Bundesgerichtshof, Beschluss vom 20.04.2022, Az. StB 15/22

3. Strafsenat | REWIS RS 2022, 5114

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Gegenstand

Fortdauer langjähriger Untersuchungshaft: Verhältnismäßigkeit nach noch nicht rechtskräftiger Verurteilung eines zur Tatzeit Jugendlichen u.a. wegen Kriegsverbrechen als IS-Kämpfer


Tenor

1. Die Beschwerde des Angeklagten gegen den [X.] vom 4. Juni 2021 wird verworfen.

2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

I.

1

Der Angeklagte befindet sich in dieser Sache seit dem 5. Dezember 2017 mit Ausnahme einer im März 2021 vollstreckten dreitägigen Ordnungshaft ununterbrochen in Untersuchungshaft, zuletzt ab dem 30. Juli 2020 aufgrund des Haftbefehls des [X.] vom 29. Juli 2020. Vor dem 5. Dezember 2017 war gegen den Angeklagten in einem anderen Verfahren vom 24. Mai 2017 an ununterbrochen Untersuchungshaft aufgrund eines Haftbefehls des [X.] vollzogen worden.

2

Mit Beschlüssen vom 22. Februar 2018 ([X.]), vom 28. Juni 2018 ([X.]) und vom 18. Oktober 2018 ([X.]) hat der Senat im besonderen Haftprüfungsverfahren jeweils die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Dabei hat er angenommen, dass der für die Bestimmung des Fristbeginns nach § 121 Abs. 1 [X.]PO maßgebende Tag für den Angeklagten auf den 15. Juni 2017 gefallen war, weil zu diesem Zeitpunkt ausreichende Erkenntnisse für den Erlass eines Haftbefehls in dieser Sache vorgelegen hatten. Mit Beschluss vom 21. September 2020 ([X.]B 28/20) hat der Senat eine Beschwerde des Angeklagten gegen den Haftbefehl vom 29. Juli 2020 als unbegründet verworfen.

3

Mit Urteil vom 4. Juni 2021 hat das [X.] den Angeklagten eines [X.] gegen Personen durch entwürdigende und erniedrigende Behandlung in Tateinheit mit Beihilfe zu einem Kriegsverbrechen gegen Personen durch Tötung, mit Beihilfe zum Mord sowie mit mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland schuldig gesprochen und ihn mit einer Jugendstrafe von fünf Jahren und zehn Monaten belegt. Im [X.] daran hat es in Fortschreibung des Haftbefehls vom 29. Juli 2020 einen Beschluss über die Fortdauer der Untersuchungshaft ([1] 3 [X.] 3/18-4 [3/18]) verkündet, der sich nunmehr auf einen dringenden Tatverdacht nach Maßgabe der Verurteilung stützt.

4

Gegenstand dieser Haftentscheidung ist danach der Vorwurf, der Angeklagte habe als Jugendlicher mit Verantwortungsreife am 23. oder 24. Oktober 2014 in [X.] ([X.]) im Zusammenhang mit einem nichtinternationalen bewaffneten Konflikt eine nach dem humanitären Völkerrecht zu schützende Person in schwerwiegender Weise entwürdigend oder erniedrigend behandelt, zugleich anderen dazu Hilfe geleistet, im Zusammenhang mit einem nichtinternationalen bewaffneten Konflikt eine nach dem humanitären Völkerrecht zu schützende Person sowie einen Menschen aus niedrigen Beweggründen zu töten, und sich als Mitglied an einer terroristischen Vereinigung im Ausland beteiligt, deren Zwecke und Tätigkeit darauf gerichtet gewesen seien, Mord (§ 211 [X.]GB), Totschlag (§ 212 [X.]GB), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 7 V[X.]GB) oder Kriegsverbrechen (§§ 8, 9, 10, 11 oder § 12 V[X.]GB) zu begehen, strafbar gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 1 und 9 V[X.]GB, § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2, § 211 Abs. 2, § 27 Abs. 1, § 52 [X.]GB, §§ 1, 3 Satz 1 JGG.

5

Gegen seine Verurteilung führt - allein - der Angeklagte die Revision. Das [X.] hat die Akten samt der Revisionsbegründung mit Verfügung vom 13. März 2022 dem [X.] nach § 347 Abs. 2 [X.]PO vorgelegt.

