Bundessozialgericht, Beschluss vom 05.07.2016, Az. B 1 KR 18/16 B

1. Senat | REWIS RS 2016, 8805

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - notwendige Beiladung - ernsthafte Möglichkeit eines anderen Leistungspflichtigen - Verfahrensfehler - Leistungskatalog der Krankenversicherung - Bedürftigkeit - Sicherung des verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums


Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des [X.] vom 14. Oktober 2015 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Die bei der beklagten Krankenkasse versicherte Klägerin ist mit ihrem [X.]egehren, gerichtet auf Erstattung von Kosten in unbezifferter Höhe für einen unbekannten Zeitraum infolge - zumindest teilweise mit Privatrezepten - selbst verschaffter, nicht verschreibungspflichtiger Rezeptur- und Fertigarzneimittel (Nasensalbe C. Ol. [X.], [X.] <-Augentropfen oder Nasenspray>, [X.], [X.] Lösung , Aspirin, [X.] , [X.] , [X.], [X.] Augen- und Nasensalbe, Salbe mit den [X.]estandteilen [X.], [X.] und [X.] ) und eines Nahrungsergänzungsmittels ([X.] Flohsamenschalen), sowie deren künftige Kostenübernahme bei der [X.] und den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Das [X.] hat ua ausgeführt, die betroffenen nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel seien auch nicht ausnahmsweise in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung ([X.]) einbezogen (Urteil vom 14.10.2015).

2

Die Klägerin wendet sich mit ihrer [X.]eschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des [X.].

3

II. Die [X.]eschwerde, die die fehlende [X.]eiladung des Jobcenters [X.] rügt, ist zulässig und begründet.

4

1. Die Klägerin bezeichnet den Verfahrensfehler (Revisionszulassungsgrund des § 160 Abs 2 [X.] [X.]) einer unterlassenen unechten notwendigen [X.]eiladung des Jobcenters [X.]
(§ 75 Abs 2 Alt 2 [X.]) entsprechend den Anforderungen des § 160a Abs 2 [X.] [X.]. Der Zulässigkeit der [X.]eschwerde steht es nicht entgegen, dass die Klägerin darauf hinweist, sie habe in der letzten Tatsacheninstanz die [X.]eiladung nicht ausdrücklich gefordert (so aber [X.] [X.]eschluss vom 19.10.2007 - [X.] 11a [X.] 169/06 [X.] - Juris RdNr 5, bezogen auf die beklagte [X.]undesagentur für Arbeit). Soweit das [X.] die Darlegung fordert, dass der [X.]eschwerdeführer beim [X.] ein materielles Recht geltend gemacht hat, das die Notwendigkeit der [X.]eiladung bedingt (so für einen Sonderfall eines zu stellenden Reha-Antrags [X.] [X.]eschluss vom 11.12.1990 - 5 [X.]J 357/89 - Juris RdNr 8, allerdings ohne Auseinandersetzung mit der abweichenden Rspr in [X.]E 13, 217, 219 f = [X.] zu § 75 [X.]), erfüllt die Klägerin diese Voraussetzung. Sie hat keinen Zweifel daran gelassen, dass sie ihr Erstattungsbegehren uneingeschränkt verfolgt. Sie hat in der mündlichen Verhandlung vor dem [X.] ausweislich der Sitzungsniederschrift sogar darauf hingewiesen, das Jobcenter habe sie an die [X.]eklagte verwiesen. Sie hat damit zum Ausdruck gebracht, dass ihr es nicht darum geht, gerade von der [X.] die begehrten Leistungen zu erhalten. Es würde dem Gebot eines fairen Verfahrens und effizienten Rechtsschutzes (Art 19 Abs 4 GG) widersprechen, einer - wie vorliegend - in der letzten Tatsacheninstanz nicht fachkundig vertretenen Klägerin weitergehend abzuverlangen, rechtstechnisch das Unterlassen einer notwendigen unechten [X.]eiladung zu rügen. Diese Rügeobliegenheit mutete einer solchen Klägerin zu, [X.]eiladungsfehler des [X.] zu erkennen und zu beanstanden, obwohl dies einem Volljuristen vergleichbare Kenntnisse des materiellen Rechts und des Prozessrechts voraussetzt (generell das Darlegungserfordernis eines [X.]eiladungsantrags beim [X.] negierend [X.] SozR 3-2200 § 654 [X.] mwN). Der von der Klägerin gerügte Verfahrensfehler liegt insoweit auch vor (hierzu a). Das Urteil des [X.] beruht auf diesem Verfahrensfehler (hierzu b).

