Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 07.09.2011, Az. 9 B 61/11

9. Senat | REWIS RS 2011, 3531

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Gegenstand

Entscheidung ohne mündliche Verhandlung; vereinfachtes Berufungsverfahren; Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme


Leitsatz

Ein Verstoß gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 96 VwGO) liegt nicht vor, wenn das Berufungsgericht im vereinfachten Berufungsverfahren gemäß § 130a VwGO ohne erneute Beweiserhebung auf der Grundlage der Zeugenaussagen der erstinstanzlichen Beweisaufnahme die Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz lediglich in rechtlicher Hinsicht anders beurteilt und deswegen im Ergebnis abweichend von der Vorinstanz entscheidet.

Gründe

1

Die Beschwerde kann keinen Erfolg haben.

2

1. [X.] nicht erkennen, dass die angefochtene Entscheidung auf einem Verfahrensmangel beruhen kann (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).

3

a) Entgegen der Ansicht der Beschwerde ist die Entscheidung des [X.] nicht deswegen verfahrensfehlerhaft, weil der [X.]hof, nachdem er die Beteiligten hierzu angehört hat, über die Berufung ohne mündliche Verhandlung im vereinfachten Verfahren gemäß § 130a VwGO entschieden hat.

4

Ob ein Berufungsgericht den ihm gemäß § 130a VwGO eröffneten Weg einer Entscheidung im Beschlussverfahren beschreitet, steht in seinem pflichtgemäßen Ermessen, das grundsätzlich nur auf sachfremde Erwägungen und grobe Fehleinschätzungen überprüfbar ist; dabei ist insbesondere die Schwierigkeit der Sache ein im Rahmen der Ermessensausübung zu berücksichtigender wesentlicher Gesichtspunkt (stRspr, vgl. Urteil vom 30. Juni 2004 - BVerwG 6 C 28.03 - BVerwGE 121, 211 <213 f.> = [X.] 310 § 130a VwGO Nr. 64 S. 52 f. und Beschluss vom 27. Januar 2011 - BVerwG 3 [X.] - NJW 2011, 1830 Rn. 8). Hiernach erweist sich die Entscheidung des [X.]hofs für das Beschlussverfahren gemäß § 130a VwGO nicht als sachfremd oder grob fehlerhaft, insbesondere ist nicht ersichtlich, dass der Streitfall einen außergewöhnlichen Schwierigkeitsgrad aufwies. Dass der Kläger einer Entscheidung gemäß § 130a VwGO ausdrücklich widersprochen hat, ist unerheblich.

5

Der [X.]hof war - entgegen der Ansicht der Beschwerde - nicht deshalb an einem Vorgehen gemäß § 130a VwGO gehindert, weil er die Frage der Verjährung der streitgegenständlichen [X.] ohne erneute Anhörung der vom Verwaltungsgericht zur Frage der Abnahme der Baumaßnahme gehörten Zeugen beurteilt hat, und zwar mit gegenteiligem Ergebnis als das Verwaltungsgericht. Darin liegt insbesondere kein Verstoß gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 96 VwGO).

6

Eine in der Vorinstanz durchgeführte Beweisaufnahme braucht vom Rechtsmittelgericht grundsätzlich nicht wiederholt zu werden. Namentlich für den Zeugenbeweis folgt aus § 98 VwGO i.V.m. § 398 Abs. 1 ZPO, wonach die erneute Zeugenvernehmung im Ermessen des Gerichts steht, dass ein bereits in der ersten Instanz gehörter Zeuge nicht stets in der Berufungsinstanz erneut zu vernehmen ist. Das Berufungsgericht darf seine Entscheidung vielmehr grundsätzlich ohne erneute Vernehmung auf das Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme stützen (vgl. Beschlüsse vom 11. November 1991 - BVerwG 7 [X.] - juris Rn. 3 und vom 6. Januar 2011 - BVerwG 4 B 51.10- juris Rn. 16; [X.], in: [X.], VwGO, 13. Aufl. 2010, § 96 Rn. 8). Zur erneuten Beweisaufnahme verpflichtet ist das Berufungsgericht dagegen, wenn es an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen der Vorinstanz zweifelt, insbesondere wenn es die Glaubwürdigkeit eines Zeugen abweichend vom Erstrichter beurteilen will (vgl. [X.], [X.] vom 22. November 2004 - 1 BvR 1935/03 - NJW 2005, 1487). Das ist hier nicht der Fall. Der [X.]hof hat weder die Richtigkeit noch die Vollständigkeit der Feststellungen des [X.] noch die Glaubwürdigkeit der Zeugen angezweifelt, sondern ist von der im erstinstanzlichen Urteil niedergelegten Tatsachengrundlage ausgegangen, namentlich von den vom Verwaltungsgericht im Ortstermin vom 7. November 2008 protokollierten Feststellungen und Bekundungen sowie von den Aussagen der in der mündlichen Verhandlung vom 25. November 2008 vernommenen (sachverständigen) Zeugen. Der [X.]hof hat aber dahin erkannt, dass diese Tatsachenfeststellungen nicht die vom Verwaltungsgericht gezogene rechtliche Schlussfolgerung tragen. Er hat bei gleicher Tatsachengrundlage diese lediglich rechtlich anders beurteilt.