6

Mit Schriftsatz eines seiner Verteidiger vom 24. März 2022 hat der Angeklagte gegen den [X.] vom 4. Juni 2021 Beschwerde eingelegt und beantragt, den Haftbefehl vom 29. Juli 2020 aufzuheben, hilfsweise gegen geeignete Auflagen außer Vollzug zu setzen. Nachdem das [X.] am 29. März 2022 entschieden hatte, dem Rechtsmittel nicht abzuhelfen, und der [X.] unter dem 31. März 2022 beantragt hatte, es zu verwerfen, hat der Angeklagte es mit Schriftsatz des Verteidigers vom 14. April 2022 begründet.

II.

7

Die statthafte und auch im Übrigen zulässige (§ 304 Abs. 1 und 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 1, § 306 Abs. 1 [X.]PO) Beschwerde des Angeklagten, die sich zutreffend gegen den [X.] des [X.] vom 4. Juni 2021 als die zuletzt ergangene den Bestand des Haftbefehls betreffende Haftentscheidung richtet (s. [X.], Beschluss vom 2. November 2016 - [X.]B 35/16, juris Rn. 6; [X.]/[X.], [X.]PO, 64. Aufl., § 117 Rn. 8 mwN), bleibt in der Sache ohne Erfolg.

8

1. Gegen den Angeklagten besteht der dringende Verdacht im Sinne des § 112 Abs. 1 Satz 1 [X.]PO, er habe sich, nachdem die außereuropäische terroristische Vereinigung "Islamischer [X.]aat" ([X.]) am 10. Juni 2014 die [X.] Millionenstadt [X.] erobert gehabt habe, der Organisation angeschlossen. Am 23. oder 24. Oktober 2014 habe er sich als [X.]-Mitglied an der zu Propagandazwecken inszenierten und gefilmten Hinrichtung eines [X.]n Offiziers durch andere [X.]-Angehörige beteiligt, indem er das Opfer absprachegemäß unmittelbar vor der Tötung schwerwiegend beschimpft und vor ihm ausgespuckt habe.

9

Der dringende Tatverdacht wird in der Regel durch das verurteilende Erkenntnis hinreichend belegt (s. [X.], Beschlüsse vom 8. Januar 2004 - [X.]B 20/03, [X.]R [X.]PO § 112 Tatverdacht 4; vom 30. Mai 2018 - [X.]B 12/18, N[X.]Z-RR 2018, 255 mwN). So verhält es sich auch hier. Gründe für eine Ausnahme sind nicht ersichtlich.

2. Es liegt jedenfalls der Haftgrund der [X.] gemäß § 112 Abs. 3 [X.]PO vor. Ob, wie das [X.] angenommen hat, daneben die Haftgründe der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 [X.]PO) und/oder Verdunkelungsgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 3 [X.]PO) gegeben sind, kann vorliegend dahinstehen.

a) Bei den in § 112 Abs. 3 [X.]PO aufgeführten [X.]raftaten, zu denen sowohl die Beihilfe zum Mord nach § 211 Abs. 2, § 27 Abs. 1 [X.]GB (zu dem die Teilnahme umfassenden Anwendungsbereich vgl. KK-[X.]PO/[X.], 8. Aufl., § 112 Rn. 41 mwN) als auch die mitgliedschaftliche Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland nach § 129a Abs. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 [X.]GB zählen, darf nach dem Gesetzeswortlaut die Untersuchungshaft auch dann angeordnet werden, wenn ein Haftgrund nach § 112 Abs. 2 [X.]PO nicht besteht. Allerdings ist die Vorschrift wegen eines sonst darin geregelten offensichtlichen Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verfassungskonform dahin auszulegen, dass der Erlass eines Haftbefehls nur zulässig ist, wenn Umstände vorliegen, welche die Gefahr begründen, dass ohne die Verhaftung des Beschuldigten die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Tat gefährdet sein könnte (s. [X.], Beschluss vom 15. Dezember 1965 - 1 BvR 513/65, [X.]E 19, 342, 350 f.).

Genügen kann bereits die zwar nicht mit bestimmten Tatsachen belegbare, aber nach den Umständen des Falls doch nicht auszuschließende Flucht- oder Verdunkelungsgefahr, ferner die ernstliche Befürchtung, der Täter werde weitere Taten ähnlicher Art begehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist die Feststellung, dass eine verhältnismäßig geringe oder entfernte Gefahr dieser Art besteht (s. [X.], Beschluss vom 12. November 2002 - [X.]B 17/02, [X.]R [X.]PO § 112 Abs. 3 Fluchtgefahr 1). Wenn allerdings nach den Umständen des Einzelfalls gewichtige Gründe gegen jede Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr (§ 112a [X.]PO) sprechen, ist nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von einem Haftbefehl nach § 112 Abs. 3 [X.]PO abzusehen (zum Ganzen [X.], Beschlüsse vom 23. Dezember 2009 - [X.]B 51/09, [X.]R [X.]PO § 112 Abs. 3 Fluchtgefahr 2; vom 29. September 2016 - [X.]B 30/16, [X.], 341 Rn. 12; vom 24. Januar 2019 - AK 57/18, juris Rn. 31).

