Bundesgerichtshof, Beschluss vom 21.04.2022, Az. AK 18/22

3. Strafsenat | REWIS RS 2022, 3428

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Gegenstand

Fortdauer der Untersuchungshaft: Dringender Tatverdacht der Mitgliedschaft in der ausländischen terroristischen Vereinigung Islamischer Staat


Tenor

Der Haftbefehl des [X.] vom 22. Mai 2020 ([X.]) wird aufgehoben.

Die Beschuldigte ist in dieser Sache aus der Untersuchungshaft zu entlassen.

Gründe

I.

1

Die Beschuldigte ist am 7. Oktober 2021 aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des [X.] vom 22. Mai 2020 ([X.]) festgenommen worden und befindet sich seither ununterbrochen in Untersuchungshaft.

2

Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, die Beschuldigte habe sich durch zwei selbständige Handlungen von April 2015 bis 2017 oder 2018 in [X.] als Mitglied an der [X.]" ([X.]) beteiligt, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet gewesen seien, Mord, Totschlag, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen zu begehen, davon in einem Fall zugleich ihre Fürsorge- und Erziehungspflicht gegenüber drei Personen unter 16 Jahren gröblich verletzt und dadurch die Schutzbefohlenen in die Gefahr gebracht, in ihrer körperlichen und psychischen Entwicklung erheblich geschädigt zu werden und einen kriminellen Lebenswandel zu führen, strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2, §§ 171, 52, 53 StGB. Die Beschuldigte habe sich aufgrund eigenen Entschlusses gemeinsam mit ihrem Ehemann und ihren drei Kindern von [X.] aus in das syrische [X.] begeben, sich dort dem [X.] angeschlossen, sich seiner Befehlsgewalt unterworfen und in die Organisation eingegliedert, die Kinder im Sinne der Ideologie des [X.] erzogen, den Haushalt geführt, während sich [X.] nach Erhalt einer militärischen Ausbildung bei einer technischen Einheit des [X.] betätigt habe, und damit insgesamt aktiv die Ziele des [X.] gefördert.

II.

3

Die Prüfung, ob die Untersuchungshaft fortdauern darf, führt zur Aufhebung des Haftbefehls. Die Beschuldigte ist nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen der ihr vorgeworfenen mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen [X.] im Ausland nicht dringend verdächtig im Sinne des § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO, ebenso wenig der Unterstützung einer solchen [X.]. Die damit verbleibende geringere Straferwartung wegen des dringenden Verdachts der Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht trägt den Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) nicht. Nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen besteht gleichwohl ein die erstinstanzliche Zuständigkeit des [X.] und damit - nach Abgabe des Verfahrens durch den [X.] wegen minderer Bedeutung (§ 142a Abs. 2 Nr. 2 [X.]) - der Generalstaatsanwaltschaft und des Ermittlungsrichters des [X.] begründender Anfangsverdacht für die Begehung einer Straftat nach § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB (§ 142a Abs. 1 Satz 1 und 2, § 120 Abs. 1 Nr. 6 [X.]). Im Einzelnen:

4

1. Die mitgliedschaftliche Beteiligung an einer [X.] setzt zum einen eine gewisse einvernehmliche Eingliederung des [X.] in die Organisation (die Mitgliedschaft) und zum anderen eine aktive Tätigkeit zur Förderung ihrer Ziele (die Beteiligungshandlungen) voraus. Es gilt:

