Bundesfinanzhof, Urteil vom 19.01.2021, Az. VII R 38/19

7. Senat | REWIS RS 2021, 9454

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Gegenstand

Entstehung eines Haftungsanspruchs - Begründung einer Insolvenzforderung


Leitsatz

1. NV: Die Rücknahme eines Haftungsbescheids nach § 130 Abs. 1 AO kommt auch in Betracht, wenn dieser nichtig ist.

2. NV: Für die insolvenzrechtliche Begründung einer Haftungsforderung kommt es nicht auf die zugrunde liegende Steuerschuld an, sondern darauf, ob die maßgebliche Handlung bzw. Unterlassung vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens begangen wurde (vgl. BFH-Urteil vom 12.06.2018 - VII R 2/17).

3. NV: Die maßgebliche Handlung bzw. Unterlassung bestimmt sich nach dem Inhalt und der Auslegung des Haftungsbescheids, dessen Wirksamkeit im Streit steht.

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 24.09.2019 - 3 K 269/19 insoweit aufgehoben, als der Klage stattgegeben wurde.

Die Klage wird auch insoweit abgewiesen.

Die Revision des [X.] wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.

Tatbestand

I.

1

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Beklagte, Revisionskläger und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --[X.]--) verpflichtet ist, einen gegen den Kläger, Revisionsbeklagten und Revisionskläger (Kläger) gerichteten Haftungsbescheid nach § 130 Abs. 1 der Abgabenordnung [X.]) zurückzunehmen.

2

Der Kläger, über dessen Vermögen am ...2010 das Insolvenzverfahren eröffnet worden war, war nach den Feststellungen des Finanzgerichts ([X.]) faktischer Geschäftsführer der Firma ... [X.]. Nachdem die Vollstreckung in das bewegliche Vermögen der [X.]. ohne Erfolg geblieben war, nahm das [X.] den Kläger mit Haftungsbescheid vom ...2014 für Steuerschulden der [X.]. (Umsatzsteuer 2008 und 2009, Körperschaftsteuer 2008 und 2009, jeweils zuzüglich Nebenleistungen) in Höhe von insgesamt ... € in Anspruch. In dem Haftungsbescheid führte das [X.] aus, die Haftungsforderungen seien nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet worden und unterlägen daher nicht der Restschuldbefreiung. Die rückständigen [X.] beruhten auf Festsetzungen im [X.] gemäß § 162 [X.], weil die Jahressteuererklärungen für 2008 und 2009 nicht eingereicht worden seien. Die schuldhafte Nichtabgabe der Steuererklärungen habe die verspäteten Steuerfestsetzungen bewirkt. Die sich aus den Schätzungsfestsetzungen ergebenden Nachzahlungen habe der Kläger nicht an das [X.] entrichtet. Durch die Verletzung der Zahlungspflicht habe er die Nichterfüllung der [X.] und die Entstehung von Säumniszuschlägen bewirkt.

3

Der Haftungsbescheid wurde laut [X.] am ...2014 in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten des [X.] eingelegt.

4

Mit Schriftsatz vom ...2015 erhob der Kläger Einspruch gegen nachfolgende Vollstreckungsmaßnahmen. Zur Begründung trug er vor, dass ihm die der Vollstreckung zugrunde liegenden Forderungen nicht bekannt seien und er keine Bescheide erhalten habe. Daraufhin übersandte das [X.] dem Kläger den oben genannten Haftungsbescheid mit einfachem Brief vom ...2015 in Kopie.

5

Am ...2017 beantragte der Kläger die Aufhebung des [X.] mit der Begründung, dass ihm dieser nicht in der gesetzlich vorgeschriebenen Form bekanntgegeben worden sei. Zudem seien Vollstreckungsmaßnahmen nicht zulässig, weil die entsprechenden Forderungen nur gegen die Insolvenzmasse im Insolvenzverfahren über sein Vermögen durch Anmeldung zur Insolvenztabelle hätten geltend gemacht werden können. Der Erlass eines [X.] für einen Zeitraum, der durch ein Insolvenzverfahren erfasst sei, führe zur Nichtigkeit des Bescheids.

