Bundesgerichtshof, Urteil vom 11.11.2014, Az. VI ZR 76/13

6. Zivilsenat | REWIS RS 2014, 1462

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Gegenstand

Arzthaftungsprozess: Anforderungen an die tatrichterliche Auseinandersetzung mit widersprüchlichen Sachverständigengutachten; tatsächliche Vermutung für das Unterbleiben einer intensivmedizinischen Maßnahme bei fehlender Dokumentation


Leitsatz

1. In Arzthaftungsprozessen hat der Tatrichter die Pflicht, Widersprüchen zwischen Äußerungen mehrerer Sachverständiger von Amts wegen nachzugehen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, auch wenn es sich um Privatgutachten handelt.

2. Legt eine Partei ein medizinisches Gutachten vor, das im Gegensatz zu den Erkenntnissen des gerichtlich bestellten Sachverständigen steht, so darf der Tatrichter den Streit der Sachverständigen nicht dadurch entscheiden, dass er ohne nachvollziehbare Begründung einem von ihnen den Vorzug gibt.

3. Das Fehlen der Dokumentation einer aufzeichnungspflichtigen Maßnahme begründet die Vermutung, dass die Maßnahme unterblieben ist. Diese Vermutung entfällt weder deshalb, weil in der Praxis mitunter der Pflicht zur Dokumentation nicht nachgekommen wird, noch deshalb, weil die Dokumentation insgesamt lückenhaft ist.

Tenor

Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des 7. Zivilsenats des [X.] vom 16. Januar 2013 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

1

Die Parteien streiten um Schadensersatzansprüche aus ärztlicher Behandlung.

2

Die Klägerin zu 1 ist die Witwe und Alleinerbin, die Kläger zu 2 und 3 sind die Kinder von [X.] (im Folgenden: Patient), bei dem im [X.] 2002 eine hochgradige exzentrische Mitralinsuffizienz bei partiellem Sehnenabriss des hinteren [X.] festgestellt wurde. Der Beklagte zu 2, geschäftsführender Direktor und Chefarzt der Herzchirurgie der von der [X.] zu 1 betriebenen Universitätsklinik, empfahl ihm deshalb eine operative Korrektur der Mitralklappe. Die [X.] wurde am 20. August 2002 durchgeführt, ohne dass es dabei zu Komplikationen kam. Nach der [X.] wurde der Patient auf die kardiochirurgische Intensivstation verlegt, wo die Beklagte zu 3 als Krankenschwester zu seiner Überwachung eingeteilt war, die Beklagte zu 5 die Schichtdienstleitung im Pflegedienst innehatte und die Beklagte zu 4 - eine weitere Krankenschwester - ihren Dienst in einem anderen Krankenzimmer versah. Zwischen 22.30 Uhr und 23.00 Uhr kam es beim Patienten zu einem reanimationspflichtigen Zustand. Er wurde reanimiert und intubiert. Am Folgetag, dem 21. August 2002, wurde bei ihm eine hypoxische Hirnschädigung festgestellt. Am 23. September 2002 verstarb der Patient in einer Rehabilitationsklinik.

3

Die Kläger, die insbesondere von Versäumnissen bei der postoperativen Pflege und Überwachung des Patienten auf der Intensivstation ausgehen und die Einwilligung des Patienten in die [X.] für unwirksam halten, nehmen die [X.] auf Schadensersatz in Anspruch. Die Klägerin zu 1 verlangt - neben der Feststellung der Pflicht der [X.] zum Ersatz weitergehender Schäden - aus auf sie übergegangenem Recht des Patienten Schmerzensgeld und materiellen Schadensersatz wie insbesondere Fahrtkosten sowie aus eigenem Recht Beerdigungskosten und entgangenen Unterhalt. Die Kläger zu 2 und 3 machen - neben der Feststellung der Schadensersatzverpflichtung der [X.] auch ihnen gegenüber - ebenfalls entgangenen Unterhalt geltend. Bezüglich der behaupteten Überwachungs- und Pflegeversäumnisse haben die Kläger insbesondere vorgetragen, die Beklagte zu 3 habe das Krankenzimmer des ununterbrochen überwachungsbedürftigen Patienten um 22.30 Uhr verlassen und sei erst um 22.48 Uhr zurückgekehrt, als der Patient, dessen Atemfrequenz nicht in der gebotenen Weise alarmbewehrt überwacht worden sei, bereits bewusstlos und der Atemstillstand bereits eingetreten gewesen sei. Sie habe ihn damit pflichtwidrig 18 Minuten unbeaufsichtigt gelassen. Der Tod des Patienten sei auf die durch den Atemstillstand verursachte Sauerstoffunterversorgung des Gehirns zurückzuführen.

4

Das [X.] hat die Klage abgewiesen, das Berufungsgericht die dagegen gerichtete Berufung der Kläger zurückgewiesen. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgen die Kläger ihre Begehren weiter.

Entscheidungsgründe

I.

5

Das [X.]erufungsgericht hat [X.]ehandlungs- und Aufklärungsfehler verneint.

6

Hinsichtlich etwaiger [X.]ehandlungsfehler hat es nicht für erwiesen erachtet, dass die [X.]eklagte zu 3 den Patienten länger als die - unter den gegebenen Umständen nach den getroffenen Feststellungen noch nicht zu beanstandenden - drei Minuten unbeaufsichtigt gelassen hat. Die [X.]eklagte zu 3 habe glaubhaft angegeben, die im Intensivpflegedokumentationssystem "Care Vue" (im Folgenden: [X.]) um 22.35 Uhr vorgenommene Abspeicherung von den [X.]ettnachbarn des Patienten betreffenden Daten noch im Krankenzimmer des Patienten vorgenommen zu haben und erst dann weggegangen zu sein, um für den Patienten ein Schmerzmittel zu besorgen. Auch sei die Feststellung des [X.], die [X.]eklagte zu 3 sei gegen 22.38 Uhr zurückgekommen, als gerade der erste Alarm "Herzfrequenz unter 60" losgegangen sei, nicht zu beanstanden. Denn die [X.]eklagte zu 3, die - wie die [X.]eklagte zu 5 - bei ihrer Anhörung vor dem [X.]erufungsgericht einen gewissenhaften und glaubwürdigen Eindruck gemacht habe, habe glaubhaft angegeben, sie sei zunächst ins Nachbarzimmer zu [X.], der diensthabenden Ärztin, gegangen, die dem Patienten sodann Dipidolor verordnet habe, habe hierauf das Medikament am "Stützpunkt" bei der [X.] zu 5 abgeholt und habe sich dann zurück ins Krankenzimmer des Patienten begeben, was alles sehr schnell gegangen sei. Ihre Darstellung stimme mit den Angaben der Zeugin [X.] und der [X.] zu 5 überein, die von keinen Verzögerungen berichtet und angegeben hätten, den Notruf der [X.] zu 3 schon gehört zu haben, als diese quasi noch auf dem Rückweg gewesen sei. Auch aufgrund der räumlichen Verhältnisse auf der Intensivstation sei nachvollziehbar, dass die Abwesenheit der [X.] zu 3 rund drei Minuten gedauert habe. Für eine Rückkehr der [X.] zu 3 gegen 22.38 Uhr spreche im Übrigen der Alarm "Herzfrequenz über 120" von 22.45 Uhr, den der Sachverständige überzeugend als kardiale Antwort auf die medikamentöse Reanimation gewertet habe, weshalb die Reanimation zwischen 22.38 Uhr und 22.45 Uhr begonnen haben müsse.

7

Dass die [X.] zu 3 und 5 in ihrem "[X.]" vom 22. August 2002 und die Zeugin [X.] in ihrem [X.]ericht vom Januar 2003 den Hilferuf der [X.] zu 3 erst für 22.48 Uhr bzw. den [X.]eginn der Reanimation für 22.50 Uhr angegeben hätten, lasse nicht auf eine mehr als dreiminütige Abwesenheit schließen. Die Zeitangaben könnten auf einem Irrtum beruhen. Denn die [X.]eteiligten hätten glaubhaft angegeben, den [X.]ericht ohne Abgleich mit den Krankenakten aus dem Gedächtnis gefertigt zu haben; zudem habe für sie die Rekonstruktion der genauen Uhrzeit nicht im Vordergrund gestanden. Auch dass die Werte der [X.]lutgasanalyse erst um 22.53 Uhr vorgelegen hätten, beweise keine längere Abwesenheit der [X.] zu 3. Denn nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen könne man davon ausgehen, dass die dafür erforderliche [X.]lutentnahme gegen 22.50 Uhr erfolgt sei, was nicht ungewöhnlich sei, da die Reanimation Vorrang habe und erst danach die [X.]lutwerte bestimmt würden. Hinzu komme, dass die Systemzeiten des [X.] einerseits und des [X.]s andererseits voneinander abweichen könnten und die Datenabspeicherung im [X.] um 22.35 Uhr nicht bedeute, dass die [X.]eklagte zu 3 das Krankenzimmer nicht erst ein oder zwei Minuten später verlassen habe. Da der [X.] deshalb bezogen auf die Care-Vue-Zeit auch etwas später als 22.38 Uhr eingetreten sein könne, könne sich die von den Klägern monierte [X.] zwischen [X.]eginn der Reanimation und [X.]lutabnahme relativieren. Weiter beweise auch der bei der [X.]lutgasanalyse gemessene hohe [X.] nicht, dass der Patient länger als drei Minuten unbeaufsichtigt gewesen sei. Denn der Sachverständige habe überzeugend ausgeführt, als Ursache hierfür komme neben einem etwa 10 bis 15-minütigen Atemstillstand bzw. einer länger andauernden Hypoventilation auch die Gabe von Natriumbicarbonat während der Reanimation in [X.]etracht. Dass Natriumbicarbonat im Rahmen der [X.] verabreicht worden sei, erscheine möglich, auch wenn eine Natriumbicarbonatgabe nicht dokumentiert worden sei. Zuletzt lasse sich auch aus der unstreitigen Tatsache, dass es zu einem hypoxischen Hirnschaden gekommen sei, nicht schließen, dass es vor der Reanimation eine länger andauernde Atemdepression und somit eine länger andauernde Abwesenheit der [X.] zu 3 gegeben haben müsse. Denn der Sachverständige habe überzeugend ausgeführt, es sei ebenso denkbar, dass sich die Schädigung erst während der Reanimation ereignet habe.

8

Auch einen [X.]ehandlungsfehler im Zusammenhang mit der [X.] habe das [X.] zu Recht verneint. Zwar sei zwischen den [X.]en unstreitig, dass die [X.] nicht alarmbewehrt gewesen sei, doch sei die im Streitfall festgestellte Handhabung nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen üblich und ausreichend. Zuletzt sei die beim Patienten durchgeführte [X.] nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen auch indiziert gewesen.

9

[X.]ezüglich der von den Klägern erhobenen Aufklärungsrüge hat das [X.]erufungsgericht insbesondere ausgeführt, eine medikamentöse [X.]ehandlung und ein Hinausschieben der [X.] hätten nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen keine Heilungschancen geboten, vielmehr die Gefahr mit sich gebracht, dass sich die Herzfunktion verschlechtere und sich das Risiko bei einer späteren [X.] erheblich erhöhe oder die [X.] ganz undurchführbar werde. Echte Alternativen, über die aufzuklären gewesen wäre, hätten damit nicht vorgelegen.

II.

1. Diese Erwägungen halten den Angriffen der Revision nicht in vollem Umfang stand.

a) Nicht zu beanstanden ist allerdings die [X.]eurteilung des [X.]erufungsgerichts, der Patient sei im Hinblick auf die durchgeführte [X.] ordnungsgemäß aufgeklärt worden, die von ihm erteilte [X.]seinwilligung mithin wirksam. Die von der Revision insoweit erhobenen Verfahrensrügen hat der Senat geprüft und nicht für durchgreifend erachtet. Von einer [X.]egründung wird gemäß § 564 Satz 1 ZPO abgesehen.

b) Die Annahme des [X.]erufungsgerichts, es sei nicht erwiesen, dass die [X.]eklagte zu 3 den Patienten länger als drei Minuten unbeaufsichtigt gelassen habe, beruht indes auf [X.].

aa) Grundsätzlich ist die Würdigung der [X.]eweise dem Tatrichter vorbehalten. An dessen Feststellungen ist das Revisionsgericht gemäß § 559 Abs. 2 ZPO gebunden. Dieses kann lediglich nachprüfen, ob sich der Tatrichter entsprechend dem Gebot des § 286 ZPO mit dem Prozessstoff und den [X.] umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt hat, die [X.]eweiswürdigung also vollständig und rechtlich möglich ist und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt (ständige Rechtsprechung, vgl. z.[X.]. Senatsurteile vom 16. April 2013 - [X.], [X.], 1045 Rn. 13; vom 8. Juli 2008 - [X.], [X.], 1126 Rn. 7; vom 1. Oktober 1996 - [X.], [X.], 362, 364; [X.], Urteil vom 5. Oktober 2004 - [X.], [X.]Z 160, 308, 316 f. mwN). Solche Fehler sind im Streitfall gegeben.

bb) [X.] beruht zunächst die Annahme des [X.]erufungsgerichts, aus der Tatsache, dass es beim Patienten zu einem hypoxischen Hirnschaden gekommen sei, lasse sich nicht schließen, dass es vor der Reanimation eine länger andauernde Atemdepression und somit eine länger andauernde Abwesenheit der [X.] zu 3 gegeben habe. Die Revision beanstandet zu Recht, das [X.]erufungsgericht habe zu dieser Einschätzung nicht gelangen dürfen, ohne sich mit den entgegenstehenden Ausführungen aus dem von den Klägern vorgelegten Privatgutachten des Dr. W. auseinanderzusetzen.

(1) In [X.] hat der Tatrichter nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung die Pflicht, Widersprüchen zwischen Äußerungen mehrerer Sachverständiger von Amts wegen nachzugehen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, auch wenn es sich um Privatgutachten handelt (z.[X.]. Senatsbeschlüsse vom 11. März 2014 - [X.], [X.], 895 Rn. 12; vom 9. Juni 2009 - [X.], [X.], 1406 Rn. 7; Senatsurteile vom 10. Oktober 2000 - [X.], [X.], 525, 526; vom 28. April 1998 - [X.], [X.], 853, 854; vom 24. September 1996 - VI ZR 303/95, [X.], 1535, 1536; [X.]/Pauge, Arzthaftungsrecht, 12. Aufl., Rn. 765). Legt eine [X.] ein medizinisches Gutachten vor, das im Gegensatz zu den Erkenntnissen des gerichtlich bestellten Sachverständigen steht, so darf der Tatrichter den Streit der Sachverständigen nicht dadurch entscheiden, dass er ohne einleuchtende und logisch nachvollziehbare [X.]egründung einem von ihnen den Vorzug gibt (Senatsbeschluss vom 11. März 2014 - [X.], [X.], 895 Rn. 12; [X.], Urteile vom 24. September 2008 - [X.], [X.], 1676 Rn. 11 mwN; vom 22. September 2004 - [X.], [X.], 676, 677 f.).

(2) Diesen Grundsätzen ist das [X.]erufungsgericht im Streitfall nicht gerecht geworden.

Das [X.]erufungsurteil stützt sich hinsichtlich der Annahme, aus dem Eintritt eines hypoxischen [X.] lasse sich nicht schließen, dass es vor der Reanimation eine länger andauernde Atemdepression und somit eine länger dauernde Abwesenheit der [X.] zu 3 gegeben haben müsse, auf die - vom [X.]erufungsgericht als überzeugend erachteten - Ausführungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen. Dieser hatte zuletzt ausgeführt, die Ursache des hypoxischen [X.] sei spekulativ; er müsse nicht schon vor der Reanimation eingetreten sein. Vielmehr könne er sich auch erst während der Reanimation ereignet haben; denn dies lasse sich auch bei einer als zügig und erfolgreich beschriebenen Reanimation nicht sicher vermeiden.

Nicht in den [X.]lick genommen werden dabei die dieser Einschätzung entgegenstehenden Ausführungen des [X.] Dieser ist in seiner gutachterlichen Stellungnahme vom 8. Februar 2009 davon ausgegangen, die Hypoxie habe sich "zeitlich mit Sicherheit vor der Reanimation" ereignet, und dies nachvollziehbar damit begründet, dass "ausweislich des [X.] rasch nach [X.]eginn der Reanimation mit einem Sauerstoffdruck [X.] von 218 eine suffiziente Oxygenierung bestanden" habe. Dem [X.]erufungsurteil lässt sich weder entnehmen, dass das [X.]erufungsgericht diese fachliche Einschätzung bedacht hat, noch, aus welchen Gründen es der Einschätzung des gerichtlich bestellten Sachverständigen den Vorzug gegenüber derjenigen des Privatgutachters gegeben hat. Entsprechende Darlegungen waren im Streitfall umso mehr veranlasst, als - worauf die Revision zutreffend hinweist - ursprünglich auch der gerichtliche Sachverständige davon ausgegangen war, dass angesichts der rasch erfolgreich verlaufenen Reanimation davon ausgegangen werden müsse, "dass im Wesentlichen die Phase vor der Reanimation zerebrotoxisch war" (vgl. Ergänzende Stellungnahme zum intensivmedizinischen Fachgutachten vom 29. Mai 2008, [X.]). Erst im weiteren Verfahren hat er diese Aussage dahingehend relativiert, angesichts der nach allen [X.]erichten erfolgreichen Reanimation erscheine "die Theorie wahrscheinlich, dass die Hypoxie bereits vorher eingetreten war", [X.]eweise hierfür fänden sich aber nicht (so Ergänzende Stellungnahme zum intensivmedizinischen Gutachten vom 20. September 2009, [X.]) bzw. im Rahmen einer Reanimation sei es auch bei optimalen [X.]edingungen immer möglich, dass es zu einem solchen hypoxischen Schaden wie beim Patienten komme (so Anhörung vom 7. Juli 2010). Insoweit drängte sich im Übrigen die vom [X.]erufungsgericht nicht geklärte Frage auf, ob der Sachverständige mit der Möglichkeit einer Entstehung des hypoxischen [X.] erst im Rahmen der Reanimation nur eine rein theoretische Möglichkeit, die sich im Streitfall auf keine tragfähigen Anhaltspunkte stützen kann, dargelegt hat. Wäre dies der Fall, hätte sie im Rahmen der [X.]eweiswürdigung durch das Gericht außer [X.]etracht zu bleiben (vgl. Senatsurteile vom 24. April 2001 - [X.]/00, [X.], 1262, 1264; vom 24. Juni 1980 - [X.], [X.], 940, 941; [X.], Urteile vom 11. April 2013 - [X.], NJW-RR 2014, 112 Rn. 17; vom 11. Juli 1991 - [X.], [X.]Z 115, 141, 146).

cc) [X.] beruht darüber hinaus die Annahme des [X.]erufungsgerichts, auch der bei der [X.]lutgasanalyse gemessene [X.] von 92,0 beweise nicht, dass der Patient länger als drei Minuten unbeaufsichtigt gewesen sei.

(1) Das [X.]erufungsgericht begründet dies mit der Überlegung, der Sachverständige habe überzeugend ausgeführt, als Ursache dieses [X.]s komme neben einem etwa 10 bis 15-minütigen Atemstillstand bzw. einer über einen längeren Zeitraum andauernden Hypoventilation die - nach Auffassung des [X.]erufungsgerichts möglicherweise erfolgte - Gabe von Natriumbicarbonat in [X.]etracht. Dass die Gabe von Natriumbicarbonat nicht dokumentiert sei, stehe dem nicht entgegen. Denn der [X.]eklagte zu 2 habe glaubhaft erklärt, die Gabe von Natriumbicarbonat im Rahmen einer Reanimation sei in der Herzchirurgie der [X.] zu 1 Routine. Auch der Sachverständige habe bestätigt, dass es sich um eine Routinemaßnahme handle, sowie darüber hinaus die Vermutung geäußert, dass die Gabe von Natriumbicarbonat bei vielen Reanimationen nicht vermerkt werde. Da die Dokumentation im Streitfall auch an anderen Stellen lückenhaft sei, liege das nicht fern.

