[X.]
- 1 BvR 1054/91 -
IM NAMEN DES VOLKES
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau S... |
- Bevollmächtigter: Rechtsanwalt [X.], Sedanstraße 23, [X.] -
gegen |
das Urteil des [X.]s [X.] vom 4. Juni 1991 - S 466/90 - |
und Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung |
hat das [X.] - Erster Senat - unter Mitwirkung
des Präsidenten Herzog,
[X.],
[X.],
Grimm,
Söllner,
[X.],
Kühling
und der Richterin [X.]
am 28. Januar 1992 beschlossen:
- Das Urteil des [X.]s [X.] vom 4. Juni 1991 - [X.] - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben. Die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.
- Damit erledigt sich zugleich der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung.
- Der [X.] hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob eine vom Fachgericht unterstellte Pflicht des wegen Eigenbedarfs kündigenden Vermieters, ersatzweise eine gleich große Wohnung in demselben Gebäude anzubieten, mit der Begründung verneint werden darf, diese Wohnung sei angesichts der familiären Situation nach "objektivierenden Zumutbarkeitserwägungen" nicht angemessen.
1. Die Beschwerdeführerin bewohnt seit 1986, inzwischen mit ihren drei später geborenen Kindern, eine 56 qm große Obergeschoßwohnung mit zwei Zimmern, Korridor, Bad mit Toilette und Kellerraum. Anfang 1990 kündigte die Klägerin des Ausgangsverfahrens das Mietverhältnis mit der Begründung, sie benötige die Wohnung für ihre Tochter und deren künftige Familie. Das gesamte Obergeschoß solle zu einer einzigen Wohnung umgebaut werden. Die Beschwerdeführerin widersprach unter anderem mit dem Hinweis, daß im Parterre eine ebenfalls 56 qm große Wohnung frei werde, die ihr als Ersatzwohnung zur Verfügung gestellt werden könne. Dies lehnte die Klägerin wegen deren Renovierungsbedürftigkeit ab; außerdem sei eine 56 qm große Wohnung mit einem Erwachsenen und drei Kleinkindern überbelegt, zumal die Beschwerdeführerin auch Freunde von sich in die Wohnung aufnehme.
Das Amtsgericht gab der Räumungsklage statt; es sei bewiesen, daß die - inzwischen schwangere - Tochter der Klägerin zusammen mit ihrem Ehemann in die der Beschwerdeführerin vermietete Wohnung einziehen wolle. Derzeit lebe sie mit diesem in ihrem Mädchenzimmer im elterlichen Anwesen. Die Klägerin könne der Beschwerdeführerin keinen angemessenen Ersatzwohnraum zur Verfügung stellen, weil das gesamte Haus und damit auch die zwischenzeitlich freigewordene Erdgeschoßwohnung wegen Feuchtigkeit und Pilzbefall renoviert werden müsse.
2. Mit der angegriffenen Entscheidung wies das [X.] die Berufung der Beschwerdeführerin zurück.
Die Klägerin habe die Voraussetzungen für die auf Eigenbedarf gestützte Kündigung nachgewiesen. Eine Renovierung des Hauses nach Abschnitten, wie von der Beschwerdeführerin vorgeschlagen, verursache höhere Kosten und sei der Klägerin nicht zumutbar. Eine im Rahmen des § 556 a BGB gegebenenfalls zu bedenkende "Anbiet-Pflicht" des Vermieters könne nur angenommen werden, wenn die andere Wohnung als "geeignete" Ersatzwohnung zu bewerten sei. Eine 56 qm große Zwei-Zimmer-Wohnung sei für eine Mutter mit drei Kleinkindern nicht angemessen, selbst wenn ihr Lebensgefährte nicht für längere Zeiträume bei ihr wohne. Die Frage der Angemessenheit richte sich nicht entscheidend nach den vom Mieter an Wohnraum gestellten Anforderungen, sondern nach objektivierenden Zumutbarkeitserwägungen.
II.
1. Die Beschwerdeführerin rügt die Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3, 13, 14 und 103 GG. Insbesondere hält sie das Urteil für willkürlich, soweit es eine Anbietepflicht für die 56 qm große Zwei-Zimmer-Wohnung verneine. Hinsichtlich der Angemessenheit einer solchen Wohnung für eine Mutter mit drei kleinen Kindern nenne das [X.] weder objektive noch subjektive Zumutbarkeitsgesichtspunkte. Eine Überbelegung liege nicht vor; die Wohnung habe weit mehr als die Mindestgröße nach dem [X.]. Das [X.] mache in unzulässiger Weise seine eigenen Lebensvorstellungen zum Maßstab seiner Entscheidung. Eine Abwägung mit den [X.] Belangen der Mieterin habe nicht stattgefunden.
Die Beschwerdeführerin hat ferner beantragt, die Zwangsvollstreckung aus dem Räumungsurteil bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde einstweilen auszusetzen.
2. Nach Auffassung des [X.] sind die Ausführungen des [X.]s zum Maßstab der objektivierenden Zumutbarkeitserwägungen sachlich nachvollziehbar. Es komme nicht darauf an, welche Wohnungsgröße der Beschwerdeführerin subjektiv als angemessen und ausreichend erscheine.
3. Die Klägerin verteidigt die Entscheidung. Sie sei grundsätzlich nicht verpflichtet gewesen, der Beschwerdeführerin eine Ersatzwohnung anzubieten. Darüber hinaus wäre die Wohnung schon mit vier Personen überbelegt; tatsächlich habe die Beschwerdeführerin aber auch noch einen Lebensgefährten, der sich ständig bei ihr aufhalte.
