Bundesgerichtshof, Beschluss vom 20.05.2015, Az. 5 StR 91/15

5. Strafsenat | REWIS RS 2015, 10826

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Gesetzlicher Richter: "ad-hoc-Bestellung" eines Vertreters bei Erschöpfung der im Geschäftsverteilungsplan festgelegten kurzen Vertreterreihe


Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 3. September 2014 mit den Feststellungen gemäß § 349 Abs. 4 StPO aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 13 Jahren und sechs Monaten verurteilt, ihn im Übrigen freigesprochen und einen Geldbetrag für verfallen erklärt. Hiergegen richtet sich die auf Verfahrensrügen und die Sachbeschwerde gestützte Revision des Angeklagten.

2

Das Rechtsmittel hat mit der nicht präkludierten und den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entsprechenden Rüge vorschriftswidriger Besetzung der [X.] Erfolg (§ 338 Nr. 1b StPO i.V.m. § 21e Abs. 3 [X.]). Auf die übrigen Einwände gegen das ansonsten nicht zu beanstandende Urteil kommt es somit nicht an.

3

1. Im Wesentlichen liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

4

a) Nach Eingang der Anklageschrift am 10. April 2014 richtete die Vorsitzende der [X.] (im Folgenden bei der Bezeichnung der [X.]n: „[X.] 29", „[X.] ...“) noch am selben Tag eine Überlastungsanzeige an die Präsidentin des [X.]s und die Präsidiumsmitglieder, in der sie die Verfahrens-, Terminierungs- sowie Besetzungssituation der [X.] 29 beschrieb. Die Vorsitzende teilte unter anderem mit, dass sich die [X.] außerstande sehe, „weitere Haftsachen, die vor dem 18. August 2014 begonnen werden müssen, zu fördern“, und bat um [X.]. Unter dem 11. April 2014 bewirkte sie die Zustellung der Anklageschrift unter Hinweis auf den Hauptverhandlungsbeginn am 3. Juni 2014 mit weiteren vier Hauptverhandlungstagen im Juni und sechs Hauptverhandlungstagen vom 2. bis 10. Juli 2014, an denen „mangels anderer freier Termine“ verhandelt werden müsse.

5

Durch Präsidiumsbeschluss vom 17. April 2014 wurden der [X.] 29 mit sofortiger Wirkung bis zum 15. Juni 2014 keine allgemeinen Haftsachen mehr zugewiesen. Einen Tag nach unveränderter Zulassung der Anklageschrift richtete die Vorsitzende der [X.] 29 unter dem 14. Mai 2014 eine E-Mail an die Vorsitzenden der drei nach dem Geschäftsverteilungsplan des [X.]s Hamburg für 2014 zuständigen Vertreterkammern und erkundigte sich, ob im Hinblick auf die Verhinderung eines ihrer beisitzenden [X.] ein Kollege „aus Ihren Reihen für die Vertretung“ zur Verfügung stünde. Sämtliche angefragten Vorsitzenden erklärten, dass kein Mitglied der Vertreterkammern abkömmlich sei. Nachdem die Vorsitzende der [X.] 29 die Präsidentin des [X.]s hiervon unterrichtet und um Bestellung eines außerordentlichen Vertreters gebeten hatte, wurde durch [X.] vom 20. Mai 2014 der Vorsitzende [X.] am [X.]   S.      für das vorliegende Verfahren zum außerordentlichen Vertreter bestimmt.

6

In der am 3. Juni 2014 begonnenen Hauptverhandlung erhob die Verteidigung des Angeklagten rechtzeitig eine Besetzungsrüge in Bezug auf den vertretenden [X.]. Darin beanstandete sie nicht nur, dass die Vorsitzende keinen Versuch unternommen habe, die Teilnahme eines geschäftsplanmäßigen Vertreters durch eine kurzfristige Veränderung der Terminierung zu ermöglichen, sondern auch, dass für die Bestellung eines außerordentlichen Vertreters die Entscheidungsgrundlage seitens des Präsidiums nicht ersichtlich sei. Zudem rügte sie die unzureichende Vertreterregelung mit drei Vertreterkammern im Geschäftsverteilungsplan des [X.]s, weil eine Erschöpfung der Vertreterkette bei dieser Terminierung der Sache vorhersehbar gewesen sei.

7

In ihrer Stellungnahme zur Besetzungsrüge vom 5. Juni 2014 verwies die Präsidentin des [X.]s darauf, dass der Geschäftsverteilungsplan zur Bestellung außerplanmäßiger Vertreter zwar keine abstrakte Regelung enthalte, das Präsidium eine solche aber auch nicht für erforderlich gehalten habe und „nur in den seltenen, bei Beginn des Geschäftsjahres nicht absehbaren Fällen ... mit der Bestellung eines außerordentlichen Vertreters befasst" sei. Mit Beschluss der [X.] vom 12. Juni 2014 wurde der [X.] unter Hinweis auf die im Einzelnen dargelegte Erforderlichkeit der Zuziehung eines Vertreters zurückgewiesen.

8

b) [X.] hat die Revision im Übrigen Folgendes dargetan und durch Vorlage entsprechender Schriftstücke belegt:

9

aa) Vom 29. November 2013 bis 1. Oktober 2014 wurden in elf gleichgelagerten Fällen durch das Präsidium des [X.]s außerordentliche Vertreter in Strafsachen bestellt: Dies geschah in zwei Fällen im November und Dezember 2013 und Anfang März 2014 in einem Fall; dem vorliegenden Fall folgten bis Oktober 2014 sieben weitere Fälle.

bb) Das Protokoll der außerordentlichen Präsidiumssitzung des [X.]s vom 22. Januar 2014 weist aus, dass Diskussionsthema die angespannte Terminslage in drei großen [X.]n gewesen war.

cc) In einem Schreiben des Vorsitzenden der [X.] 22 vom 20. Februar 2014 wird unter Hinweis auf dessen Überlastungsanzeigen vom 27. September, 25. November und 19. Dezember 2013 abermals um eine Entlastung ersucht.