6

Das [X.] lehnte den Antrag des [X.] mit Schreiben vom ...2018 ab. Den dagegen gerichteten Einspruch wies das [X.] mit Einspruchsentscheidung vom ...2019 mit der Begründung zurück, der Kläger habe schuldhaft die Steuerentrichtungspflicht verletzt, indem er die am ...2011 fällige Umsatz- und Körperschaftsteuer für das [X.] sowie die am ...2011 fällige Umsatz- und Körperschaftsteuer für das [X.] nicht aus den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln der [X.]. entrichtet habe. Weil die Steuern erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des [X.] fällig gewesen seien, seien auch die Haftungsansprüche erst nach Insolvenzeröffnung begründet gewesen.

7

Die Klage hatte Erfolg, soweit der Haftungsbescheid die Steuerschulden für den Veranlagungszeitraum 2008 betraf. Das [X.] urteilte, der Haftungsbescheid sei insoweit nach § 130 Abs. 1 [X.] aufzuheben, weil er bezogen auf das Streitjahr 2008 an einem schwerwiegenden Mangel leide, der zu seiner Teilnichtigkeit gemäß § 125 Abs. 1 und 4 [X.] führe. Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis, die Insolvenzforderungen seien, dürften nach Insolvenzeröffnung nur nach den [X.] ([X.]) geltend gemacht werden. Für die insolvenzrechtliche Begründung einer Haftungsforderung komme es nicht auf die zugrunde liegende Steuerschuld, sondern darauf an, ob die maßgebliche Handlung bzw. Unterlassung, die die Haftungsinanspruchnahme begründe, vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens begangen worden sei (Hinweis auf Senatsurteil vom 12.06.2018 - VII R 2/17, [X.], 6). Im Streitfall sei auf die Nichtabgabe der Steuererklärungen abzustellen, weil der Haftungsanspruch mit der ersten Pflichtverletzung entstehe. Da die Steuererklärungen für den Veranlagungszeitraum 2008 bis zum 31.05.2009 abzugeben gewesen wären, sei der Haftungsanspruch betreffend die Steuerschuld 2008 als Insolvenzforderung zu qualifizieren.

8

Hiergegen richten sich die Revisionen des [X.] und des [X.].

9

Das [X.] führt aus, das [X.] habe festgestellt, dass der Kläger faktischer Geschäftsführer der [X.]. gewesen sei; hieran sei der erkennende Senat nach § 118 Abs. 2 [X.]O gebunden. Allerdings habe das [X.] zur Begründung des [X.] für den Besteuerungszeitraum 2008 auf eine Pflichtverletzung abgestellt, auf die der Haftungsbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung nicht gestützt worden sei. In dem Fall des [X.] ([X.]) mit dem [X.]. VII R 2/17 habe die frühestmögliche Pflichtverletzung nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens gelegen, so dass sich die streitentscheidende Frage dort nicht gestellt habe. Der Erlass eines [X.] stehe im Ermessen des [X.], das sich auch auf die Frage erstrecke, ob der Haftungsschuldner für eine oder mehrere Pflichtverletzungen in Anspruch genommen werde. Im Rahmen dieser Ermessensausübung habe das [X.] in seiner Einspruchsentscheidung allein auf die schuldhafte Verletzung der Steuerentrichtungspflicht bei Fälligkeit der Steuern abgestellt. Die Begründung einer Ermessensentscheidung könne bis zum Ergehen der Einspruchsentscheidung angepasst werden (Senatsurteil vom 08.11.1994 - VII R 1/93, [X.]/NV 1995, 657). Kämen mehrere Pflichtverletzungen in Betracht, sei nicht zwingend die zeitlich zuerst eingetretene Pflichtverletzung maßgeblich. Es könne dahinstehen, ob ggf. auch eine Pflichtverletzung des [X.] durch Nichtabgabe der Steuererklärungen vorgelegen habe.

Das [X.] beantragt,

1.   

das Urteil der Vorinstanz aufzuheben, soweit der Klage stattgegeben worden ist, und die Klage in vollem Umfang abzuweisen;

2.   

die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

1.  

die Revision des [X.] zurückzuweisen und

2.   

das Urteil der Vorinstanz aufzuheben, soweit die Klage abgewiesen wurde, und das [X.] unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom ...2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom ...2019 zu verpflichten, den Haftungsbescheid auch im Übrigen zurückzunehmen.