b) Nach den gegebenen Umständen bestünde, falls der Angeklagte auf freien Fuß gesetzt würde, die zumindest entfernte Gefahr, dass er sich dem weiteren Erkenntnis- oder Vollstreckungsverfahren entzöge. Für ein solches Sichentziehen genügt ein Verhalten, das den Erfolg hat, dass der Fortgang des [X.]rafverfahrens wenigstens vorübergehend durch Aufhebung der Bereitschaft verhindert wird, für Ladungen und Vollstreckungsmaßnahmen zur Verfügung zu stehen (s. [X.], Beschlüsse vom 8. Mai 2014 - 1 [X.]R 726/13, NJW 2014, 2372 Rn. 15; vom 10. August 2017 - AK 33/17, juris Rn. 38; [X.] [X.]PO/[X.], [X.]., § 112 Rn. 24 mwN).

aa) In die gebotene Würdigung der Umstände des Falls ist einzustellen, dass der Angeklagte bei hypothetischer Rechtskraft seiner Verurteilung nunmehr noch mit einer [X.]rafvollstreckung von etwas mehr als elf Monaten zu rechnen hätte. Nach der Verurteilung hat sich die [X.]raferwartung auf die verhängte Jugendstrafe von fünf Jahren und zehn Monaten konkretisiert (s. [X.], Beschluss vom 2. November 2016 - [X.]B 35/16, juris Rn. 9). Gemäß § 52a Satz 1 JGG ist hierauf nicht allein die in dieser Sache seit dem 5. Dezember 2017 vollzogene Untersuchungshaft anzurechnen, sondern auch diejenige, die der Angeklagte in dem anderen Verfahren aufgrund des Haftbefehls des [X.] ab dem 24. Mai 2017 erlitten hatte. Denn die Vorschrift ist verfassungskonform dahin auszulegen, dass zu einem verfahrensfremden Freiheitsentzug der dessen Anrechnung bewirkende sachliche Bezug auch gegeben ist, wenn gegen den [X.] wegen einer anderen Tat, die im Fall ihres [X.] zu einer einheitlichen Rechtsfolge gemäß § 31 Abs. 2 JGG geführt hätte, Untersuchungshaft vollzogen und er dann freigesprochen worden ist (s. [X.], Beschluss vom 15. Dezember 1999 - 2 BvR 1447/99, N[X.]Z 2000, 277; ferner [X.] JGG/Putzke, [X.]., § 52 Rn. 10, § 52a Rn. 8 f.).

Das [X.] hat in dem [X.] eine Reststrafenaussetzung (§ 88 JGG) als ausgeschlossen erachtet. In den schriftlichen Gründen des Urteils findet die dieser Beurteilung zugrundeliegende ungünstige Legalprognose eine genügende [X.]ütze (zur im Rahmen der Aussetzungsentscheidung gebotenen Wahrscheinlichkeitsprognose vgl. [X.], Beschluss vom 11. Januar 2018 - [X.]B 33/17, N[X.]Z-RR 2018, 126 mwN). Dort sind für den im Zeitpunkt der Verkündung 22jährigen Angeklagten erhebliche Persönlichkeits- und Charaktermängel beschrieben. Diese Defizite manifestierten sich nicht nur in einer Vielzahl festgestellter [X.]raftaten, die er in [X.] nach seiner Einreise im Jahr 2015 beging, namentlich [X.], Waffen-, Beleidigungs-, Betäubungsmittel- und Eigentumsdelikte; so verletzte der Angeklagte etwa, gemeinschaftlich handelnd, einen Zeugen massiv mit einem Teleskopschlagstock. Vielmehr zeigten sich die Mängel auch in seinem Verhalten vor dem erkennenden [X.]aatsschutzsenat und im [X.], obgleich es nicht stets die Schwelle zum [X.]rafbaren überschritt:

