Bundesgerichtshof, Beschluss vom 20.12.2022, Az. KZR 84/20

Kartellsenat | REWIS RS 2022, 8384

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Zulässigkeit der Schadensersatzklage wegen Missbrauchs der marktbeherrschenden Stellung eines Eisenbahninfrastrukturunternehmens: Anhörungsrüge;  Überraschungsentscheidung des Gerichts


Tenor

Die Anhörungsrüge der Beklagten gegen das Urteil des Senats vom 5. April 2022 wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Gründe

1

I. Der Kläger verlangt von der Beklagten Rückzahlung von [X.]. Das [X.] hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt. Das Berufungsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Revision der Klägerin hat der [X.] das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen (Urteil vom 5. April 2022 - [X.], [X.], 870 - [X.]). Die Beklagte macht geltend, der [X.] habe ihren Anspruch auf rechtliches Gehör und das Recht auf [X.] verletzt. Sie hat beantragt, das Verfahren fortzusetzen.

2

II. Die gemäß § 321a ZPO zulässige Anhörungsrüge ist unbegründet. Das angefochtene Urteil verletzt weder den Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG noch ihr Recht auf [X.] aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Der [X.] hat bei seiner Entscheidung den Vortrag der Betroffenen vollumfänglich zur Kenntnis genommen, geprüft und erwogen, aber nicht für durchgreifend gehalten.

3

1. Es bestand kein Anlass, das Verfahren nach § 148 ZPO auszusetzen, um ein Vorabentscheidungsersuchen an den [X.] zu richten oder um die Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache [X.]/20 über das Vorabentscheidungsersuchen des [X.] abzuwarten. Das hat der [X.] mit Verweis auf seine gefestigte und ausführlich begründete Rechtsprechung auch unter Berücksichtigung des genannten Vorabentscheidungsersuchens begründet ([X.], Urteile vom 29. Oktober 2019 - [X.], [X.], 209 Rn. 20 ff. - [X.]; vom 1. September 2020 - [X.], N&R 2021, 56 Rn. 18 f. - [X.]; vom 22. Juni 2021 - [X.], [X.], 709 Rn. 11 ff. - [X.]I; vom 21. September 2021 - [X.], [X.], 65 Rn. 20 ff. - [X.] II). Darauf wird verwiesen. Das Verfahren der Anhörungsrüge dient nicht dazu, die [X.]sentscheidung nochmals inhaltlich zur Überprüfung zu stellen oder einer [X.] die Möglichkeit zu eröffnen, mit dem [X.] nach dessen Entscheidung ihren gegenteiligen Rechtsstandpunkt zu diskutieren (vgl. [X.], Beschluss vom 18. Dezember 2014 - [X.], juris Rn. 10, Beschluss vom 28. Juni 2022 - [X.] 17/20, juris Rn. 2).

4

Es ist lediglich erneut darauf hinzuweisen, dass nach der in Bezug genommenen Rechtsprechung des [X.]s auch dann, wenn sich aus der Richtlinie 2001/14/[X.] Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2001 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn, die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur und die Sicherheitsbescheinigung besondere Zulässigkeitsvoraussetzungen für die Erhebung und Sachprüfung einer Schadensersatzklage wegen Missbrauchs der marktbeherrschenden Stellung eines Eisenbahninfrastrukturunternehmens ableiten lassen sollten, es jedenfalls an einer entsprechenden Umsetzung durch den nationalen Gesetzgeber fehlte und ein solches Umsetzungsdefizit auch nicht dadurch geheilt werden könnte, dass die Zivilgerichte die maßgeblichen anspruchsbegründenden oder -vernichtenden Normen unangewendet lassen ([X.], [X.], 209 Rn. 38 ff. - [X.]; [X.], 119, 38 ff. - [X.], [X.], 709 Rn. 16 ff. - [X.]I, mit Verweis auf [X.], Urteile vom 16. Juni 2005 - [X.]/03, [X.]. 2005, [X.] Rn. 47 - [X.]; vom 8. Mai 2019 - [X.]/18, [X.], 1131 Rn. 38 - [X.]; vom 11. September 2019 - [X.]/18, [X.], 1919 Rn. 38 - [X.]; [X.], Beschluss vom 26. September 2011 - 2 BvR 2216/06, [X.], 669, 670; [X.], Urteil vom 15. Oktober 2019 - [X.], [X.], 2164 Rn. 22; Beschluss vom 31. März 2020 - [X.], [X.], 865 Rn. 12; Urteil vom 18. November 2020 - [X.], NJW 2021, 1008 Rn. 26; [X.], [X.], 669, 670; [X.], Urteile vom 7. Mai 2014 - [X.], [X.]Z 201, 101 Rn. 20; vom 28. Juni 2017 - [X.], [X.]Z 215, 126 Rn. 24; vom 26. März 2019 - [X.]/17, [X.]Z 221, 325 Rn. 21; s.a. [X.], [X.], 65 Rn. 21 - [X.] II). Ein effektiver gerichtlicher Rechtsschutz wäre nicht gewährleistet, wenn die Eisenbahnverkehrsunternehmen bei der Durchsetzung ihrer Ansprüche verfahrensrechtliche Voraussetzungen beachten müssten, die weder zum Zeitpunkt der [X.] noch zum Zeitpunkt der gerichtlichen Geltendmachung gesetzlich bestimmt und damit für die Berechtigten erkennbar waren ([X.], [X.], 209 Rn. 39 - [X.]).

5

Daran vermag das Urteil des Gerichtshofs der [X.] vom 27. Oktober 2022 zur Auslegung von Art. 30 der Richtlinie 2001/14/[X.] ([X.]/20, juris - [X.]) nichts zu ändern. Im Übrigen war die [X.] bereits mit den hier in Rede stehenden Schienennetznutzungsbedingungen befasst und hat durch Bescheid von 5. März 2010 - wenn auch nicht bestandskräftig - festgestellt, dass die Erhebung der Regionalfaktoren gegen Vorschriften des Allgemeinen Eisenbahngesetzes verstieß. An dieser Rechtsauffassung hat die [X.] in der mündlichen Verhandlung vor dem [X.] ausdrücklich festgehalten ([X.], [X.], 870 Rn. 60 - [X.] mit Verweis auf [X.], Urteil vom 8. Februar 2022 - [X.], [X.], 756 Rn. 40 - Regionalfaktoren).

6

2. Der [X.] hat auch das Vorbringen der Beklagten zur Kenntnis genommen und erwogen, wonach die Rückforderung von Entgelten nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der [X.] erst dann zulässig sei, wenn von der [X.] oder gegebenenfalls von einem Gericht - das die Entscheidung dieser Stelle als für die Klage gegen diese Entscheidung zuständiges Gericht überprüft hat - im Einklang mit den Vorschriften des nationalen Rechts die Unvereinbarkeit der Entgelte festgestellt worden ist ([X.], Urteil vom 9. November 2017 - [X.]/15, [X.] 2018, 74 Rn. 97 - [X.]; Urteil vom 8. Juli 2021 - [X.]/20, [X.] 2021, 695 Rn. 59 - [X.]), und wonach den Zivilgerichten die Prüfung der Wirksamkeit des Bescheids der [X.] wie auch des [X.] entzogen sei. Der [X.] hat sich jedoch nicht an einer Entscheidung gehindert gesehen, weil im Hinblick auf die geltend gemachten Ansprüche aus § 812 Abs. 1 Satz 1, 1. Alt. BGB eine inhaltliche Überprüfung der [X.] durch die Zivilgerichte anhand der Vorschriften des Allgemeinen Eisenbahngesetzes nicht erfolgt und die insofern bestehende ausschließliche Zuständigkeit der Regulierungsbehörde nicht berührt ist. Insofern hat der [X.] ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Beklagte nur solange nicht berechtigt ist, die auf die Regionalfaktoren entfallenden Entgeltbestandsteile zu behalten, wie der Bescheid nicht aufgehoben ist. Im Übrigen hat der [X.] für durchgreifend erachtet, dass die [X.] die Unvereinbarkeit der Regionalfaktoren mit dem Eisenbahnrecht mit Bescheid vom 5. März 2010 bereits festgestellt hat, dieser Bescheid wirksam ist, dem Widerspruch der Beklagten nach den Vorschriften des Allgemeinen Eisenbahngesetzes keine aufschiebende Wirkung zukam, dieser Bescheid unmittelbare privatrechtsgestaltende Wirkung hat, ein verwaltungsgerichtliches Verfahren zur Überprüfung des Bescheids der [X.] nicht anhängig war, das angerufene Gericht den Rechtsstreit in Übereinstimmung mit dem nationalen Recht nach § 17 Abs. 2 Satz 1 GVG unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten zu entscheiden hat und zugleich feststeht, dass die Erhebung der Regionalfaktoren gegen das Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung im Sinne des Art. 102 AEUV verstößt.

7

3. Ebenso hat der [X.] das Vorbringen der Beklagten im Hinblick auf die Annahme des [X.] zur Kenntnis genommen und erwogen, wonach "durch" den [X.] konkludent eine Aufhebung des Bescheides der [X.] vom 5. März 2010 erfolgt sei. Der [X.] ist dabei nicht von den in der Rechtsprechung des [X.] entwickelten Grundsätzen zum Verhältnis von öffentlich-rechtlichem Vertrag und eines diesen umsetzenden Verwaltungsakts ([X.], Urteil vom 17. Oktober 1997 - 8 C 1/96, NVwZ 1998, 1061 Rn. 29; Beschluss vom 26. Oktober 2006 - 7 [X.]/06, juris Rn. 35) abgewichen, insbesondere ist er nicht davon ausgegangen, dass die Nichtigkeit eines [X.]es zwangsläufig die Nichtigkeit eines diesen umsetzenden Verwaltungsaktes nach sich zieht, sondern dies nach Maßgabe der Umstände Einzelfalls zu beurteilen ist ([X.], Beschluss vom 26. Oktober 2006 - 7 [X.]/06, juris Rn. 35). Der [X.] hat erkannt, dass der geschlossene öffentlich-rechtliche Vertrag an einem besonders schwerwiegenden Mangel leidet, weil er wegen der fehlenden Begründung die aus dem [X.] folgenden Rechtsschutzfunktionen zu Lasten der [X.] verkürzt und für diese keine rechtssichere Handlungsgrundlage bietet. Vor diesem Hintergrund ist er unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls, insbesondere der multipolaren Rechtsverhältnisse und der privatrechtsgestaltenden Wirkung der Regulierungsentscheidung zu dem Ergebnis gelangt, dass auch eine etwaige in dem Vertrag enthaltene "konkludente Auf-hebung" des Bescheids gleichermaßen an einem Mangel leidet, der gemäß § 44 VwVfG dessen Nichtigkeit zur Folge hat. Eine Vorlage an den Gemeinsamen [X.] der Obersten [X.]gerichte nach dem Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des [X.] war daher nicht veranlasst.

8

4. Zu Unrecht meint die Beklagte weiter, das [X.]surteil stelle sich als eine das rechtliche Gehör der Beklagten verletzende Überraschungsentscheidung dar.

9

a) Die Frage, ob bereicherungsrechtliche Ansprüche unter Berücksichtigung des Standes des Verwaltungsverfahrens gegeben sind, war bereits Gegenstand des Berufungsverfahrens und ein wesentlicher Angriff der Revision. Demgemäß enthält auch die Revisionserwiderung der Beklagten Ausführungen zur Frage, ob ein bereicherungsrechtlicher Anspruch auf Rückzahlung bereits geleisteter Entgelte im Hinblick auf eine etwaige Nichtigkeit des [X.]es gegeben ist. Vor diesem Hintergrund musste die anwaltlich vertretene Beklagte als eine gewissenhafte und kundige Prozessbeteiligte alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und ihren Vortrag darauf einstellen (vgl. nur [X.]E 98, 218, 263; [X.], [X.], 852 Rn. 7; [X.], Beschluss vom 14. September 2022 - [X.] 77/20, juris Rn. 5; [X.], Urteil vom 7. April 2022 - [X.], [X.], 720 Rn. 63 - Kinderzahnärztin; [X.], Beschluss vom 4. Juni 2020 - 2 [X.]/19, juris Rn. 36 f.) und war ein Hinweis des [X.]s nicht geboten.

b) Ebenso wenig konnte es die Beklagte überraschen, dass der [X.] von der Wirksamkeit des Bescheides der [X.] vom 5. März 2010 ausgegangen ist und eine etwaige - vom Berufungsgericht angenommene - konkludente Aufhebung des Bescheids "durch" den [X.] ebenfalls als nichtig angesehen hat. Die Beklagte hat dies in ihrer Revisionserwiderung ausführlich erörtert. Der [X.] hat zudem in der mündlichen Verhandlung die Frage behandelt, inwieweit der [X.] die Handlungsform des [X.]es zur Verfügung stand. Dass sich daran anschließend die Frage stellt, ob eine "konkludente Aufhebung" durch einen gegebenenfalls als nichtig zu qualifizierenden [X.] wirksam sein kann, lag auf der Hand. Eine Abweichung von den in der Rechtsprechung des [X.] entwickelten Grundsätzen besteht nicht (oben Rn. 7).

[X.]     

  

[X.]     

  

Tolkmitt

  

Rombach     

  

Holzinger     

  

Meta

KZR 84/20

20.12.2022

Bundesgerichtshof Kartellsenat

Beschluss

Sachgebiet: False

vorgehend BGH, 5. April 2022, Az: KZR 84/20, Urteil

Art 101 GG, Art 103 GG, § 321a ZPO, Art 30 EGRL 14/2001

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 20.12.2022, Az. KZR 84/20 (REWIS RS 2022, 8384)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 8384

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

KZR 89/20 (Bundesgerichtshof)

Rückforderung räumlich differenzierter Schienennetznutzungsentgelte: Besondere Zulässigkeitsvoraussetzungen für die Erhebung und Sachprüfung einer Schadensersatzklage wegen Missbrauchs …


KZR 8/21 (Bundesgerichtshof)

Besondere Zulässigkeitsvoraussetzungen für Erhebung von Schadensersatzklage wegen Marktbeherrschungsmissbrauch durch Eisenbahninfrastrukturunternehmen


KZR 70/21 (Bundesgerichtshof)

Kartellverfahren: Aussetzung eines Verfahrens über die Rückforderung von Entgelten zur Nutzung der Eisenbahninfrastruktur


KZR 84/20 (Bundesgerichtshof)

Schienennetz-Benutzungsbedingungen: Unmittelbare privatrechtsgestaltende Wirkung der Ungültigkeitserklärung einer Klausel durch die Regulierungsbehörde; Bereicherungsanspruch; Befugnis der Bundesnetzagentur …


KZR 89/20 (Bundesgerichtshof)

EU-Kartellrechtliches Missbrauchsverbot: Beanstandung des Preissystems eines marktbeherrschenden Unternehmens unter dem Gesichtspunkt des Ausbeutungsmissbrauchs - Regionalfaktoren


Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.