III.
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Das Urteil des [X.]s verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG.
1. Das Urteil des [X.]s verstößt allerdings nicht schon dadurch gegen Grundrechte der Beschwerdeführerin, daß es den Eigenbedarf der Klägerin anerkannt und aus diesem Grund der Räumungsklage stattgegeben hat. Wenn das [X.] deren [X.] im Hinblick auf die unzureichende Unterbringung ihrer Tochter und deren Familie höher bewertet hat als das Interesse der Beschwerdeführerin, ihre Wohnung nicht räumen zu müssen, läßt dies keine verfassungsrechtliche Fehlgewichtung erkennen.
2. a) Die Beschwerdeführerin wird jedoch in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt, weil das [X.] dessen Tragweite verkannt hat. Zwar hat die Beschwerdeführerin nur Verstöße gegen andere Grundrechte gerügt. Das hindert jedoch nicht eine Prüfung des angegriffenen Urteils auch am Maßstab des Art. 2 Abs. 1 GG. Die Beschwerdeführerin hat den maßgeblichen Sachverhalt vorgetragen und insbesondere gerügt, das [X.] habe ihr die Nutzung der Erdgeschoßwohnung als für sie nicht angemessen versagt. Damit hat sie einen möglichen Verstoß auch gegen diese Grundrechtsnorm dargelegt und dem Begründungserfordernis der §§ 23, 92 [X.] genügt. Eine ausdrückliche Benennung des als verletzt gerügten Grundrechtsartikels verlangen diese Vorschriften nicht (vgl. [X.] 47, 182 <187>).
b) Das [X.] hält es für möglich, daß den Vermieter die Pflicht trifft, dem Mieter im Falle einer Eigenbedarfskündigung eine vergleichbare Wohnung zum Bezug anzubieten, wenn ihm eine solche zur Verfügung steht. Diese Auffassung unterliegt als Ergebnis der Auslegung der vertraglichen Beziehungen zwischen Beschwerdeführerin und Klägerin und damit als einfachrechtliche Vorfrage nicht der Überprüfung durch das [X.]; sie wird von der Beschwerdeführerin als ihr günstig auch nicht in Frage gestellt.
Das [X.] verneint jedoch eine solche Pflicht im Hinblick auf die Erdgeschoßwohnung allein mit der Begründung, daß diese nach objektivierenden Zumutbarkeitserwägungen für eine Mutter mit drei Kleinkindern nicht angemessen sei. Damit stellt es weder auf polizei- oder baurechtliche Mindestanforderungen noch auf den Vortrag der Klägerin ab, daß die Wohnung (zumal wegen des Lebensgefährten) überbelegt sein würde. Letzteres legt es möglicherweise deshalb nicht zugrunde, weil die Klägerin die Beschwerdeführerin im Ausgangsverfahren - im Widerspruch zu ihrem Vortrag hinsichtlich der Überbelegung - sogar auf Angebote über noch kleinere Wohnungen von 50 und 46 qm verwiesen hatte. Bei der Beurteilung der von ihm für möglich gehaltenen Anbietepflicht orientiert sich das [X.] ausschließlich an abstrakten Vorstellungen darüber, wieviel Platz die Beschwerdeführerin mit ihren drei Kindern zu einem familiengerechten Wohnen benötige.
Das ist verfassungsrechtlich unzulässig, weil das [X.] der Beschwerdeführerin damit die eigenverantwortliche Entscheidung darüber abspricht, wie sie ihr Leben gestalten will. Nur ein Teil der Bevölkerung kann sich seine Wohnverhältnisse allein nach seinem subjektiven Raumbedarf und nach dem objektiv Wünschenswerten einrichten. In der Regel werden die Wohnwünsche durch die finanziellen Verhältnisse begrenzt. Selbst Mieter, die keine finanziellen Rücksichten nehmen müssen, richten ihre Bedürfnisse nicht stets nach allgemeinen Vorstellungen aus, sondern begnügen sich zum Teil mit Räumlichkeiten, die anderen Menschen unzumutbar beengt erscheinen, weil das für ihre Vorstellungen vom Wohnen ausreicht. Es gehört aber zum Recht des Wohnungssuchenden auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, seinen Wohnbedarf nach seinen eigenen Vorstellungen zu bestimmen, also auch einzuschränken. Diese Entscheidung haben die Gerichte ebenso zu achten wie die Entscheidung des Vermieters über seinen Eigenbedarf (vgl. [X.] 79, 292 <305>). Im übrigen würde die Sorge um das Wohlergehen der Betroffenen, von der das [X.] sich hat leiten lassen, auch dazu führen, daß der Wohnungsmarkt für schlechterverdienende und bedürfnislosere Mieter zusätzlich eingeschränkt würde.
Die Gerichte sind allerdings nicht daran gehindert zu prüfen, ob eine dem Vermieter nicht mehr zumutbare Überbelegung vorliegt, und die gegebenen Wohnmöglichkeiten an bau- oder polizeirechtlichen Vorschriften zu messen. Denn das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit wird nur unter dem Vorbehalt des Art. 2 Abs. 1 Halbsatz 2 GG gewährleistet.
Herzog | [X.] | [X.] | |||||||||
Grimm | Söllner | [X.] | |||||||||
Kühling | [X.] |