Der Angeklagte versuchte während der Hauptverhandlung, Zeugen einzuschüchtern, indem er sie bedrohte und beleidigte, in einem Fall etwa durch eine das Durchschneiden der Kehle andeutende Geste. Einen Ermittlungsbeamten belegte er mit dem Wort "Versager" und unterstrich die Ehrverletzung dadurch, dass er auf den Hinweis des Sitzungsvertreters des [X.]s, dies müsse sich der Zeuge nicht gefallen lassen, äußerte: "Doch!" Er ergriff wiederholt eigenmächtig das Wort; so kommentierte er eine Prozesserklärung des Vertreters der [X.] mit dem Zwischenruf "Seien Sie doch einfach mal ruhig". Nach einer im Haftbefehl vom 29. Juli 2020 wiedergegebenen [X.]ellungnahme der Jugendstrafanstalt wurden 17 Disziplinarmaßnahmen allein bis Juni 2020 verhängt, unter anderem wegen Beleidigung von Bediensteten. Wegen einer dieser Taten wurde er zwischenzeitlich verurteilt. Seit Dezember 2018 wurden ausweislich der Haftsachakte beim Angeklagten insgesamt neun Mobiltelefone aufgefunden, zuletzt - nach seiner Verurteilung - im November 2021.

All dies lässt die Annahme des [X.], eine Reststrafenaussetzung komme nicht ernsthaft in Betracht, als begründet erscheinen. Auch das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit ist bei der abgeurteilten Tat, unter anderem einer Beihilfe zum Mord, ein für die Aussetzungsentscheidung bedeutender Gesichtspunkt. Allein der Umstand, dass der Angeklagte bislang nicht vorbestraft und erstmalig von einer freiheitsentziehenden Maßnahme betroffen ist, begründet hier keine ausreichende Wahrscheinlichkeit für ein künftiges straffreies Leben. Das [X.], das allein einen unmittelbaren Eindruck vom Angeklagten in der Hauptverhandlung gewonnen hat, hat dem Senat als Beschwerdegericht keine weiteren zu dessen Gunsten sprechenden Gesichtspunkte vermittelt.

bb) Aus den beschriebenen Persönlichkeits- und Charaktermängeln des Angeklagten lässt sich zudem folgern, dass er nicht bereit und imstande ist, seinem Willen zuwiderlaufende verbindliche Regeln anzuerkennen und zu befolgen. Es besteht die Möglichkeit, dass er künftig versucht, Ladungen und Vollstreckungsmaßnahmen - über bloße Untätigkeit hinaus - zu entgehen.

Die vom Beschwerdeführer vorgelegte "psychologische [X.]ellungnahme" der Jugendstrafanstalt vom 11. November 2021 "zur Frage der Legalprognose" rechtfertigt keine andere Bewertung. So hat sie dem Angeklagten ebenfalls eine "eingeschränkte [X.]euerungsfähigkeit, Impulskontrolle, Spannungs- und Frustrationstoleranz sowie mangelhafte Folgenkalkulation" attestiert, darüber hinaus eine "psychisch instabile Verfassung" und eine "Reifeverzögerung". Soweit die [X.]ellungnahme demgegenüber einschränkend als Grund hierfür angeführt hat, der Angeklagte habe fast "seine gesamte Jugend/Pubertät ... einer wenig förderlichen Gefängnissozialisation" unterlegen, ist dem Verfasser aus dem Blick geraten, dass der Angeklagte erstmals in Haft kam, als er mindestens 18 Jahre und drei Monate alt war.

Über die Mitglieder seiner Familie hinaus verfügt der Angeklagte im Inland nicht über gefestigte [X.] Bindungen. Dass er von seinen nahen Angehörigen die notwendige Unterstützung erhalten könnte, um sich dem weiteren [X.]rafverfahren zuverlässig zur Verfügung zu stellen, unterliegt erheblichen Bedenken. Sein Vater, der Mitangeklagte, befindet sich ebenfalls in Untersuchungshaft. Für seine Mutter sind in den Urteilsgründen von ihr unternommene Versuche dokumentiert, unlauter auf Zeugen einzuwirken. Ausweislich des Haftbefehls vom 29. Juli 2020 hat ein Zeuge nicht nur bekundet, er sei von dem Angeklagten massiv körperlich misshandelt und bedroht worden, sondern auch ausgesagt, dessen Mutter habe "wegen seiner (des Zeugen) Anzeige" ihm und auch seiner Familie mehrfach gedroht, etwa dergestalt, ihn von gedungenen "[X.] oder Tunesiern auf der [X.]raße schlagen zu lassen". Die jüngeren Brüder des Angeklagten hätten dem Zeugen gegenüber zur Einschüchterung geäußert, "sie würden auch irgendwann erwachsen".

cc) Infolgedessen besteht die nicht fernliegende, nicht nur theoretische Möglichkeit, dass sich der Angeklagte im Fall seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft dem [X.]rafverfahren entzöge.

