Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 20.02.2020, Az. 1 BvR 427/19

1. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2020, 2688

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Sachlich nicht zu rechtfertigende Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde (hier: Divergenz gem § 78 S 2 ArbGG iVm § 72 Abs 2 Nr 2 ArbGG) verletzt Rechtsschutzgarantie (Art 2 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 3 GG)


Tenor

1. Der Beschluss des [X.] vom 14. Januar 2019 - 2 Ta 12/19 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

3. Das [X.] hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

Gründe

I.

1

1. Der Beschwerdeführer führte gegen seine Arbeitgeberin einen Rechtsstreit um die Wirksamkeit einer Kündigung und Zahlungsansprüche. Für das Verfahren bewilligte das Arbeitsgericht dem Beschwerdeführer Prozesskostenhilfe mit der Maßgabe, dass kein eigener Beitrag zu den Kosten der Prozessführung zu leisten sei.

2

2. Rund sieben Monate später forderte das Arbeitsgericht den Beschwerdeführer auf, binnen einer Frist von drei Wochen seine derzeitige Vermögenssituation im Sinne des § 120a Abs. 1 ZPO darzulegen. Weil der Beschwerdeführer innerhalb der Frist nicht reagierte, wurde ihm eine erneute Frist von drei Wochen gesetzt. Das Arbeitsgericht wies darauf hin, dass die Versäumung der Frist die Aufhebung der Prozesskostenhilfe nach sich ziehen würde. Da der Beschwerdeführer wiederum nicht reagierte, hob das Gericht die Prozesskostenhilfe nach § 124 Abs. 1 Ziff. 2 ZPO auf.

3

Das [X.] wies die sofortige Beschwerde, in welcher der Beschwerdeführer seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse durch Vorlage einer Erklärung gemäß § 120a Abs. 1 Satz 3, Abs. 4 Satz 1 ZPO darlegte, zurück, ohne die Rechtsbeschwerde zuzulassen. Das Arbeitsgericht habe die Bewilligung der Prozesskostenhilfe zu Recht aufgehoben, da der Beschwerdeführer seiner Pflicht zur Mitwirkung im Verfahren grob nachlässig nicht nachgekommen sei. Die mit der sofortigen Beschwerde beigebrachten Unterlagen seien nicht zu berücksichtigen. Die Fristsetzung nach § 118 Abs. 2 Satz 4 ZPO, der auch im Nachprüfungsverfahren Anwendung finde, liefe vollständig ins Leere, wenn später eingereichte Unterlagen berücksichtigt würden. Diese Norm ginge daher als speziellere Vorschrift auch der Regelung des § 571 Abs. 2 ZPO vor.

4

3. Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen die Entscheidungen, mit denen die Prozesskostenhilfe aufgehoben wurde. Er rügt der Sache nach eine Verletzung des Gebotes effektiven Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG) sowie des Anspruchs auf [X.] (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG).

II.

5

Die Verfassungsbeschwerde wurde gemäß § 23 Abs. 2 [X.] dem [X.] des [X.] zugestellt, das von einer Stellungnahme abgesehen hat. Die Akte des Ausgangsverfahrens lag der Kammer vor.

III.

6

1. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des Arbeitsgerichts wendet, ist sie mangels hinreichender Substantiierung unzulässig.

7

2. Im Übrigen nimmt die Kammer die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 [X.] liegen vor. