Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 22.06.2023, Az. 4 VR 4/23

4. Senat | REWIS RS 2023, 5127

© Bundesverwaltungsgericht, Foto: Michael Moser

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Umfang der erstinstanzlichen Zuständigkeit nach § 6 BBPlG


Leitsatz

Die erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts aus § 6 Satz 1 und 2 Nr. 1 BBPlG erfasst nicht nur die eigentlichen Planfeststellungsentscheidungen, sondern erstreckt sich auch auf vorzeitige Besitzeinweisungen (wie BVerwG, Beschluss vom 10. Februar 2023 - 7 VR 1.23 - zu § 12 Satz 1 und 2 Nr. 1 LNGG).

Tenor

Der Antrag wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 3 000 € festgesetzt.

Gründe

I

1

Der Antragsteller wendet sich gegen eine vorzeitige Besitzeinweisung, die der Beigeladenen für den Bau einer Höchstspannungsfreileitung erteilt wurde.

2

Das Vorhaben [X.] - Ersatzneubau 380/110-kV-[X.] [X.] - [X.] einschließlich Rückbau der Bestandsleitung, Abschnitt Umspannwerk [X.] - Umspannwerk [X.] wurde mit Beschluss vom 29. Juli 2022 [X.]; es ist ein Abschnitt des Vorhabens 380 kV-[X.] [X.] - [X.], das als Nr. 18 der Anlage zum [X.] in den Bedarfsplan nach § 1 Abs. 1 [X.] aufgenommen ist. Die geplante Leitung überspannt ein Grundstück des Antragstellers ([X.]. ..., [X.]), auf dem auch ein Teil von [X.] errichtet werden soll.

3

Mit Beschluss vom 4. Mai 2023 wies das zuständige Landratsamt die Beigeladene vorzeitig - mit Wirksamkeit ab dem 29. Mai 2023 - dauerhaft in den Besitz der für den Schutzstreifen und den Mast erforderlichen Flächen (11 228 qm) sowie vorübergehend in den Besitz der für die Einrichtung von Arbeitsflächen und Zuwegungen erforderlichen Flächen (3 317 qm) des o. g. Grundstücks ein.

4

Hiergegen hat der Antragsteller entsprechend der beigefügten Rechtsmittelbelehrung Klage beim [X.] erhoben und einstweiligen Rechtsschutz beantragt. Er macht im Wesentlichen geltend, dass der Standort, der [X.] und die Höhe von [X.] von Zusagen der Beigeladenen abwichen. Der Umfang der Grundstücksinanspruchnahme sei unbestimmt. Das zeigten auch die von der Beigeladenen vorgelegten Vertragsentwürfe über die Bestellung einer beschränkten persönlichen Dienstbarkeit, die zumindest widersprüchlich seien. Zudem habe sich die Beigeladene nicht ausreichend um eine gütliche Einigung bemüht.

5

Der Antragsgegner und die Beigeladene treten dem Antrag entgegen.

6

Der Verwaltungsgerichtshof hat Klage und Eilantrag an das [X.] verwiesen.

II

7

Der Antrag hat keinen Erfolg.

8

1. Das [X.] ist aufgrund der nach § 83 Satz 1 VwGO i. V. m. § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG bindenden Verweisung durch den Verwaltungsgerichtshof für die Entscheidung über den Antrag zuständig.

9

Ungeachtet dessen hat der Verwaltungsgerichtshof die Zuständigkeit des [X.]s zu Recht bejaht. Nach § 50 Abs. 1 Nr. 6 VwGO entscheidet das [X.] im ersten und letzten Rechtszug u. a. über sämtliche Streitigkeiten, die Planfeststellungsverfahren und Plangenehmigungsverfahren für Vorhaben betreffen, die im [X.]gesetz bezeichnet sind. § 6 Satz 1 [X.] verweist für die in den Bedarfsplan aufgenommenen Vorhaben seinerseits ausdrücklich auf § 50 Abs. 1 Nr. 6 VwGO. Gemäß § 6 Satz 2 Nr. 1 [X.] ist § 50 Abs. 1 Nr. 6 VwGO auch anzuwenden für auf diese Vorhaben bezogene Veränderungssperren, Zulassungen des vorzeitigen Baubeginns und Anzeigeverfahren. Vergleichbare Regelungen finden sich u. a. in § 43e Abs. 4 Satz 2 [X.] und § 12 Satz 2 Nr. 1 [X.]. Der Begriff der Zulassung des vorzeitigen Baubeginns in § 12 Satz 2 Nr. 1 [X.] ist mit Blick auf den Gesetzeszweck weit auszulegen und nicht auf die so bezeichnete Zulassung des vorzeitigen Baubeginns im Sinne des § 44c [X.] beschränkt. Er erfasst auch die in § 44b [X.] geregelte vorzeitige Besitzeinweisung, die dasselbe Ziel der Ermöglichung des zügigen Baubeginns verfolgt (BVerwG, Beschluss vom 10. Februar 2023 - 7 VR 1.23 - [X.] 2023, 223 Rn. 12).

Der Senat schließt sich diesem Begriffsverständnis für die Auslegung von § 6 [X.] i. V. m. § 50 Abs. 1 Nr. 6 VwGO an. Das [X.] ist zwar nach seiner Ausgestaltung mit einer Reihe von Ausnahme- und Maßgabenregelungen (vgl. zum [X.] § 8 [X.]) in besonderer Weise auf die Beschleunigung der Verfahren für dringliche Vorhaben ausgerichtet. § 6 [X.] zielt aber ebenso wie § 12 [X.] darauf, eine einheitliche Befassung und Entscheidungsgeschwindigkeit für Entscheidungen zu gewährleisten, die im [X.] bezeichnete Vorhaben betreffen (vgl. [X.]. 19/23491 S. 23; zu § 12 [X.] [X.]. 20/1742 S. 38).

Die Öffnungsklausel des § 48 Abs. 1 Satz 3 VwGO steht dieser Auslegung nicht entgegen. Sie ist eingefügt worden, weil die Länder für Streitigkeiten über [X.] teilweise den Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten vorgesehen haben. Vor diesem Hintergrund wurde von einer bundesrechtlichen Zuweisung der Streitigkeiten an die Oberverwaltungsgerichte/[X.] abgesehen. Für [X.], die bundesrechtlich geregelt sind, ist die Regelung nicht einschlägig (vgl. [X.], in: [X.]/[X.], VwGO, 5. Aufl. 2018, § 48 Rn. 32). Unabhängig davon verfolgt die Öffnungsklausel denselben Zweck wie die o. g. Vorschriften. Sie soll "wegen des engen rechtlichen und sachlichen Zusammenhangs zwischen Besitzeinweisung und Planfeststellung" der [X.] und Verfahrensbeschleunigung dienen (vgl. [X.]. 10/171 S. 12).

2. Der - gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO statthafte - Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die nach § 44b Abs. 7 Satz 1 [X.] sofort vollziehbare vorzeitige Besitzeinweisung ist unbegründet.

Die im Rahmen von § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung geht zu Lasten des Antragstellers aus. Das bereits durch die gesetzliche Regelung des § 44b Abs. 7 Satz 1 [X.] betonte öffentliche Interesse und das Interesse der Beigeladenen an der sofortigen Vollziehung der vorzeitigen Besitzeinweisung überwiegen das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage. Bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung erweist sich die vorzeitige Besitzeinweisung voraussichtlich als rechtmäßig.

Nach § 44b Abs. 1 Satz 1 [X.] hat die Enteignungsbehörde den Träger des Vorhabens auf Antrag nach Feststellung des Plans oder Erteilung der Plangenehmigung in den Besitz einzuweisen, wenn der sofortige Beginn von Bauarbeiten geboten ist und sich der Eigentümer oder Besitzer weigert, den Besitz eines für den Bau, die Änderung oder Betriebsänderung von [X.], Erdkabeln oder Gasversorgungsleitungen im Sinne des § 43 [X.] benötigten Grundstücks durch Vereinbarung unter Vorbehalt aller Entschädigungsansprüche zu überlassen. Der Planfeststellungsbeschluss oder die Plangenehmigung müssen vollziehbar sein (Satz 2). Diese Voraussetzungen liegen nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand vor.

a) Das Grundstück des Antragstellers wird für den Bau der [X.] benötigt. Der Planfeststellungsbeschluss vom 29. Juli 2022 sieht die Inanspruchnahme des Grundstücks vor. Das ergibt sich aus dem Grunderwerbsverzeichnis (Planunterlage ...) und dem Lage- und Grunderwerbsplan (Planunterlage ...). Die Unterlagen sind [X.] (vgl. [X.], S. 19 f.), der [X.] nimmt hierauf Bezug.

[X.] und -konfiguration sowie [X.] und Mastfundament von [X.] können dem Längenprofil (Planunterlage ...), der [X.] zum Bauwerk 1-6 (Planunterlage ...), der Fundamenttabelle zum Bauwerk 1-6 (Planunterlage ...) und den Mastprinzipzeichnungen (Planunterlage ...) entnommen werden. Die Unterlagen sind ebenfalls [X.] (vgl. [X.], S. 19 ff.).

Mit seinen Einwänden gegen Standort, Höhe und [X.] von [X.] sowie die Bestimmtheit der Planung im Bereich seines Grundstücks kann der Antragsteller nicht gehört werden. Sie richten sich gegen den Planfeststellungsbeschluss, dessen Rechtmäßigkeit im Verfahren auf vorzeitige Besitzeinweisung nicht überprüft wird. § 44b Abs. 1 [X.] verlangt nur, dass der Planfeststellungsbeschluss - wie hier - vollziehbar ist. Auch die Bestellung einer Dienstbarkeit und ihr Inhalt sind nicht Gegenstand des Besitzeinweisungsverfahrens.

b) Der sofortige Beginn der Bauarbeiten auf dem Grundstück des Antragstellers ist geboten. Die Beigeladene hat schlüssig dargelegt, dass die Vorhabenrealisierung dringlich ist und die Flächen nach der Besitzeinweisung zeitnah in Anspruch genommen werden sollen.

Ungeachtet der gesetzlich festgestellten Dringlichkeit des Vorhabens (vgl. § 1 Abs. 1 [X.]) duldet der Beginn der Baumaßnahmen auf dem Grundstück des Antragstellers im Hinblick auf den Bauzeitenplan vom 21. November 2022, den die Beigeladene ihrem Antrag auf Besitzeinweisung beigefügt hat, keinen Aufschub. Die einzelnen Bauphasen sind aufeinander abgestimmt. Zeitliche Verzögerungen würden nach den Angaben der Beigeladenen zwangsläufig zu einem erheblichen technischen und finanziellen Mehraufwand führen. Danach ist der [X.] der ... von insgesamt 37 Maststandorten im Baulos 1 und damit ein essentieller Baustein für die Seilzugarbeiten und die Inbetriebnahme der Leitung. Ohne [X.] ist der Seilzug von [X.] bis [X.] nicht möglich; zusätzlich müsste - unter Inanspruchnahme zusätzlicher Wald- und Eigentumsflächen - [X.] abgeankert werden. Ein weiteres Zurückstellen der Arbeiten auf dem Grundstück des Antragstellers scheidet mithin aus.

c) Der Antragsteller hat sich geweigert, der Beigeladenen den Besitz an den benötigten Teilflächen seines Grundstücks freiwillig zu überlassen.

Eine Weigerung im Sinne von § 44b Abs. 1 Satz 1 [X.] liegt vor, wenn der Vorhabenträger dem Eigentümer oder Besitzer durch ein entsprechendes Angebot die Möglichkeit eröffnet hat, die Überlassung des Besitzes unter Vorbehalt sämtlicher Entschädigungsansprüche durch eine Vereinbarung im Sinne des § 854 Abs. 2 BGB herbeizuführen und dieser das Angebot nicht angenommen hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 10. Februar 2023 - 7 VR 1.23 - [X.] 2023, 223 Rn. 22).

Die Beigeladene hat ihre Bemühungen um eine gütliche Einigung mit dem Antragsteller im Antrag auf vorzeitige Besitzeinweisung vom 20. März 2023 unter Vorlage von Protokollen und Schriftverkehr ausführlich dargelegt. Danach hat sie seit dem [X.] in zahlreichen Gesprächen und Ortsbegehungen mit dem Antragsteller auf eine gütliche Einigung hingewirkt und ihm verschiedene Lösungsansätze aufgezeigt. Unter anderem hat sie dem Antragsteller angeboten, ihr den Besitz unter Vorbehalt sämtlicher Entschädigungsansprüche zu überlassen. Die [X.] sind erfolglos geblieben, eine Verständigung konnte auch in der mündlichen Verhandlung am 26. April 2023 über den Antrag auf vorzeitige Besitzeinweisung nicht erzielt werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 und 3 i. V. m. § 162 Abs. 3 VwGO.

Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 52 Abs. 1 i. V. m. § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG und orientiert sich an Nr. 34.2.4 i. V. m. Nr. 1.5 des [X.] für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Für das einstweilige Rechtsschutzverfahren ist die Hälfte des so ermittelten Streitwerts festgesetzt worden.

Meta

4 VR 4/23

22.06.2023

Bundesverwaltungsgericht 4. Senat

Beschluss

Sachgebiet: VR

§ 48 Abs 1 S 3 VwGO, § 50 Abs 1 Nr 6 VwGO, § 6 S 1 BBPlG, § 6 S 2 Nr 1 BBPlG, § 43e Abs 4 S 2 EnWG 2005, § 44b EnWG 2005, § 44c EnWG 2005, § 12 S 1 LNGG, § 12 S 2 Nr 1 LNGG

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 22.06.2023, Az. 4 VR 4/23 (REWIS RS 2023, 5127)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 5127

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

22 AS 23.40016 (VGH München)

erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts für Klagen und Anträge in Bezug auf vorzeitige Besitzeinweisungen nach § …


22 A 23.40015 (VGH München)

erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts für Klagen in Bezug auf vorzeitige Besitzeinweisungen nach § 44b EnWG, …


22 AS 23.40025 (VGH München)

keine erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts oder des Verwaltungsgerichtshofs (Oberverwaltungsgerichts) für Klagen und Anträge in Bezug …


22 A 23.40026 (VGH München)

keine erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts oder des Verwal-tungsgerichtshofs (Oberverwaltungsgerichts) für Klagen und Anträge in Bezug …


7 A 2/23 (Bundesverwaltungsgericht)

Besitzeinweisung für den Bau und Betrieb einer Energietransportleitung nach dem LNGG (Brunsbüttel-Hetlingen)


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.