Bundesfinanzhof, Urteil vom 18.12.2013, Az. III R 61/11

3. Senat | REWIS RS 2013, 171

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Gegenstand

Kindergeldanspruch einer in Deutschland wohnenden und in Polen beschäftigten Arbeitnehmerin für in Polen lebende Kinder


Leitsatz

NV: Auch wenn Deutschland aufgrund der Zuständigkeitsregelungen der EWGV Nr. 1408/71 eigentlich nicht für die Erbringung von Familienleistungen zuständig ist, kann es trotzdem aufgrund EuGH-Rechtsprechung verpflichtet sein, die Differenz zwischen den Familienleistungen nach ausländischem Recht und dem Kindergeld nach deutschem Recht zu gewähren (Anschluss an BFH-Urteil vom 16.5.2013 III R 8/11, BFHE 241, 511, BStBl II 2013, 1040) .

Tatbestand

1

I. Die aus [X.] stammende Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) lebt seit September 2009 in der [X.]. Bis Ende Oktober 2010 war sie in [X.] als Krankenschwester sozialversicherungspflichtig beschäftigt.

2

Die Klägerin beantragte Kindergeld für ihre Kinder A und B, die weiterhin in [X.] zur Schule gingen. Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) lehnte den Antrag durch Bescheid vom 21. Juni 2010 sowie durch Einspruchsentscheidung vom 20. Juli 2010 ab. Die Familienkasse war der Ansicht, für die Klägerin seien wegen der Beschäftigung in [X.] die [X.] Regelungen über Familienleistungen einschlägig.

3

Das Finanzgericht ([X.]) wies die Klage ab, mit welcher die Familienkasse verpflichtet werden sollte, Kindergeld für die beiden Kinder ab Dezember 2009 zu gewähren. Es war der Ansicht, die Klägerin habe im streitigen Zeitraum der [X.] Sozialversicherung unterlegen, nicht der [X.]. Sollte die Verordnung ([X.]) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der [X.] zu- und abwandern (VO Nr. 1408/71) --in der für den streitigen Zeitraum geltenden [X.] anwendbar sein, so unterläge die Klägerin hinsichtlich des Kindergeldes den [X.] Rechtsvorschriften. Sollte die genannte Verordnung nicht anwendbar sein, dann käme § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) zur Anwendung mit der Folge, dass ein Kindergeldanspruch zu verneinen sei. Denn es könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Klägerin Familienleistungen erhalten hätte, wenn sie in [X.] einen entsprechenden Antrag gestellt hätte.

4

Zur Begründung der Revision trägt die Klägerin vor, das [X.] habe ihr eine Verletzung der Mitwirkungspflicht vorgeworfen, obwohl sie nicht anwaltlich vertreten gewesen sei. Es hätte ihr Gelegenheit geben müssen, etwa noch erforderliche Unterlagen nachzureichen. Sie haben keinen Anspruch auf Kindergeld nach [X.] Recht gehabt, so dass ihr Kindergeld nach [X.] Recht zustehe.

5

Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Streitsache an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen, hilfsweise, Kindergeld auf ihren Antrag hin zu bewilligen.

6

Die Familienkasse beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

7

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--).

Entscheidungsgründe

8

II. Die Familienkasse … der [X.] ist aufgrund eines Organisationsaktes (Beschluss des Vorstands der [X.] Nr. 21/2013 vom 18. April 2013 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes, Amtliche Nachrichten der [X.], Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff., Nr. 2.2 der Anlage 2) im Wege des gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung der [X.] (Familienkasse) eingetreten (s. dazu Beschluss des [X.] --BFH-- vom 3. März 2011 V B 17/10, [X.], 1105).

III.

9

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 [X.]O). Das [X.] war zu Unrecht der Ansicht, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Kindergeld nach [X.] Rechtsvorschriften, weil entweder [X.] zur Gewährung von Familienleistungen zuständig sei oder weil § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG die Gewährung von Kindergeld nach [X.] Rechtsvorschriften ausschließe.

