicherten im Rahmen der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung zu erweitern.

4

3. Mit ihren [X.] rügt die Beschwerdeführerin insbesondere eine Verletzung von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG. Das in der vertragsärztlichen Versorgung geltende Gebot der Wirtschaftlichkeit sei wegen der Funktion von Hochschulen, wissenschaftliche Erkenntnisse zu generieren, nicht anwendbar. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG gewährleiste Hochschulambulanzen das Recht, selbst zu entscheiden, wie Versicherte bestmöglich - auch im Interesse von Forschung und Lehre - zu behandeln seien.

5

Die [X.] werden nicht zur Entscheidung angenommen. Die Voraussetzungen des § 93a Abs. 2 [X.] liegen nicht vor.

6

Die Ablehnung einer Vergütung für die Behandlung mit [X.] im System der gesetzlichen Krankenversicherung verletzt die Beschwerdeführerin offensichtlich nicht in ihrem Recht aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG.

7

1. Es ist grundsätzlich nicht Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung, Forschungs- und Lehraufgaben der medizinischen Fakultäten zu finanzieren. Zwar gehören [X.]skliniken wegen des Funktionszusammenhangs mit Forschung und Lehre in der Medizin sowohl dem Gesundheitssektor als auch der Wissenschaft an. Die in den dazu ermächtigten Hochschulambulanzen erbrachten ambulanten Leistungen bleiben aber Bestandteil der vertragsärztlichen Versorgung und werden von der gesetzlichen Krankenversicherung dementsprechend vergütet. Dagegen erfolgt eine Mittelzuweisung für Forschung und Lehre auch im Bereich der Medizin durch den jeweiligen Träger der Hochschule oder es werden andernorts Mittel für Forschungsvorhaben eingeworben.

8

2. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG verändert nicht die Grenzen der Erstattung von medizinischen Leistungen durch die gesetzliche Krankenversicherung. Das Grundrecht schützt die freie wissenschaftliche Betätigung. Gegenstand dieser Freiheit sind vor allem die auf wissenschaftlicher Eigengesetzlichkeit beruhenden Prozesse, Verhaltensweisen und Entscheidungen bei der Suche nach Erkenntnissen, ihrer Deutung und Weitergabe. Daher ist auch die Lehre als die wissenschaftlich fundierte Überprüfung der durch die Forschung gewonnenen Erkenntnisse ein Schutzgut von Art. 5 Abs. 3 GG. Damit sich die Wissenschaft ungehindert an dem für sie kennzeichnenden Bemühen um Wahrheit ausrichten kann, ist sie zu einem von staatlicher Fremdbestimmung freien Bereich autonomer Verantwortung erklärt worden (vgl. [X.] 35, 79 <112 f.>; 47, 327 <367 f.>; 111, 333 <354>). Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG verpflichtet den Staat auch zu Schutz und Förderung der Wissenschaft durch funktionsfähige Institutionen (vgl. [X.] 127, 87 <114>) und gewährt den in der Wissenschaft Tätigen Teilhabe an der [X.] und an öffentlichen Ressourcen (vgl. [X.] 111, 333 <354>).

9

Die Hauptaufgaben der [X.]en liegen auf dem Gebiet der Forschung und Lehre, die sie als eigene Angelegenheit wahrnehmen (Selbstverwaltungsangelegenheiten). Daneben steht die Krankenversorgung als eine der [X.] übertragene Aufgabe (Auftragsangelegenheit). Hier ist die [X.] nicht nur der Raum für die sich in wissenschaftlicher Eigengesetzlichkeit vollziehende medizinische Forschung und Lehre, sondern auch Trägerin einer gesellschaftlichen Aufgabe. In der täglichen Praxis werden sich die wissenschaftlichen Aufgaben und die Aufgaben in der Krankenversorgung folglich oft vermischen. Verfassungsrechtlich folgt hieraus, dass das Grundrecht aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG auch bei der Tätigkeit in der Krankenbehandlung und Krankenversorgung nicht gänzlich ausgeklammert werden darf (vgl. [X.] 57, 70 <96 ff.>).