5

a) Nach § 75 Abs 2 Alt 2 [X.] sind Dritte beizuladen, wenn sich in dem Verfahren ergibt, dass bei Ablehnung des Anspruchs ein anderer Versicherungsträger, ein Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende, ein Träger der Sozialhilfe, ein Träger der Leistungen nach dem [X.] oder in Angelegenheiten des [X.] Entschädigungsrechts ein Land als leistungspflichtig in [X.]etracht kommt. Hierfür ist es nicht erforderlich, dass es für das [X.] als erkennendes Gericht bereits feststeht, dass der [X.]eklagte nicht leistungspflichtig ist; vielmehr genügt die ernsthafte Möglichkeit eines anderen Leistungsverpflichteten (z[X.] [X.] Urteil vom 25.4.2013 - [X.] 8 [X.] 16/11 R - Juris Rd[X.]0; [X.]E 97, 242 = [X.]-4200 § 20 [X.], Rd[X.]1; [X.], [X.], [X.], § 75 Rd[X.]9c mwN). Es kann bei den aufgewandten und noch aufzuwendenden Kosten (vgl zum Streitgegenstand nach dem SG[X.] II [X.]E 115, 77 = [X.]-4200 § 21 [X.]6, Rd[X.]1 und [X.] [X.]-4200 § 21 [X.]5 Rd[X.] f) für von der Klägerin sich selbst verschaffte bzw zukünftig sich selbst verschaffende nicht verschreibungspflichtige Rezeptur- und Fertigarzneimittel (dazu aa) und für das Nahrungsergänzungsmittel "[X.] Flohsamenschalen" zu [X.] kommen (dazu bb).

6

aa) Für selbst verschaffte nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel hat der erkennende Senat bereits entschieden, dass bei [X.]edürftigkeit [X.] zu prüfen sind, um die Gewährleistung des verfassungsrechtlich gebotenen menschenwürdigen Existenzminimums aus Art 1 Abs 1 iVm Art 20 Abs 1 GG zu sichern (vgl [X.]E 110, 183 = [X.]-2500 § 34 [X.], Rd[X.]6 mwN; zur Verfassungsmäßigkeit der Regelungskonzeption des SG[X.] V vgl auch [X.] Urteil vom 15.12.2015 - [X.] 1 KR 30/15 R - Juris RdNr 54 ff, zur [X.] in [X.]E und [X.]-2500 § 34 [X.]8 vorgesehen).