1. Die Klägerin unterliegt dem Anwendungsbereich der [X.] 1408/71, da sie im streitigen Zeitraum in das [X.] Sozialversicherungssystem integriert war (s. hierzu Senatsurteil vom 4. August 2011 III R 55/08, [X.], 316, [X.], 619). Zuständig für die Gewährung von Familienleistungen ist [X.] (Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der [X.] 1408/71). Hieraus folgt jedoch nicht, dass deshalb ein Anspruch nach [X.] Recht entfällt. An der gegenteiligen Auffassung, die der Senat früher vertreten hat (z.B. Senatsurteil vom 24. März 2006 III R 41/05, [X.], 551, [X.], 369), hält er im Hinblick auf die Urteile des Gerichtshofs der [X.] ([X.]) vom 20. Mai 2008 [X.]/06 in der Rechtssache Bosmann (Slg. 2008, [X.]) und vom 12. Juni 2012 [X.]/10, [X.]/10 in der Rechtssache [X.] und [X.] ([X.]/Entscheidungsdienst 2012, 999) nicht mehr fest. Es besteht keine unionsrechtlich begründete Sperrwirkung des Art. 13 Abs. 1 der [X.] 1408/71, welche einer Anwendung der Rechtsvorschriften des nach der [X.] 1408/71 nicht zuständigen Mitgliedstaats entgegenstehen könnte. Auch bedarf es keines zusätzlichen Anwendungsbefehls, um trotz der sich aus der [X.] 1408/71 ergebenden Zuständigkeit eines ausländischen Mitgliedstaats die Anwendung inländischen Rechts zu ermöglichen (Senatsurteil vom 16. Mai 2013 III R 8/11, [X.], 511, [X.], 1040).

2. Da der [X.] mit dem Beschäftigungsmitgliedstaat identisch ist, wäre eine Konkurrenz zwischen dem Kindergeldanspruch der Klägerin nach §§ 62 ff. EStG und einem etwaigen Anspruch auf Familienleistungen nach [X.]m Recht nicht nach Art. 10 der VO Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der [X.] 1408/71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der [X.] zu- und abwandern, aufzulösen, sondern nach nationalem Recht (s. [X.]-Urteil in [X.], 999, Rz 73 ff.; Senatsurteil vom 18. Juli 2013 III R 51/09, [X.], 222). Die nationalen Vorschriften sehen in § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG zwar vor, dass Kindergeld nicht für ein Kind gezahlt wird, für das Leistungen für Kinder, die im Ausland gewährt werden und dem Kindergeld oder einer der unter § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG genannten Leistungen vergleichbar sind, zu zahlen sind oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wären. Aus der [X.]-Entscheidung in der Rechtssache [X.] und [X.] in [X.], 999 ergibt sich jedoch, dass in einem Fall, in dem in einem anderen Mitgliedstaat dem Kindergeld vergleichbare Leistungen gewährt werden, der Anspruch auf Kindergeld nach dem EStG nur in entsprechender Höhe gekürzt, jedoch nicht völlig ausgeschlossen werden darf, wenn andernfalls das Freizügigkeitsrecht des [X.] beeinträchtigt wäre (Senatsurteil in [X.], 511, [X.], 1040). Das [X.] wird im zweiten Rechtsgang festzustellen haben, ob und ggf. in welcher Höhe die Klägerin im streitigen Zeitraum einen Anspruch auf Kindergeld nach [X.]m Recht hatte. Hierzu verweist der Senat auf sein Urteil vom 13. Juni 2013 III R 63/11 ([X.], 34).

3. Da das angefochtene Urteil aus materiell-rechtlichen Gründen aufzuheben ist, kommt es auf den geltend gemachten Verfahrensfehler nicht mehr an.

Meta

III R 61/11

18.12.2013

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend FG Düsseldorf, 13. Juli 2011, Az: 15 K 2727/10 Kg, Urteil

Art 13 Abs 2 Buchst a EWGV 1408/71, Art 10 EWGV 574/72, § 65 Abs 1 S 1 Nr 2 EStG 2009, EStG VZ 2009, EStG VZ 2010

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 18.12.2013, Az. III R 61/11 (REWIS RS 2013, 171)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 171

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