7

Der [X.]hof hat entscheidungstragend angenommen, dass die Beitragsforderung der Beklagten bei Erlass des angefochtenen Bescheides noch nicht verjährt war. Die streitgegenständliche Straße sei nicht bereits im Dezember 2001 fertiggestellt gewesen. Entgegen der Annahme des [X.] sei die im Dezember 2001 erfolgte Begehung der Baustelle noch keine förmliche Abnahme im [X.] gewesen. Der [X.]hof hat dies eingehend und u.a. damit begründet ([X.] ff.), dass es bereits an den entsprechenden formellen Voraussetzungen fehle, namentlich an einem schriftlichen [X.], dass die bei der erwähnten Begehung besprochenen Punkte (u.a. betreffend die noch ausstehenden Arbeiten am Straßenbegleitgrün) im Verlauf der ersten Jahreshälfte 2002 erledigt und im Wesentlichen durch Rechnung des Bauunternehmers vom 30. August 2002 besonders berechnet worden seien. Dieses Ergebnis sei - ungeachtet von Unterschieden im Detail - auch von den vom Verwaltungsgericht vernommenen Zeugen bestätigt worden. Anhaltspunkte dafür, dass die Baumaßnahme schon abgeschlossen sein sollte und die im Dezember 2001 übersandte Rechnung des Bauunternehmers bereits die Schlussrechnung darstellen sollte, ergäben sich aus keiner der Aussagen; vielmehr hätten die Zeugen übereinstimmend bekundet, dass diese Rechnung wegen der zum Jahresende anstehenden Währungsumstellung von [X.] auf Euro erteilt worden sei. Der maßgebliche Unterschied zwischen den Entscheidungen von Verwaltungsgericht und [X.]hof liegt - bei gleicher Tatsachengrundlage - mithin darin, dass Letzterer die Begehung der Baustelle im Dezember 2001 rechtlich als bloße Teilabnahme gewertet hat, weil das, was bei dieser Begehung als für eine vollständige Fertigstellung gemäß Bauprogramm noch fehlend festgestellt wurde, nicht abgenommen sein könne. Diese allein in rechtlicher Hinsicht abweichende Beurteilung der Zeugenaussagen und der vorliegenden Rechnungen durch den [X.]hof liegt - noch - innerhalb der nach den dargestellten Maßstäben einem Berufungsgericht gezogenen verfahrensrechtlichen Grenzen. Daher liegt in der fehlenden Vernehmung der von der Beschwerde genannten Zeugen durch den [X.]hof auch keine Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO).

8

b) Ein Verfahrensfehler durch Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 108 Abs. 2 VwGO) liegt ebenfalls nicht vor.

9

aa) Da der [X.]hof seine Auffassung zur Frage der Verjährung den Beteiligten bereits im Beschluss vom 18. August 2009 über die Zulassung der Berufung dargelegt hat, stellt die Berufungsentscheidung auch unter dem Gesichtspunkt des Verbots einer Überraschungsentscheidung keinen Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör dar (vgl. dazu [X.], [X.] vom 12. Juni 2003 - 1 BvR 2285/02 - NJW 2003, 2524).

bb) Die Beschwerde rügt ferner, dass der [X.]hof einem Antrag des [X.] auf Akteneinsicht in beigezogene bzw. noch beizuziehende Verwaltungs- und Gerichtsakten nicht entsprochen hätte. Dieser Vorwurf ist nach Aktenlage unzutreffend. Nachdem sich der jetzige Prozessbevollmächtigte des [X.] im Verfahren vor dem [X.]hof bestellt und mit Schriftsatz vom 15. Februar 2011 um Zurverfügungstellung näher bezeichneter Unterlagen gebeten hatte, sind ihm im Parallelverfahren 5 A 2499/09 auf richterliche Anordnung vom 16. Februar 2011 unter demselben Datum sämtliche zu diesem Verfahren beigezogenen Verwaltungsvorgänge und eine weitere Gerichtsakte übersandt worden; gleichzeitig wurde ihm mitgeteilt, dass der Senat für eine Beiziehung weiterer Unterlagen derzeit keinen Anlass sehe. Selbst wenn hiernach der Umfang der Aktenüberlassung bzw. -beiziehung dem Wunsch des [X.] nicht vollständig entsprach, wäre es Sache des [X.] gewesen, substantiiert darzutun, dass und warum er die Beiziehung weiterer Unterlagen für erforderlich hielt, und dies beim [X.]hof einzufordern. Dies hat der Kläger indes nicht getan; weder bei der Rückübersendung der übersandten Akten (Schriftsatz vom 17. März 2011) noch in dem weiteren Schriftsatz an den [X.]hof vom 29. April 2011 ist er hierauf zurückgekommen. Ein Gehörsverstoß bzw. eine Verletzung des [X.] nach § 100 VwGO liegt nicht vor, wenn der Betroffene es im vorinstanzlichen Verfahren selbst in der Hand hatte, den nunmehr behaupteten Verfahrensmangel zu vermeiden.

cc) Der wesentliche Gehalt der klägerischen Ausführungen im Schriftsatz vom 29. April 2011 zu weiteren Einwänden gegen die Beitragserhebung, ist im angefochtenen Beschluss unter [X.] der Gründe ([X.] ab S. 4 unten) aufgeführt, vom [X.]hof also zur Kenntnis genommen und unter I[X.] der Gründe beschieden worden, soweit der [X.]hof sie für entscheidungserheblich gehalten hat. Eine weitergehende Befassung mit Einzelaspekten der Grundstücke der zur Beitragszahlung herangezogenen Straßenanlieger hat er aufgrund seiner rechtlichen Beurteilung nicht für erforderlich gehalten. Auch insoweit ist für eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nichts ersichtlich. Denn dieser verpflichtet ein Gericht nicht, in der zu treffenden Entscheidung auf jedwedes Vorbringen der Beteiligten ausdrücklich einzugehen und dieses im Einzelnen zu bescheiden, namentlich wenn es das Vorbringen aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts teilweise oder ganz unberücksichtigt lassen durfte (stRspr, vgl. etwa die Beschlüsse vom 22. Mai 2006 - BVerwG 10 B 9.06 - NJW 2006, 2648 <2650> und vom 23. Juni 2008 - BVerwG 9 VR 13.08 - NVwZ 2008, 1027 <1028>, jeweils m.w.N.).

dd) Entgegen der Ansicht der Beschwerde war der [X.]hof auch nicht zu weiteren rechtlichen Hinweisen (§ 86 Abs. 3 VwGO) an den Kläger verpflichtet. Angesichts der rechtlichen Ausführungen im Beschluss über die Zulassung der Berufung vom 18. August 2009 und im Vergleichsvorschlag des Berichterstatters vom 29. November 2010, ferner angesichts des Anhörungsschreibens gemäß § 130a VwGO vom 28. März 2011 sowie der Mitteilung vom 2. Mai 2011, dass auch in Ansehung des klägerischen Schriftsatzes vom 29. April 2011 an der Absicht festgehalten werde, im schriftlichen Verfahren zu entscheiden, bestand für weitere Hinweise kein Anlass.

2. Eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) scheidet ebenfalls aus.

Insoweit genügt das Beschwerdevorbringen trotz seines Umfangs nicht den Darlegungsanforderungen (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO), weil es sich in der Art eines zulassungsfreien oder zugelassenen Rechtsmittels in Angriffen gegen die tatsächliche und rechtliche Beurteilung des Streitfalls durch den [X.]hof erschöpft, ohne bestimmte, höchstrichterlich noch nicht geklärte Rechtsfragen des revisiblen Rechts von allgemeiner, über den Einzelfall hinausgehender Bedeutung zu formulieren (vgl. Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - [X.] 310 § 133 VwGO Nr. 26 S. 14). Dafür genügt nicht der bloße Hinweis, dass "die Frage der Verjährung und der Verwirkung sowie die Kompensation, Treu und Glauben und Unbilligkeit (...) straßenbeitragsrechtlich nicht ausreichend durch die Rechtsprechung geklärt" seien, was durch die Ausführungen der Beschwerde verdeutlicht werde (Beschwerdebegründung S. 32 unten). Einer Befassung mit den genannten Fragen in einem Revisionsverfahren steht im Übrigen entgegen, dass sie nicht revisibles Recht betreffen, weil sich die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Straßenbeitragsbescheids nach [X.] Landesrecht (§ 11 HessKAG) richtet. Dies gilt auch für die durch den Rechtsanwendungsbefehl in § 4 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. [X.] in Bezug genommenen Verjährungsvorschriften der Abgabenordnung sowie für die in Ergänzung des Landesrechts angewandten allgemeinen Rechtsgrundsätze von Treu und Glauben und der Verwirkung; sie alle werden dadurch Teil des irrevisiblen Landesrechts (stRspr, vgl. Urteil vom 19. März 2009 - BVerwG 9 C 10.08 - [X.] 406.11 § 133 BauGB Nr. 135 S. 8 und Beschluss vom 1. April 2004 - BVerwG 4 B 17.04 - [X.] 310 § 137 Abs. 1 VwGO Nr. 21 S. 6). Sie können daher nicht Maßstab revisionsgerichtlicher Prüfung sein (§ 137 Abs. 1 VwGO).

Meta

9 B 61/11

07.09.2011

Bundesverwaltungsgericht 9. Senat

Beschluss

Sachgebiet: B

vorgehend Hessischer Verwaltungsgerichtshof, 18. Mai 2011, Az: 5 A 2496/09, Beschluss

§ 96 VwGO, § 98 VwGO, § 130a VwGO, § 398 Abs 1 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 07.09.2011, Az. 9 B 61/11 (REWIS RS 2011, 3531)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 3531

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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