Der Kläger bestreitet, faktischer Geschäftsführer der [X.]. gewesen zu sein. Die von ihm mit dem Zusatz "i.A." gezeichneten Erklärungen seien sämtlich von seinem Bruder, dem Geschäftsführer der [X.]., beauftragt und autorisiert gewesen. Er sei daher als Bote und nicht als Vertreter tätig gewesen.

Für die insolvenzrechtliche Zuordnung komme es nicht auf die Pflichtverletzung, sondern auf die Steuerschuld selbst an. Es sei nicht relevant, ob der Haftungsanspruch in einen Bescheid münde oder nicht; denn dieser konkretisiere lediglich den bereits entstandenen Anspruch.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision des [X.] ist begründet und führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, soweit das [X.] der Klage stattgegeben hat (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--). Der [X.] entscheidet in der Sache selbst und weist die Klage auch im Übrigen ab.

Dagegen ist die Revision des [X.] unbegründet.

1. Die Revision des [X.] ist begründet.

Die Entscheidung des [X.] verletzt Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 Satz 1 [X.]O). Der Kläger hat keinen Anspruch auf Rücknahme des [X.] gemäß § 130 Abs. 1 [X.].

Das [X.] hat zu Unrecht angenommen, dass der Haftungsbescheid bezüglich der Steuerschuld 2008 (Umsatzsteuer und Körperschaftsteuer) gemäß § 125 Abs. 1 und 4 [X.] nichtig sei, weil diesbezüglich eine Insolvenzforderung nach § 38 [X.] vorliege, die nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des [X.] nur durch Anmeldung zur Insolvenztabelle hätte geltend gemacht werden dürfen.

a) Nach § 130 Abs. 1 [X.] kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Da [X.] mangels Festsetzung einer Steuer keine Steuerbescheide i.S. von § 155 [X.] sind, können sie nach Eintritt der Bestandskraft nur nach §§ 130131 [X.] geändert werden ([X.]sbeschluss vom 24.01.1995 - VII B 142/94, [X.], 224, [X.] 1995, 227, unter II.1.c).

b) Der streitgegenständliche Haftungsbescheid vom ...2014 ist unanfechtbar geworden.

Der [X.] kann dahingestellt lassen, ob der Haftungsbescheid dem Kläger ausweislich der [X.] bereits am ...2014 wirksam bekanntgegeben wurde; denn jedenfalls hat das [X.] den Haftungsbescheid nochmals mit Schreiben vom ...2015 übersandt. Einspruch gegen den Haftungsbescheid hat der Kläger nicht eingelegt.

c) Der Haftungsbescheid vom ...2014 ist im Hinblick auf die Haftung für Umsatzsteuer und Körperschaftsteuer für 2008 nicht nichtig.

aa) Eine Rücknahme nach § 130 Abs. 1 [X.] kommt auch in Betracht, wenn der streitgegenständliche Verwaltungsakt --wie im vorliegenden Fall vom Kläger [X.] nichtig ist. Zwar entfaltet ein nichtiger Verwaltungsakt keine Bindungswirkung und müsste daher nicht korrigiert werden (Wedelstädt in [X.], [X.] § 130 Rz 7; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], § 130 [X.] Rz 10). Jedoch geht auch von einem nichtigen Verwaltungsakt der Rechtsschein der Wirksamkeit aus, so dass auch dieser zurückgenommen werden kann (vgl. BFH-Urteil vom 09.05.1985 - IV R 172/83, [X.], 506, [X.] 1985, 579, und [X.]surteil vom 27.06.1994 - VII R 110/93, [X.], 181, [X.] 1995, 341).

bb) Nach Eröffnung eines Insolvenzverfahrens dürfen Steuerbescheide, die Insolvenzforderungen betreffen, nicht mehr ergehen. Das folgt aus dem in § 251 Abs. 2 Satz 1 [X.] normierten Grundsatz, nach dem Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis, die Insolvenzforderungen sind, nach Insolvenzeröffnung nur nach den Vorschriften der [X.] geltend gemacht werden dürfen. Diese Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis sind zur Insolvenztabelle anzumelden und --im Falle des [X.] durch [X.] nach § 251 Abs. 3 [X.] gegenüber dem Insolvenzverwalter festzustellen. Ein förmlicher Steuerbescheid über einen Steueranspruch, der eine Insolvenzforderung betrifft, ist unwirksam (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Urteil vom 05.04.2017 - II R 30/15, [X.], 510, [X.] 2017, 971, Rz 13, m.w.N.). Für [X.] gilt das gleichermaßen (vgl. [X.] vom 31.01.2012 - I S 15/11, [X.], 989).

Steuer- und Haftungsschulden, die die insolvenzfreie Vermögenssphäre betreffen, sind hingegen als originäre Schulden des Insolvenzschuldners diesem gegenüber durch Bescheid geltend zu machen (s. allgemein BFH-Urteil vom 10.02.2015 - IX R 23/14, [X.], 202, [X.] 2017, 367, Rz 35 f.; vgl. auch [X.]surteil vom 21.07.2009 - VII R 50/08, [X.], 15).

(1) Ob eine Insolvenzforderung vorliegt, richtet sich danach, wann der Rechtsgrund für den streitigen Anspruch gelegt worden ist (vgl. BFH-Urteile in [X.], 6, Rz 19; vom 16.05.2013 - IV R 23/11, [X.], 233, [X.] 2013, 759, Rz 19; [X.] vom 01.04.2008 - X B 201/07, [X.], 925, unter II.2.c, m.w.N.). Der Rechtsgrund für [X.], zu denen auch der Haftungsanspruch nach § 69 [X.] gehört (§ 37 Abs. 1 [X.]), ist gelegt, wenn der gesetzliche ([X.] verwirklicht wird (BFH-Urteil in [X.], 233, [X.] 2013, 759).

Für die insolvenzrechtliche Begründung der [X.] kommt es deshalb weder auf die zugrunde liegende Steuerschuld noch auf den Erlass des [X.] an, sondern darauf, ob die für die Haftung maßgebliche Handlung bzw. Unterlassung vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens begangen wurde ([X.]surteil in [X.], 6, Rz 19, m.w.N.).

(2) Welches die maßgebliche Handlung bzw. Unterlassung ist, ist dem Haftungsbescheid zu entnehmen, um dessen Wirksamkeit die Beteiligten streiten. Die Aussage des [X.] zu dem Entstehen eines abstrakten, materiell-rechtlichen [X.] (Rz 19) ist insoweit missverständlich.

Das [X.] muss für die Festsetzung des [X.] auf eine bestimmte Pflichtverletzung abstellen (vgl. auch [X.] in Tipke/[X.], § 69 [X.] Rz 45). Bezogen auf die konkrete Handlung bzw. Unterlassung müssen alle Tatbestandsvoraussetzungen des § 69 [X.] erfüllt sein. Kommen als Pflichtverletzungen die Nichtabgabe von Steuererklärungen und die Nichtzahlung fälliger Steuern in Betracht, können sich durch den bloßen Zeitablauf Unterschiede bei der Feststellung der Kausalität der Pflichtverletzung für den eingetretenen Schaden ergeben ([X.] in Tipke/[X.], § 69 [X.] Rz 45). Dies ist darauf zurückzuführen, dass sich die wirtschaftlichen Verhältnisse der Gesellschaft verschlechtern können und das [X.] nach der ständigen Rechtsprechung eine Haftungsquote zu ermitteln hat. Im Übrigen handelt es sich beim Erlass eines [X.] um eine Ermessensentscheidung (§ 191 Abs. 1 [X.]) und im Rahmen des Ermessens ist der Verschuldensgrad zu berücksichtigen (vgl. [X.]sbeschluss vom 08.06.2007 - VII B 280/06, [X.]NV 2007, 1822, unter [X.]), der sich wiederum nur auf eine bestimmte Pflichtverletzung beziehen kann.

cc) Unter Anwendung dieser Grundsätze ergibt sich durch Auslegung des streitgegenständlichen [X.], dass die maßgebliche Pflichtverletzung auch betreffend die Umsatz- und Körperschaftsteuer 2008 in 2011 --und damit nach Insolvenzeröffnung ...2010-- begangen worden ist.

(1) [X.] eines Verwaltungsakts bestimmt sich nicht nach dem, was die Behörde mit ihrer Erklärung gewollt hat ([X.]surteil vom [X.] - VII R 24/18, [X.], 90, Rz 16). Vielmehr wird ein Verwaltungsakt mit dem Inhalt wirksam, mit dem er bekanntgegeben wird (§ 124 Abs. 1 Satz 2 [X.]). Maßgebend ist, wie der Adressat selbst nach den ihm bekannten Umständen den materiellen Gehalt der Erklärung unter Berücksichtigung von Treu und Glauben (§ 133 des Bürgerlichen Gesetzbuchs) verstehen konnte (BFH-Urteile vom 18.07.1994 - X R 33/91, [X.], 294, [X.] 1995, 4, und vom 30.11.1999 - IX R 57/98, [X.]NV 2000, 678, unter [X.], jeweils m.w.N.). Die Auslegung des Verwaltungsakts muss dabei einen Anhalt in der bekanntgegebenen Regelung haben (BFH-Urteil vom 27.11.1996 - X R 20/95, [X.], 348, [X.] 1997, 791, unter 3., m.w.N.).

(2) Im Haftungsbescheid vom ...2014 hat das [X.] zwar die Nichtabgabe der Steuererklärungen 2008 zum gesetzlichen Abgabetermin im Jahr 2009 erwähnt, maßgeblich jedoch auf die Nichtzahlung der fälligen Steuern im Jahr 2011 abgestellt.

Eingangs stellt das [X.] auf S. 2 fest, dass es sich um eine nach Insolvenzeröffnung begründete [X.] handele. Auf S. 1 der Anlage zum Haftungsbescheid weist das [X.] darauf hin, dass die rückständigen [X.] auf [X.] beruhen, weil die [X.] nicht eingereicht worden seien. Die sich aus den [X.] ergebenden Nachzahlungen habe der Kläger nicht entrichtet. Durch die Verletzung der Zahlungspflicht habe er die Nichterfüllung der [X.] und die Entstehung von Säumniszuschlägen bewirkt (S. 3 der Anlage zum Haftungsbescheid).

Eine Gesamtschau dieser Ausführungen ergibt, dass der Ausfall der Steuerschuld und damit auch der [X.] durch die Nichtzahlung der in den [X.] festgesetzten Beträge verursacht worden ist. Darin liegt deshalb die nach dem Haftungsbescheid maßgebliche Pflichtverletzung, die zur Tatbestandsverwirklichung geführt hat.

Bezüglich der Steuerschuld für 2008 lag somit die vom [X.] als haftungsbegründend aufgeführte Pflichtverletzung nach dem Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung am ...2010, so dass keine Insolvenzforderung vorliegt.

(3) Der Verweis des [X.] auf die Einspruchsentscheidung vom ...2019 geht dagegen fehl.

Zwar kommt es grundsätzlich auf den Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung, mithin regelmäßig auf die Einspruchsentscheidung an. Denn im Einspruchsverfahren ist die Sache gemäß § 367 Abs. 2 Satz 1 [X.] in vollem Umfang erneut zu prüfen.

Die Einspruchsentscheidung vom ...2019 betrifft allerdings, was das [X.] in seiner Argumentation übersieht, nicht den Haftungsbescheid vom ...2014, sondern den streitgegenständlichen Antrag auf Rücknahme dieses [X.] nach § 130 Abs. 1 [X.]. Damit liegen zwei voneinander streng zu trennende Verfahren vor. Das den Haftungsbescheid vom ...2014 betreffende Verfahren war abgeschlossen, weil dieser mangels Einspruch bestandskräftig geworden war. Die Erwägungen des [X.] in der Einspruchsentscheidung vom ...2019 haben somit keine Auswirkungen auf den Haftungsbescheid und die darin zugrunde gelegte Pflichtverletzung.

2. Die Revision des [X.] ist unbegründet.

a) Soweit der Kläger erstmals im Revisionsverfahren bestreitet, sogenannter faktischer Geschäftsführer der [X.]. gewesen zu sein, kann er mit diesem neuen Vortrag nicht gehört werden. Aus der Funktion des Revisionsverfahrens und aus § 118 Abs. 2 [X.]O folgt, dass neues tatsächliches Vorbringen zu den materiell-rechtlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Rechts im Revisionsverfahren nicht berücksichtigt werden kann (vgl. [X.]surteil vom 05.10.1999 - VII R 152/97, [X.], 140, [X.] 2000, 93, unter 2.).

Das [X.] hat sich hinsichtlich der faktischen Geschäftsführung erkennbar auf die Ausführungen des [X.] im Haftungsbescheid vom ...2014 gestützt, die nachvollziehbar und ausreichend sind. Hiergegen hat der Kläger im gesamten erstinstanzlichen Verfahren keine Einwendungen erhoben, obwohl er dazu in der Lage gewesen wäre.

b) Soweit der Kläger in seinem Schriftsatz vom ...2020 die Restschuldbefreiung erwähnt, die nach einer in der Akte des [X.] (Bl. 19a) befindlichen Telefonnotiz am ...2016 erteilt worden sein soll, kommt es darauf nicht an. Denn die [X.] ist nach den obigen Ausführungen erst nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens i.S. des § 38 [X.] begründet worden und wird deshalb von einer Restschuldbefreiung (§ 301 [X.]) nicht erfasst ([X.]surteil in [X.], 6, Rz 18).

c) Selbst wenn man zu dem Schluss käme, der Kläger sei kein Verfügungsberechtigter der [X.]. nach §§ 69 Satz 1, 35 [X.] gewesen, führte dies zwar zur Rechtswidrigkeit des [X.]. Daraus ergäbe sich jedoch kein Anspruch des [X.] auf Rücknahme des rechtswidrigen Verwaltungsakts gemäß § 130 Abs. 1 [X.].

Die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts ist nach dem Wortlaut des § 130 Abs. 1 [X.] ("kann") eine Ermessensentscheidung der Finanzbehörde i.S. des § 5 [X.], die grundsätzlich nur eingeschränkter gerichtlicher Nachprüfung unterliegt (§§ 102, 121 [X.]O). Sie kann im finanzgerichtlichen Verfahren nur daraufhin überprüft werden, ob die Ablehnung der Rücknahme rechtswidrig gewesen ist, weil das [X.] die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (vgl. BFH-Urteil vom 06.12.2012 - V R 1/12, [X.]NV 2013, 906). Stellt das Gericht einen Ermessensfehler fest, ist es grundsätzlich auf die Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsentscheidung beschränkt.

Ermessensfehler liegen jedoch nicht vor. Die Ablehnung der Rücknahme eines (rechtswidrigen) unanfechtbaren Verwaltungsakts ist grundsätzlich nicht ermessensfehlerhaft, wenn der Betroffene die Gründe, die seiner Auffassung nach eine Rücknahme rechtfertigen, mit einem fristgerecht eingelegten Rechtsbehelf gegen den Verwaltungsakt hätte vorbringen können (BFH-Urteil vom 23.09.2009 - XI R 56/07, [X.], 12, unter [X.]; [X.]sbeschluss vom 22.06.1999 - VII B 244/98, [X.]NV 1999, 1583). So liegt der Fall hier, weil der Kläger erstmals im Revisionsverfahren bestritten hat, faktischer Geschäftsführer gewesen zu sein.

3. [X.] beruht auf § 135 Abs. 2 [X.]O.

Meta

VII R 38/19

19.01.2021

Bundesfinanzhof 7. Senat

Urteil

vorgehend Sächsisches Finanzgericht, 24. September 2019, Az: 3 K 269/19, Urteil

§ 5 AO, § 35 AO, § 69 AO, § 125 AO, § 130 Abs 1 AO, § 191 AO, § 38 InsO, § 87 InsO, § 301 InsO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 19.01.2021, Az. VII R 38/19 (REWIS RS 2021, 9454)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 9454

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