Bundessozialgericht, Beschluss vom 27.09.2011, Az. B 4 AS 42/11 B

4. Senat | REWIS RS 2011, 2993

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Gegenstand

(Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Zurückverweisung nach § 160a Abs 5 SGG - Verfahrensfehler - Verletzung rechtlichen Gehörs durch Zugrundelegung von Erkenntnissen aus Aktenvermerken ohne vorherigen richterlichen Hinweis - Überraschungsentscheidung - kein absoluter Revisionsgrund - Wegfall des Arbeitslosengeld II)


Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 18. November 2010 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Streitig ist die Absenkung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts an den Kläger im Zeitraum vom 1.7. bis [X.] um die volle Regelleistung.

2

Der im streitigen Zeitraum noch unter 25-jährige Kläger (geb 1984) bezieht seit dem 1.1.2005 fast ununterbrochen [X.] Durch [X.]escheid vom 13.2.2008 bewilligte der [X.]eklagte [X.] für den Zeitraum vom 1.3. bis 31.8.2008, geändert aufgrund der Anpassung der Höhe der Regelleistung durch [X.]escheid vom 18.5.2008 (Erhöhung auf 351 Euro ab 1.7.2008).

3

In einer Eingliederungsvereinbarung vom [X.] verpflichtete sich der Kläger, mindestens fünf [X.]ewerbungen pro Monat in den nächsten sechs Monaten zu erstellen. Weiter heißt es in der Eingliederungsvereinbarung: "Nachweise über Ihre [X.]ewerbungen sind bei Ihrem zuständigen Vermittler/Fallmanager bei jeder Vorsprache oder auf Aufforderung vorzulegen." Ferner sind Art und Umfang des Nachweises der [X.] in der Eingliederungsvereinbarung bestimmt. Die Rechtsfolgenbelehrung gibt im Wesentlichen den Gesetzestext wieder.

4

In einem Vermerk vom [X.] ist festgehalten, dass der Kläger keine Unterlagen zur Dokumentation der [X.] habe vorlegen können. Er sei aufgefordert worden, die Unterlagen bis zum [X.] nachzureichen. Laut Aktenvermerk vom 25.4.2008 hatte der Kläger auch an diesem Tag bei dem Meldetermin keine Unterlagen hinsichtlich der [X.] dabei. Es sei ihm aufgegeben worden, diese bis zum [X.] nachzureichen. Nunmehr werde keine Nachfrist mehr eingeräumt. [X.]ei einer weiteren Vorsprache ohne entsprechende Nachweise müsse der Kläger mit einer Sanktion rechnen. [X.]ei einem Kontakt am 27.5.2008 fehlten laut Aktenvermerk wiederum Unterlagen des [X.] im Hinblick auf die Dokumentation der [X.]. Auf den Eintritt einer Sanktion sei er hingewiesen worden.

5

Durch [X.]escheid vom [X.] verfügte der [X.]eklagte die Absenkung des [X.] für den Zeitraum vom 1.7. bis [X.] um die Regelleistung in Höhe von 347 Euro und [X.]eschränkung der existenzsichernden Leistungen auf die Übernahme der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung. Zugleich wurde der [X.]ewilligungsbescheid vom 13.2.2008 aufgehoben. Zur [X.]egründung wird ausgeführt, der Kläger habe trotz [X.]elehrung über die Rechtsfolgen in der Eingliederungsvereinbarung seine dort festgelegten Pflichten nicht umfassend erfüllt, da er seine [X.] nicht hinreichend nachgewiesen habe. Eine Verkürzung des [X.] komme nach Abwägung aller Umstände des Einzelfalls nicht in [X.]etracht, da er wiederholt auf das Erfordernis der Vorlage der [X.] hingewiesen worden sei. Auf Antrag könnten in angemessenem Umfang ergänzende Sach- oder geldwerte Leistungen gewährt werden. Den Widerspruch des [X.] hiergegen wies der [X.]eklagte durch Widerspruchsbescheid vom 16.7.2008 zurück.