3. Vor dem dargelegten Hintergrund ist eine - bei verfassungskonformer Auslegung auch im Rahmen des § 112 Abs. 3 [X.]PO mögliche - Außervollzugsetzung des Haftbefehls (§ 116 [X.]PO analog) nicht erfolgversprechend. Unter den gegebenen Umständen kann der Zweck der Untersuchungshaft nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als ihren Vollzug erreicht werden.

4. Die Fortdauer der nun bereits beinahe vier Jahre und elf Monate andauernden Untersuchungshaft, von der etwa vier Jahre und zehn Monate die hiesige Haftsache mit dem [X.]ichtag des 15. Juni 2017 betreffen, ist mit Blick auf das Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch des Beschwerdeführers und dem Interesse der Allgemeinheit an einer effektiven [X.]rafverfolgung und -vollstreckung bei Berücksichtigung und Abwägung der Besonderheiten des vorliegenden Verfahrens derzeit noch verhältnismäßig (§ 120 Abs. 1 Satz 1 [X.]PO).

a) Die [X.] begangenen Verbrechen wiegen schwer.

b) Der Gesichtspunkt, ob die Vollstreckung des [X.]rafrests zur Bewährung "hypothetisch" ausgesetzt werden könnte, ist zwar bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung ebenfalls zu berücksichtigen (s. etwa [X.], Beschlüsse vom 22. Oktober 2012 - [X.]B 12/12, NJW 2013, 247 Rn. 17; vom 30. Mai 2018 - [X.]B 12/18, N[X.]Z-RR 2018, 255). Indes handelt es sich dabei nicht um eine starre Grenze, bei deren Erreichen der weitere Vollzug der Untersuchungshaft stets unverhältnismäßig wäre. Die verhängte [X.]rafe bleibt daneben ein beachtliches Abwägungskriterium. Wie dargelegt (s. oben II. 2. b] bb]), sind keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür vorhanden, dass eine Aussetzung des [X.]rafrests zur Bewährung zu erwarten ist (zu dem Beurteilungsmaßstab s. [X.], Beschlüsse vom 29. Dezember 2005 - 2 BvR 2057/05, [X.]K 7, 140, 161 f.; vom 4. Juni 2012 - 2 BvR 644/12, [X.]K 19, 428, 435; [X.], Beschluss vom 30. Mai 2018 - [X.]B 12/18, N[X.]Z-RR 2018, 255; MüKo[X.]PO/[X.]/[X.], § 112 Rn. 53 mwN). Es besteht kein Rechtssatz, dass die Untersuchungshaft nicht bis zur Höhe der verhängten Freiheitsstrafe vollzogen werden darf, wenn dies notwendig ist, um die noch nicht rechtskräftige Ahndung der Tat und die Vollstreckung der [X.]rafe zu sichern (vgl. MüKo[X.]PO/[X.], § 120 Rn. 13).

c) Das Verfahren ist auch nach der letzten Haftentscheidung des Senats vom 21. September 2020 ([X.]B 28/20) mit der in Haftsachen gebotenen Zügigkeit geführt worden.

Vom 22. November 2018 bis zum 4. Juni 2021 hat die Hauptverhandlung an 164 Sitzungstagen, mithin an durchschnittlich mehr als zwei Tagen pro Woche, stattgefunden (zur Dauer der Hauptverhandlung im hiesigen Verfahren vgl. überdies den vorbenannten Beschluss, aaO, juris Rn. 49). Knapp sechs Monate später, am 30. November 2021, sind die schriftlichen Urteilsgründe zu den Akten gelangt.

[X.]

Meta

StB 15/22

20.04.2022

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: False

nachgehend BGH, 12. Juli 2022, Az: StB 15/22, Beschluss

§ 112 Abs 3 StPO, § 120 Abs 1 S 1 StPO, § 7 VStGB, §§ 7ff VStGB, § 27 Abs 1 StGB, § 211 Abs 2 StGB, § 212 StGB, § 129a Abs 1 Nr 1 StGB, § 129b Abs 1 StGB, § 1 JGG, § 3 S 1 JGG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 20.04.2022, Az. StB 15/22 (REWIS RS 2022, 5114)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 5114

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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1 StR 726/13

2 BvR 644/12

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