7

Nach den den erkennenden Senat bindenden Feststellungen des [X.] besteht die ernsthafte Möglichkeit, dass das Jobcenter [X.] als Grundsicherungsträger für die Versorgung mit nicht zum [X.]-Leistungskatalog gehörenden Arzneimitteln nach § 21 Abs 6 SG[X.] II leistungspflichtig sein könnte (vgl dazu [X.] in [X.], SG[X.] II, Stand Juni 2016, § 21 Rd[X.]8 ff und - zu [X.] - Rd[X.]14 ff; s ferner [X.], [X.] 2012, 584 ff). Danach wird bei Leistungsberechtigten ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer [X.]edarf besteht. Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter [X.]erücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen [X.]edarf abweicht. Ein im Einzelfall seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen [X.]edarf abweichender unabweisbarer [X.]edarf kommt bei Leistungen in [X.]etracht, die zur Sicherung des zu gewährenden menschenwürdigen Existenzminimums notwendig, aber verfassungskonform kein Leistungsgegenstand der [X.] sind (vgl [X.]E 110, 183 = [X.]-2500 § 34 [X.], L[X.] und Rd[X.]6 mwN). Die gesetzliche Konzeption des SG[X.] V, auch teilweise Mittel der Krankenbehandlung innerhalb der [X.] der Eigenverantwortung des Versicherten (§ 2 Abs 1 S 1 SG[X.] V) zuzuweisen, trägt der begrenzten Aufgabenstellung der [X.] Rechnung, sich auf gezielte Maßnahmen der Krankheitsbekämpfung zu beschränken (vgl dazu insgesamt [X.]E 104, 160 = [X.]-2500 § 13 [X.], Rd[X.]7 mwN). Die Qualität als Mittel gezielter Krankheitsbekämpfung und die Schwere der Krankheit, nicht aber die ökonomische [X.]edürftigkeit des [X.]etroffenen bestimmen systemgerecht den Umfang des jedenfalls grundsätzlich verfassungskonform gesetzlich geregelten, abgeschlossenen Naturalleistungskatalogs der [X.] (vgl [X.]E 110, 183 = [X.]-2500 § 34 [X.], L[X.] und Rd[X.]4 mwN). Ähnlich wie im [X.]ereich krankheitsbedingt unverzichtbarer Lebensmittel (vgl dazu § 21 Abs 5 SG[X.] II, § 30 Abs 5 SG[X.] XII und dazu z[X.] [X.] Urteil vom 9.6.2011 - [X.] 8 [X.] 11/10 R - Rd[X.]4; [X.]E 100, 83 = [X.]-4200 § 20 [X.], Rd[X.]9 ff; [X.] [X.]-4200 § 21 [X.] Rd[X.]8; [X.]E 109, 218 = [X.]-2500 § 31 [X.]0, Rd[X.]8 mwN - Leucinose) ist es Aufgabe der gesetzlichen [X.]estimmungen des SG[X.] II und SG[X.] XII, die Gewährleistung des verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums zu sichern, soweit es - wie dargelegt verfassungskonform - nicht durch den Leistungskatalog der [X.] abgedeckt ist. Inwieweit im Einzelnen nicht von der Leistungspflicht der [X.] abgedeckte Kosten für medizinisch notwendige Gesundheitspflege, z[X.] für [X.], dem verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimum unterfallen, in der Regelleistung nach dem SG[X.] II oder SG[X.] XII abgebildet sind oder [X.] auslösen, unterliegt der [X.]eurteilung der für die Grundsicherung und Sozialhilfe zuständigen Senate des [X.] (vgl insgesamt [X.]E 110, 183 = [X.]-2500 § 34 [X.], Rd[X.]6 mwN, zur [X.]eiladung Rd[X.]2). [X.]edürftigkeit der Klägerin kommt in [X.]etracht, da sie nach ihrem Vorbringen ausschließlich auf Leistungen nach dem SG[X.] II angewiesen ist und diese fortlaufend bezieht.

8

bb) Im Hinblick auf das Nahrungsergänzungsmittel "[X.] Flohsamenschalen" kommt ebenfalls ein Anspruch der Klägerin gegen den Grundsicherungsträger zur Sicherung des Existenzminimums nach § 21 Abs 5 SG[X.] II in [X.]etracht (vgl auch [X.] [X.]-4200 § 21 [X.]5 Rd[X.]2 mwN). Hiernach wird für Kranke, Genesende, behinderte Menschen oder von einer Krankheit oder von einer [X.]ehinderung bedrohte Menschen, die einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, ein Mehrbedarf in angemessener Höhe anerkannt. Die Versorgung mit Lebensmitteln, Nahrungsergänzungsmitteln, sog [X.] und anderen diätetischen Lebensmitteln ist - abgesehen von bilanzierten Diäten (vgl § 31 Abs 5 SG[X.] V) - nicht Aufgabe der [X.] (vgl [X.]E 109, 218 = [X.]-2500 § 31 [X.]0, Rd[X.]7).

9

b) Auf der unterlassenen [X.]eiladung nach § 75 Abs 2 Alt 2 [X.] kann das angefochtene Urteil iS des § 160 Abs 2 [X.] [X.] beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass es im Falle der [X.]eiladung zu einer Verurteilung des Grundsicherungsträgers - jedenfalls für laufende, nicht bestandskräftig abgeschlossene Leistungszeiträume und ansonsten gegebenenfalls im Wege einer Elementenfeststellung - und damit zu einer für die Klägerin günstigeren Lösung gekommen wäre.

2. Nach § 160a Abs 5 [X.] kann das [X.] in dem [X.]eschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 [X.] [X.] vorliegen, was hier der Fall ist. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

3. Die Entscheidung über die Kosten des [X.]eschwerdeverfahrens bleibt dem [X.] vorbehalten.

Meta

B 1 KR 18/16 B

05.07.2016

Bundessozialgericht 1. Senat

Beschluss

Sachgebiet: KR

vorgehend SG Hamburg, 18. Dezember 2014, Az: S 28 KR 1936/13, Gerichtsbescheid

§ 75 Abs 2 Alt 2 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 21 SGB 2, § 13 SGB 5, § 27 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB 5, § 34 SGB 5

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 05.07.2016, Az. B 1 KR 18/16 B (REWIS RS 2016, 8805)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 8805

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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