6

Die Klage hiergegen hat das [X.] durch Gerichtsbescheid vom 18.9.2008 abgewiesen. Das [X.] hat die [X.]erufung des [X.] zurückgewiesen (Urteil vom 18.11.2010). Zur [X.]egründung hat das [X.] ausgeführt, die Voraussetzungen für die Aufhebung der [X.]ewilligungsbescheide nach § 40 [X.][X.] II iVm § 330 Abs 2 [X.] und § 48 [X.] seien aufgrund einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse durch das zu sanktionierende und damit eine Absenkung rechtfertigende Verhalten des [X.] gegeben. Die Entscheidung des [X.]eklagten, von einer Verkürzung der Absenkungszeit abzusehen, sei nicht zu beanstanden. Der Kläger sei auch hinreichend über die Rechtsfolgen belehrt worden. Zwar dürfte der allgemeine Hinweis auf die Folgen bei der Verletzung von Grundpflichten in der Eingliederungsvereinbarung unter [X.]eachtung der Rechtsprechung des [X.] nicht ausreichend sein. Der Kläger sei jedoch nach der Überzeugung des Senats - auf Grundlage der Vermerke aus der Verwaltungsakte - in den [X.] am 25.4. und 27.5.2008 auf die Rechtsfolgen der Absenkung in Höhe von 347 Euro bei fortdauernder Nichtdokumentation der [X.] hinreichend aufgeklärt worden.

7

Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des [X.]ayerischen [X.] hat der Kläger [X.]eschwerde zum [X.] eingelegt. Er macht ua Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 [X.] [X.]G) geltend. Das [X.] habe die Vermerke über die Gespräche vom 25.4. und 27.5.2008 nicht ins Verfahren eingeführt. Dadurch sei er in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden; es liege eine Überraschungsentscheidung vor. Denn das [X.] habe auch in der mündlichen Verhandlung nicht auf die [X.] in den Vermerken [X.]ezug genommen.

8

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des [X.] hat im Sinne der Aufhebung des Urteils und der Zurückverweisung der Sache an das [X.] Erfolg (§ 160a Abs 5 [X.]G).

9

Wie der Kläger formgerecht (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 [X.]G) und zutreffend gerügt hat, ist das Urteil des [X.] verfahrensfehlerhaft zustande gekommen (vgl § 160 Abs 2 [X.] [X.]G). Das Urteil darf nicht auf tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte gestützt werden, die bisher nicht erörtert worden sind, wenn dadurch der Rechtsstreit eine unerwartete Wendung nimmt ([X.] [X.]eschluss vom 12.6.2003 - 1 [X.]vR 2285/02). Darin liegt eine Verletzung rechtlichen Gehörs, denn wenn es auch keine allgemeine Aufklärungspflicht des Gerichts über die Rechtslage gibt, so liegt jedoch dann ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör und das Gebot eines fairen Verfahrens vor, wenn ein Gericht ohne vorherigen Hinweis auf rechtliche und tatsächliche Gesichtspunkte abstellt, mit denen auch ein gewissenhafter und kundiger [X.] nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (vgl [X.] [X.]eschluss vom 29.5.1991 - 1 [X.]vR 1383/90 - [X.]E 84, 188). So liegt der Fall hier im Hinblick auf die in den Aktenvermerken über die [X.] des [X.] am 25.4. und 27.5.2008 enthaltenen [X.], auf die das [X.] in seiner Entscheidung tragend abstellt.