5

a) Die erforderliche Eingliederung des [X.] in die [X.] kommt nur in Betracht, wenn er sie von innen und nicht lediglich von außen her fördert. Insoweit bedarf es zwar keiner förmlichen Beitrittserklärung oder einer förmlichen Mitgliedschaft. Notwendig ist aber, dass der Täter eine Stellung innerhalb der [X.] einnimmt, die ihn als zum Kreis der Mitglieder gehörend kennzeichnet und von den Nichtmitgliedern unterscheidbar macht. Dafür reicht allein die Tätigkeit für die [X.], mag sie auch besonders intensiv sein, nicht aus; denn ein Außenstehender wird nicht allein durch die Förderung der [X.] zu deren Mitglied. Die Mitgliedschaft setzt ihrer Natur nach eine Beziehung voraus, die einer [X.] nicht aufgedrängt werden kann, sondern ihre Zustimmung erfordert. Ein auf lediglich einseitigem Willensentschluss beruhendes Unterordnen und Tätigwerden genügt nicht, selbst wenn der Betreffende bestrebt ist, die [X.] und ihre kriminellen Ziele zu fördern (st. Rspr.; s. etwa [X.], Beschlüsse vom 17. Oktober 2019 - AK 56/19, juris Rn. 28; vom 14. Juli 2021 - AK 37/21, juris Rn. 35 mwN).

6

Die mitgliedschaftliche Beteiligung setzt auf der Grundlage der seit dem 22. Juli 2017 geltenden Legaldefinition der [X.] (§ 129 Abs. 2 StGB) nicht voraus, dass sich der Täter in ihr [X.] integriert (s. [X.], Beschlüsse vom 22. März 2018 - StB 32/17, NStZ-RR 2018, 206, 207 mwN; vom 24. Februar 2021 - AK 9/21, juris Rn. 18; Urteil vom 2. Juni 2021 - 3 StR 21/21, NJW 2021, 2813 Rn. 20). Für die Eingliederung in die Organisation ist somit nicht mehr erforderlich, dass seine Förderungshandlungen von einem einvernehmlichen Willen zur fortdauernden Teilnahme an diesem [X.] getragen sind. Bestehen jedoch bei der zu beurteilenden [X.] - wie dem [X.] - eine ausgeprägte Organisation und ein verbindlicher Gruppenwille, ist auch nach der aktuellen Gesetzeslage dieses von der bisherigen Rechtsprechung verlangte Kriterium von Bedeutung (vgl. hierzu [X.], Beschluss vom 22. Oktober 1979 - StB 52/79, [X.]St 29, 114, 120 ff.; Urteil vom 14. August 2009 - 3 [X.], [X.]St 54, 69 Rn. 128); die Eingliederung in die auf diese Weise strukturierte Personenmehrheit geht typischerweise mit dem einvernehmlichen Willen zur Teilnahme am [X.] einher (s. MüKoStGB/[X.]/Anstötz, 4. Aufl., § 129 Rn. 82). Im Übrigen genügt nach neuem Recht insoweit jedenfalls ein entsprechender Wille zur auf Dauer oder zumindest längere [X.] angelegten Mitwirkung an den Aktivitäten oder an der Verfolgung der Ziele der [X.] (vgl. LK/Krauß, StGB, 13. Aufl., § 129 Rn. 97; [X.][X.], StGB, 2. Aufl., § 129 Rn. 21; ferner [X.]/[X.], 9. Aufl., § 129 Rn. 43).

7

b) Eine Beteiligungshandlung des Mitglieds kann darin bestehen, unmittelbar zur Durchsetzung der Ziele der [X.] beizutragen; sie kann auch darauf gerichtet sein, lediglich die Grundlagen für die Aktivitäten der [X.] zu schaffen oder zu erhalten. Ausreichend ist deshalb die Förderung von Aufbau, Zusammenhalt oder Tätigkeit der Organisation. In Betracht kommt etwa ein organisationsförderndes oder ansonsten vereinigungstypisches Verhalten von entsprechendem Gewicht. In Abgrenzung hierzu fehlt es in Fällen einer bloß formalen oder passiven, für das Wirken der [X.] bedeutungslosen Mitgliedschaft grundsätzlich an einem mitgliedschaftlichen Beteiligungsakt ([X.], Beschlüsse vom 15. Mai 2019 - AK 22/19, [X.]R StGB § 129a Abs. 1 Mitgliedschaft 5 Rn. 24 mwN; vom 14. Juli 2021 - AK 37/21, juris Rn. 37).

8

2. Gemessen daran belegen die bislang ermittelten Tatsachen nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit die dargelegten Voraussetzungen für eine Eingliederung der Beschuldigten in den [X.] und eine aktive Tätigkeit für dessen Zwecke.

9

a) Nach dem gegenwärtigen Stand der Ermittlungen ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts von folgendem Sachverhalt auszugehen:

Die Beschuldigte ist mit dem [X.] Staatsangehörigen      [X.]     verheiratet. Aus der Ehe stammen zwei in den Jahren 2011 und 2014 geborene Kinder. Die Familie lebte gemeinsam mit einem weiteren, im Jahr 2004 geborenen [X.] der Beschuldigten in M.    . Beide Eheleute waren Anhänger einer [X.] Ideologie.

Im April 2015 reiste die Familie über die [X.] in das damalige Herrschaftsgebiet des [X.] in [X.] aus. Die Beschuldigte verbrachte einen Monat in "Frauenhäusern" des [X.], während [X.] eine religiöse und militärische Ausbildung erhielt. Anschließend zog die Familie nach [X.]. Dort lebte sie bis März 2017 in einer Mietwohnung. Die Beschuldigte kümmerte sich um den Haushalt und die Kinder. Im Februar 2016 gebar sie ein weiteres Kind. [X.] war derweil für eine technische Einheit des [X.] tätig. Die Familie war in [X.] Bombardierungen ausgesetzt und floh deshalb Ende März 2017 nach [X.]. Als auch diese Stadt einige Monate später unter Beschuss stand, begaben sich die Familienmitglieder erneut auf die Flucht. Im Dezember 2017 gerieten sie in kurdische Gefangenschaft. Die kommenden nahezu vier Jahre verbrachte die Beschuldigte in einem Lager in [X.], bis sie am 6. Oktober 2021 mit ihren vier Kindern nach [X.] zurückgeführt wurde.

b) Für den der Beschuldigten darüber hinaus vorgeworfenen Sachverhalt, sie habe sich in [X.] einvernehmlich in den [X.] eingegliedert und diesen von innen heraus gefördert, etwa indem sie ihren Ehemann bei seiner Tätigkeit für die Organisation aktiv unterstützte und die Kinder im Sinne der [X.]-Ideologie erzog, besteht nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen keine hohe Wahrscheinlichkeit.

aa) Die Beschuldigte hat bestritten, eine eigene Rolle im [X.] gespielt zu haben. Sie sei nur auf Druck ihres "[X.]" in diesen "[X.]" ausgereist. Er habe damit gedroht, ihr die Kinder wegzunehmen, wenn sie nicht mitkomme. Im [X.]-Frauenhaus habe sie angegeben, dass sie nur ihrer Familie wegen nach [X.] gekommen sei, nicht für die Organisation arbeiten wolle und weder Geld noch eine Behausung von dieser annehmen werde. Die Wohnung in [X.] habe sie gegen eine geringe Zahlung direkt vom Eigentümer angemietet. Fortan habe sie strenge Vorgaben von [X.] erhalten und kaum jemals das Haus verlassen dürfen, was er mit körperlicher Gewalt durchgesetzt habe. Er habe ihre elektronische Kommunikation überwacht und teilweise selbst geführt. Die Kinder habe sie nicht nach der [X.]-Ideologie erzogen, sondern privat von syrischen Nachbarn unterrichten lassen, die dem [X.] nicht genehm gewesen seien. Die [X.]-Täter seien psychisch kranke Menschen.

bb) Aus sonstigen Beweismitteln gehen eine Eingliederung der Beschuldigten in den [X.] und ein vereinigungsbezogenes Verhalten ihrer Person ebenfalls nicht mit einem höheren Wahrscheinlichkeitsgrad hervor:

Interviews, welche sie während ihres Aufenthalts im kurdischen Gefangenenlager [X.] Journalisten gab, belegen, dass sie das Leben in [X.] zu Beginn ihres Aufenthalts "eigentlich schön" fand und dachte, "man könne dort nach dem Islam leben". Sie sei allerdings nur Hausfrau gewesen, habe nicht rausgehen dürfen und betrachte ihre Ausreise heute als Fehler.

Die Auswertung von Kommunikationsdaten hat ergeben, dass die Beschuldigte sich aus freien Stücken in [X.] aufhielt, wobei zum Teil nicht bekannt ist, ob sie es war, die kommunizierte, oder ihr Ehemann, der im [X.] unter ihrem Namen auftrat. Das gilt für einen der Beschuldigten zugeschriebenen Facebook-Account, einen Telegram-Chat und WhatsApp-Nachrichten, die im September 2015 an die Schwester der Beschuldigten nach [X.] verschickt wurden. Keine der versandten Mitteilungen verhielt sich ausdrücklich zum [X.].

Zeugenvernehmungen sind bisher unergiebig gewesen. Die in [X.] verbliebene Schwester hat zu Tätigkeiten der Beschuldigten in [X.] nichts bekunden können. Ein wegen Mitgliedschaft im [X.] verurteilter Zeuge, der die Familie in [X.] besucht hatte, hat ausgesagt, die Beschuldigte sei stets mit allen Kindern zu Hause gewesen. Er, der Zeuge, habe die Frau bei den Besuchen nicht zu Gesicht bekommen ("Ganz normal. Also Frau sieht man ja sowieso nicht …").

Vom [X.] übersandte Unterlagen schließlich betreffen allein den Ehemann der Beschuldigten und thematisieren ihre Rolle nicht.

c) Nach allem ergibt sich zwar, dass die Beschuldigte während ihres Aufenthalts in [X.] keine Distanz zur [X.]-Herrschaft erkennen ließ und zu keiner [X.] gegenüber Dritten äußerte, nicht aus freien Stücken dorthin gegangen zu sein. Sie hatte als Islamistin auch ein Motiv für die Ausreise nach [X.]. Nach vorläufiger Würdigung ist ihre anderslautende Einlassung unglaubhaft.

Anhaltspunkte dafür, dass der [X.] nicht nur den Ehemann, sondern auch die Beschuldigte als der [X.] angehörig betrachtete, sind dagegen nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen nicht mit einem höheren Wahrscheinlichkeitsgrad festzustellen. Hinweise darauf hätten etwa die religiöse Unterweisung ihrer Person, die vom [X.] vermittelte Hochzeit mit einem Mitglied, die Überlassung einer von der Organisation besetzten Wohnung und an bzw. für die Beschuldigte von der [X.] geleistete Zahlungen bieten können. Derartiges haben die bisherigen Ermittlungen jedoch nicht zutage gebracht. Der Umstand, dass der [X.] sie für einen kurzen [X.]raum nach ihrer Ankunft in [X.] in "Frauenhäusern" wohnen ließ, vermag allein den einvernehmlichen Willen zu einer fortdauernden Teilnahme am [X.] bzw. zur Mitwirkung an den Aktivitäten oder der Verfolgung der Ziele der [X.] nicht hinreichend zu belegen.

Beteiligungshandlungen von Seiten der Beschuldigten sind ebenfalls nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen nicht hochwahrscheinlich. Hierauf können wie bei anderen [X.] aus dem ehemaligen Herrschaftsgebiet des [X.] etwa die eigenständige und intrinsisch motivierte Ausreise nach [X.], die Heirat von ihnen seitens der Organisation zugeführten Mitgliedern, indoktrinative Kindererziehung mit dem Ziel, den Nachwuchs seinerseits zu Mitgliedern oder Unterstützern der [X.] zu formen, das Bewerben der Organisation im [X.], der Versuch, andere [X.] zur Ausreise zum [X.] zu bewegen, die Beherbergung von [X.]-Angehörigen, die häusliche Pflege von verwundeten Kämpfern, die Ausbeutung von [X.], der Besuch von [X.]-Frauentreffs und Scharia-Unterricht oder das Tragen einer Kalaschnikow in der Öffentlichkeit hinweisen. Insoweit bestehen in Bezug auf die Beschuldigte keine Erkenntnisse.

Damit erschöpfte sich ihr Verhalten nach dem gegenwärtigen Stand der Ermittlungen in einem alltäglichen Leben im Herrschaftsgebiet des [X.] sowie im Gebären und Aufziehen der eigenen Kinder. Diese Betätigungen müssen für sich gesehen noch keine Beteiligungsakte darstellen (s. [X.], Beschlüsse vom 22. März 2018 - StB 32/17, NStZ-RR 2018, 206, 207; vom 23. Juni 2020 - StB 19/20 und 20/20, nicht veröffentlicht; vom 21. April 2022 - AK 14/22; ferner [X.]/[X.], 5. Aufl., § 129 Rn. 38), wenngleich auch solche neutralen Handlungen, wenn sie bewusst auf die Förderung der Ziele des [X.] angelegt sind, einen [X.]sbezug aufweisen können. Dafür, dass die Beschuldigte ihre alltäglichen Verrichtungen mit der entsprechenden Willensrichtung besorgte, fehlt es vorliegend jedoch an Anknüpfungstatsachen. Auch der polizeiliche [X.] hat Ende März 2022 zur Akte vermerkt, es sei unbekannt, ob und wie die Beschuldigte den [X.] unterstützt habe. Gleiches gelte für die Indoktrinierung und religiöse Einflussnahme auf die Kinder, über die ebenfalls keine Erkenntnisse bestünden.

3. Nach dem derzeit zugrunde zu legenden Sachverhalt hat sich die Beschuldigte auch nicht wegen Unterstützung einer terroristischen [X.] im Ausland (§ 129a Abs. 1, Abs. 5 Satz 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB) strafbar gemacht. Konkrete, die [X.] objektiv und subjektiv fördernde Tätigkeiten haben sich, wie dargelegt, bislang nicht ergeben (zum Begriff des Unterstützens s. etwa [X.], Beschlüsse vom 17. Oktober 2018 - AK 37/18, juris Rn. 14 ff.; vom 28. April 2020 - StB 13/20, juris Rn. 22 f., jeweils mwN).

4. Damit bleibt es, was den dringenden Tatverdacht betrifft, (nur) bei der Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht im Sinne des § 171 StGB in drei rechtlich zusammentreffenden Fällen (§ 52 StGB).

Die hohe Wahrscheinlichkeit der Tatbegehung folgt insoweit nach der derzeitigen Beweislage zum einen daraus, dass die Beschuldigte ihre drei kleinen Kinder vorsätzlich aus der Bundesrepublik [X.] in ein Kriegsgebiet verbrachte, in dem Gefahr für deren gesunde körperliche und psychische Entwicklung bestand. Diese Gefahr wird, abgesehen von der allgemeinen Lage vor Ort im Tatzeitraum, unter anderem dadurch deutlich, dass die Familie in [X.] Bombenangriffen ausgesetzt war und der älteste [X.] hochwahrscheinlich körperliche Misshandlungen erlitt - er hat kreisrunde Brandmale an den Beinen, die augenscheinlich vom Ausdrücken brennender Zigaretten stammen. Zum anderen lief jedenfalls dieser Junge aufgrund seines im Vergleich zu den Geschwistern höheren Alters Gefahr, im Herrschaftsgebiet des [X.] dessen Ziele sowie Vorgehensweisen zu übernehmen und durch Handlungen in dessen Sinne einen kriminellen Lebenswandel zu führen.

Die äußeren Umstände lassen derzeit den Schluss auf den subjektiven Tatbestand zu ([X.], Beschlüsse vom 17. Oktober 2019 - AK 56/19, juris Rn. 42 ff., und StB 26/19, [X.]R StGB § 171 Krimineller Lebenswandel 1 mwN; vom 4. März 2020 - StB 7/20 Rn. 40, nicht veröffentlicht; vom 3. März 2021 - AK 10/21, juris Rn. 36; zum erforderlichen Vorsatz [X.], Beschluss vom 8. Oktober 2020 - 4 StR 339/20, NStZ-RR 2020, 372), auf den ebenso wie auf die Wahrscheinlichkeit eines Schadens Bedacht zu nehmen ist (vgl. [X.], Beschluss vom 17. Oktober 2019 - StB 26/19, juris Rn. 26 mwN zum Gefahrbegriff).

[X.]s Strafrecht ist nach §§ 3, 9 Abs. 1 StGB schon deshalb anwendbar, weil die Beschuldigte die mutmaßliche Tatausführung spätestens mit der Ausreise und damit in [X.] begann (s. ausführlich [X.], Beschluss vom 3. März 2021 - AK 10/21, juris Rn. 42 mwN).

5. Für die Verfolgung der Straftat nach § 171 StGB verbleibt es bei der Zuständigkeit des [X.]s. Angesichts der islamistischen Orientierung der Beschuldigten, ihrer letztlich freiwilligen Ausreise mit den Kindern, ihres langjährigen Aufenthalts im Herrschaftsgebiet des [X.] und der Eingliederung ihres Ehemanns in die Organisation besteht nach wie vor ein Anfangsverdacht für ein [X.]sdelikt nach den §§ 129a, 129b StGB.

6. Die Aufrechterhaltung des Haftbefehls und der weitere Vollzug der nunmehr bereits knapp sieben Monate andauernden Untersuchungshaft scheiden aus. Es besteht kein Haftgrund mehr.

Mit dem Wegfall des dringenden Verdachts der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen [X.] im Ausland entfällt der Haftgrund der [X.] gemäß § 112 Abs. 3 StPO.

Der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO), auf den der Haftbefehl vom 22. Mai 2020 gestützt ist, setzt voraus, dass es bei Würdigung der konkreten Einzelfallumstände wahrscheinlicher ist, dass sich die Beschuldigte dem weiteren Strafverfahren entziehen, als dass sie sich ihm zur Verfügung halten werde. Dies ist angesichts des um die [X.]sdelikte reduzierten dringenden Tatverdachts nicht mehr der Fall. Die Straferwartung ist dadurch erheblich geringer. Hinzu kommt, dass die bisherige Untersuchungshaft nach § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB grundsätzlich auf die gegebenenfalls zu verhängende Strafe anzurechnen wäre. Die derzeit zu erwartende Sanktion und der von ihr noch zu verbüßende Teil sind deshalb nicht so hoch, dass sie geeignet erscheinen, einen bedeutsamen Fluchtanreiz auszuüben.

Zudem hat die Beschuldigte nach dem bisherigen Ergebnis der Ermittlungen eine enge Bindung zu ihren Kindern. Da für diese eine Vormundschaft eingerichtet ist, wird sie mit den Behörden kooperieren müssen, wenn sie die Kinder sehen will. Zum [X.], der sein Herrschaftsgebiet verloren hat, wird die Beschuldigte ohnehin nicht zurückkehren können. Kontakt zu ihrem Ehemann, der sich offenbar weiterhin in [X.] Gefangenschaft befindet, besteht ebenfalls seit Jahren nicht mehr. Insgesamt überwiegen deshalb nicht die Umstände, die dafür sprechen, dass sie sich dem weiteren Verfahren entziehen wird.

[X.]                      Berg                      [X.]

Meta

AK 18/22

21.04.2022

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: False

§ 129 Abs 2 StGB, § 129a Abs 1 Nr 1 StGB, § 129b Abs 1 S 1 StGB, § 129b Abs 1 S 2 StGB, § 112 Abs 1 S 1 StPO, § 112 Abs 2 Nr 2 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 21.04.2022, Az. AK 18/22 (REWIS RS 2022, 3428)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 3428

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3 StR 21/21

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