2. Die [X.]bank war mit dem Vorsitzenden [X.]   S.      nicht ordnungsgemäß besetzt.

Zwar hat der [X.] grundsätzlich anerkannt, dass die Bestellung eines „zeitweiligen Vertreters" mit der Vorschrift des § 21e Abs. 3 [X.] vereinbar sein kann ([X.], Beschlüsse vom 7. Juni 1977 - 5 [X.], [X.]St 27, 209, 210; vom 19. August 1987 - 2 StR 160/87, [X.], 36, 37; Urteil vom 19. Dezember 1990 - 2 [X.], [X.] 1993, 398). Allerdings soll § 21e [X.] verhindern, dass für bestimmte Einzelsachen bestimmte [X.] ausgesucht werden können; demgemäß kann eine „ad hoc-Bestellung" allenfalls dann in Betracht kommen, wenn die anlassgebende Entwicklung bei Aufstellung des [X.] nicht voraussehbar gewesen ist ([X.], Beschluss vom 19. August 1987 - 2 StR 160/87 aaO). Ein solcher Fall ist hier jedoch nicht gegeben.

Den strengen Maßstäben, die das Recht auf den gesetzlichen [X.] - ungeachtet der aus Sicht des Senats heute unzureichenden Personalausstattung der großen [X.]n (vgl. zur seinerzeitigen Überbesetzung [X.] NJW 1995, 2703, 2705) - einfordert ([X.], Urteil vom 4. Februar 2015 -  2 [X.]), wird die Geschäftsverteilung des [X.]s Hamburg für 2014 nicht gerecht. Es lag schon bei Aufstellung des [X.] auf der Hand, dass die Bestimmung von [X.]n aus drei Vertreterkammern, mithin lediglich neun [X.]n, nicht hinreichen konnte. Wie die Revision zutreffend ausgeführt hat, zeichneten sich bei lebensnaher Betrachtung eingedenk der vorhandenen Mindestbesetzung in den großen [X.]n, der [X.] Krankheitszeiten, der teilweise identischen Sitzungstage der beteiligten Kammern und des mehr oder weniger längeren Einsatzes einer Vielzahl von Proberichtern Konstellationen ab, in denen eine Erschöpfung der kurzen Vertreterreihe eintreten würde.

Dementsprechend hatte das Präsidium des [X.]s schon mit Beschlüssen vom 29. November und 5. Dezember 2013 jeweils einen außerordentlichen Vertreter bestellen müssen. Dasselbe geschah am 4. März 2014 für eine der Vertreterkammern der [X.] 29, nämlich die [X.] 31. Dem folgte im Mai 2014 für das vorliegende Verfahren, im Juni 2014 für zwei, im Juli 2014 für einen, für August 2014 für zwei und für September 2014 für zwei Verfahren jeweils die Bestellung eines zeitweiligen Vertreters. Darüber hinaus hatte der Vorsitzende der [X.] 22 am 22. Februar 2014 angezeigt, die Geschäftslage in seiner [X.] sei entsprechend seinen Anzeigen vom 27. September, 25. November und 19. Dezember 2013 so angespannt, dass er die fortdauernde Entlastung erbeten müsse. Dass dies nicht nur ein Einzelfall war, sondern insgesamt die Situation der [X.]n beschrieb, folgt aus dem Protokoll der außerordentlichen Präsidiumssitzung vom 22. Januar 2014, in der die angespannte [X.] von drei weiteren [X.]n thematisiert worden war. Unter diesen Umständen durfte [X.] nicht durch eine zeitweilige Einzelbestellung eines Vertreters für den verhinderten [X.] gemäß § 21e Abs. 3 [X.] geschaffen werden. Vielmehr hätte eine auf Dauer angelegte Erweiterung der Vertreterreihe nach abstrakten, verfassungsrechtlich durch Art. 101 Abs. 1 GG gebotenen Grundsätzen erfolgen müssen, wie sie etwa in Form einer „Ringvertretung“ realisiert werden kann (vgl. [X.], Urteile vom 30. November 1990 - 2 StR 237/90, NStZ 1991, 195, 196; vom 19. Dezember 1990 - 2 [X.], [X.] 1993, 398).

Die Entscheidung entspricht dem Antrag des [X.].

[X.]

                  König                              [X.]

Meta

5 StR 91/15

20.05.2015

Bundesgerichtshof 5. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Hamburg, 3. September 2014, Az: 629 KLs 8/14

§ 21e Abs 3 GVG, Art 101 Abs 1 S 2 GG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 20.05.2015, Az. 5 StR 91/15 (REWIS RS 2015, 10826)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 10826

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

5 StR 91/15 (Bundesgerichtshof)


5 StR 70/15 (Bundesgerichtshof)

Geschäftsverteilung: Nachträgliche Änderung der Geschäftsverteilung wegen absehbarer Überlastung eines Spruchkörpers durch weitere Haftsachen


4 StR 622/09 (Bundesgerichtshof)

Grundsatz des gesetzlichen Richters: Bestimmung eines Richters als so genannter Sondervertreter in einer Strafkammer


5 StR 70/15 (Bundesgerichtshof)


4 StR 622/09 (Bundesgerichtshof)


Referenzen
Wird zitiert von

5 StR 342/16

Zitiert

2 StR 76/14

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.