Zwar hatte der Kläger Kenntnis von den Aktenvermerken, denn der Klägervertreter hat kurz vor dem Termin Akteneinsicht auch in die [X.]eklagtenakte genommen. Gleichwohl ist der Kläger hier in seinem rechtlichen Gehör dadurch verletzt worden, dass das [X.] seine Rechtsauffassung in der mündlichen Verhandlung nicht dargelegt hat, soweit es von einer hinreichenden Rechtsfolgenbelehrung in den mündlichen [X.], gestützt auf die Erkenntnisse aus den Vermerken, ausgeht. Die von dem [X.] in [X.]ezug genommenen Vermerke und die dort benannten [X.] sind nach Aktenlage weder Gegenstand der Erörterungen, noch der rechtlichen [X.]ewertungen im Gerichtsverfahren gewesen. Im Gerichtsbescheid des [X.] sind sie weder im Tatbestand, noch in den Entscheidungsgründen erwähnt. Im Gegensatz zum Vortrag des [X.]eklagten in der [X.]eschwerdeerwiderung werden die in den Vermerken benannten [X.] im Widerspruchsbescheid vom 16.7.2008 ebenfalls nicht erwähnt. Zwar reicht es nicht aus, dass ein bestimmter Gesichtspunkt im unmittelbar vorangehenden Verfahren nicht angesprochen worden ist. Vielmehr kommt es darauf an, ob der [X.]eteiligte auch aufgrund sonstiger nahe liegender Erkenntnisquellen nicht auf den Gedanken kommen konnte, dass es darauf ankommen würde ([X.] [X.]eschluss vom 11.10.2006 - [X.] [X.]/06 [X.]). So liegt der Fall hier.

Auch ein gewissenhafter und kundiger [X.] brauchte selbst unter [X.]erücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht damit zu rechnen, dass die Absenkungsentscheidung mit den [X.] aus den Vermerken der Gespräche vom 25.4. und 27.5.2008 begründet werden könnte. Diese sind - soweit ersichtlich - zu keinem Zeitpunkt Gegenstand der rechtlichen und tatsächlichen Auseinandersetzung gewesen. In einer solchen Situation gebietet der Grundsatz des fairen Verfahrens einen Hinweis des Gerichts auf die Umstände, die es als entscheidungserheblich zugrunde legen will.

Auf dieser Verletzung des rechtlichen Gehörs kann die Entscheidung des [X.] auch beruhen. Die Verletzung des rechtlichen Gehörs ist im sozialgerichtlichen Verfahren nicht als absoluter Revisionsgrund geregelt (vgl § 202 [X.]G iVm § 547 ZPO), sodass der Vortrag erforderlich ist, dass die nach dem Gehörsverstoß ergangene Gerichtsentscheidung insgesamt von dem Verfahrensfehler beeinflusst worden ist (vgl [X.] [X.]eschluss vom 26.6.2007 - [X.] 2 U 55/07 [X.] - [X.] 4-1750 § 227 [X.] 1; [X.] Urteil vom 10.8.1995 - 11 [X.] - [X.] 3-1750 § 227 [X.] 1). Das ist vorliegend der Fall. Der Kläger hat geltend gemacht, dass er sich in Kenntnis der Erwägungen des [X.] darauf berufen hätte, dass die [X.] am 25.4. und 27.5.2008 nicht ordnungsgemäß gewesen seien, ggf wäre beantragt worden, den Verfasser der Vermerke hierzu zu vernehmen. Mit dem Ergebnis dieser [X.]eweisaufnahme hätte sich das [X.] alsdann ebenso wie mit dem Vortrag des [X.] zu dem Ablauf der [X.] auseinandersetzen und diese in seine [X.]eweiswürdigung einbeziehen müssen.

Da die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G vorliegen, steht es im Ermessen des erkennenden Senats, nach § 160a Abs 5 [X.]G zu verfahren. Im Rahmen dieser Ermessensausübung ist der Senat nicht daran gebunden, dass der Kläger nur die Zulassung der Revision und nicht oder ggf hilfsweise die Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie die Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz beantragt hat. Der Senat verweist den Rechtsstreit maßgeblich aus prozessökonomischen Gründen an das [X.] zurück. Ein durch Zulassung eröffnetes Revisionsverfahren könnte zu keinem anderen Ergebnis führen.

Meta

B 4 AS 42/11 B

27.09.2011

Bundessozialgericht 4. Senat

Beschluss

Sachgebiet: AS

vorgehend SG Regensburg, 18. September 2008, Az: S 8 AS 701/08, Gerichtsbescheid

§ 160a Abs 5 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 62 SGG, § 202 SGG, § 547 ZPO, § 31 Abs 1 S 1 Nr 1 Buchst b SGB 2 vom 10.10.2007, § 31 Abs 3 S 2 SGB 2 vom 10.10.2007, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 27.09.2011, Az. B 4 AS 42/11 B (REWIS RS 2011, 2993)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 2993

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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