(2) Diese Ausführungen verkennen die [X.]edeutung der Dokumentation. Nach gefestigter Rechtsprechung des erkennenden Senats begründet das Fehlen der Dokumentation einer aufzeichnungspflichtigen Maßnahme die Vermutung, dass die Maßnahme unterblieben ist (vgl. Senatsurteil vom 14. Februar 1995 - [X.], [X.]Z 129, 6, 10; Senatsbeschluss vom 9. Juni 2009 - [X.], [X.], 1406 Rn. 4; ferner [X.]/Pauge, Arzthaftungsrecht, 12. Aufl., Rn. 548; [X.]/[X.], [X.], 7. Aufl., [X.] Rn. 247; vgl. jetzt auch § 630h Abs. 3 [X.]G[X.]). Diese Vermutung entfällt weder deshalb, weil in der Praxis mitunter der Pflicht zur Dokumentation nicht nachgekommen wird (Senatsurteil vom 14. Februar 1995, aaO), noch deshalb, weil die Dokumentation insgesamt lückenhaft ist. Ob das [X.]erufungsgericht - was unklar bleibt - die [X.] der Gabe von Natriumbicarbonat im Rahmen einer Reanimation aus medizinischen Gründen bejaht oder ob es diese Frage letztlich offengelassen hat, kann für das Revisionsverfahren dahinstehen. Denn die [X.] ist jedenfalls revisionsrechtlich zu unterstellen. War die Gabe von Natriumbicarbonat im Rahmen der Reanimation aber dokumentationspflichtig, so wäre zugunsten der Kläger zu vermuten, dass kein Natriumbicarbonat verabreicht wurde, und die - von den [X.] im Übrigen erst nach dem entsprechenden Hinweis des gerichtlichen Sachverständigen angesprochene und zudem auch dann nicht konkret behauptete - Gabe von Natriumbicarbonat als alternative Ursache für den hohen [X.] mithin ausscheidet.

dd) Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das [X.]erufungsgericht zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre, wenn es sich mit den Ausführungen des [X.] auseinandergesetzt oder/und die Gabe von Natriumbicarbonat als [X.] für den hohen [X.] ausgeschlossen hätte, war das [X.]erufungsurteil gemäß § 563 Abs. 1 ZPO aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das [X.]erufungsgericht zurückzuverweisen.

2. Im Rahmen der erneuten [X.]efassung wird das [X.]erufungsgericht auch die besondere [X.]edeutung zu berücksichtigen haben, die dem von den [X.] zu 3 und 5 nur zwei Tage nach dem Vorfall verfassten "[X.]" als [X.]estandteil der [X.]ehandlungsdokumentation zukommt. Legt man die Darlegungen im "[X.]", die Ansätze einer Erklärung für die dort angegebene Abwesenheitsdauer erkennen lassen ("Die Ampulle musste erst durch die Schichtleitung [X.][…] ausgeschlossen werden."), zugrunde, so ist von einer deutlich längeren Abwesenheitsdauer der [X.] zu 3 als die vom [X.]erufungsgericht in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen noch als tolerabel angesehene Dauer von drei Minuten auszugehen. Ob vor diesem Hintergrund im Rahmen der erforderlichen Gesamtwürdigung ein schadensursächlicher Überwachungsfehler als bewiesen angesehen werden kann, wird das [X.]erufungsgericht zu bewerten haben. Freilich wird es dabei - wie auch bei der [X.]ewertung der Aussagen des Sachverständigen - zu beachten haben, dass das "Für-Wahr-Erachten" im Sinne des § 286 ZPO vom [X.] keine absolute oder unumstößliche Gewissheit im Sinne des wissenschaftlichen Nachweises verlangt, sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (vgl. z.[X.]. Senatsurteil vom 26. Oktober 1993 - [X.], [X.], 52, 53; ferner [X.]/Pauge, Arzthaftungsrecht, 12. Aufl., Rn. 593).

Im Übrigen wird das [X.]erufungsgericht im Rahmen der erneuten [X.]efassung auch Gelegenheit haben, das weitere wechselseitige Vorbringen der [X.]en in der Revisionsinstanz zu berücksichtigen.

[X.]                         Wellner                         Pauge

             von [X.]                      Offenloch

Meta

VI ZR 76/13

11.11.2014

Bundesgerichtshof 6. Zivilsenat

Urteil

Sachgebiet: ZR

vorgehend OLG Karlsruhe, 16. Januar 2013, Az: 7 U 66/11

§ 286 ZPO, § 630h BGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 11.11.2014, Az. VI ZR 76/13 (REWIS RS 2014, 1462)

Papier­fundstellen: NJW 2015, 411 REWIS RS 2014, 1462

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