3. Diese verfassungsrechtlichen Vorgaben haben die mit den [X.] angegriffenen Entscheidungen nicht verkannt.

a) Die dem Staat obliegende Förderungspflicht aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG zugunsten der Wissenschaft führt entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin nicht zu einem Anspruch auf Finanzierung des in Hochschulambulanzen erbrachten Teils der Lehre durch die gesetzliche Krankenversicherung. Zwar bezweckt § 117 Abs. 1 [X.] einfachgesetzlich auch eine Förderung der Lehre, insofern Hochschulambulanzen auf Verlangen ihrer Träger zur ambulanten Behandlung gesetzlich [X.] zu ermächtigen sind, um ein breiteres diagnostisches und therapeutisches Spektrum für Forschung und Lehre nutzen zu können. Doch hat der Gesetzgeber die Hochschulambulanzen nicht von dem in § 12 [X.] übergreifend statuierten Gebot der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit der Versorgung befreit.

b) Die Hochschulambulanzen müssen von diesem Gebot und der daraus folgenden begrenzten Erstattung medizinischer Leistungen nicht aus verfassungsrechtlichen Gründen ausgenommen werden. In der Anwendung der Erstattungsregeln der gesetzlichen Krankenversicherung auf die Hochschulambulanz liegt kein Eingriff in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG. Wenn der Gesetzgeber den [X.]en Aufgaben überträgt, die Selbstverwaltungsangelegenheiten nicht berühren, beeinträchtigt er diese nicht, muss jene aber auch nicht über das sonst geltende Maß hinaus finanzieren. Die [X.]en können sich ohne ein über das [X.] hinausgehende [X.]im Wege von Studien mit Therapien befassen, die - mittlerweile (vgl. § 35c Abs. 2 [X.], eingefügt mit Wirkung vom 1. April 2007 durch Gesetz vom 26. März 2007, [X.]) - auch im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung erstattet werden. Doch übernimmt damit die gesetzliche Krankenversicherung keine Finanzierungsverantwortung für Forschung und Lehre.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 1849/12, 1 BvR 1850/12, 1 BvR 1851/12, 1 BvR 1852/12, 1 BvR 1853/12, 1 BvR 1854/12

29.12.2012

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 3. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend BSG, 27. Juni 2012, Az: B 6 KA 68/11 B, Beschluss

Art 5 Abs 3 S 1 GG, § 31 SGB 5, § 117 Abs 1 SGB 5 vom 16.06.1998

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 29.12.2012, Az. 1 BvR 1849/12, 1 BvR 1850/12, 1 BvR 1851/12, 1 BvR 1852/12, 1 BvR 1853/12, 1 BvR 1854/12 (REWIS RS 2012, 4)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 4

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

B 6 KA 72/11 B (Bundessozialgericht)

Krankenversicherung - Krankenbehandlung - Hochschulklinik - Bedeutung der Wissenschaftsfreiheit - Fehlen - Verordnungsfähigkeit eine Arzneimittels …


B 6 KA 9/21 R (Bundessozialgericht)

Vertragsärztliche Versorgung - Hochschulambulanz - Vergütungsverhandlung - Grundsatz der Beitragssatzstabilität - keine Ausnahme bei geänderter …


B 1 KR 19/10 R (Bundessozialgericht)

(Krankenversicherung - Verordnung eines Arzneimittels während und außerhalb eines arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahrens jenseits seiner bestehenden Zulassung …


B 6 KA 20/13 R (Bundessozialgericht)

Vertragsärztliche Versorgung - ermächtigte Hochschulambulanz keine Krankenhausfachambulanz - Beschränkung der Überweisung an Vertragsärzte oder Medizinische …


B 1 KR 1/16 R (Bundessozialgericht)

Krankenversicherung - Arzneimittelversorgung - Leistungsanspruch richtet sich im Krankenhaus nach gleichen Maßstäben wie in der …


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.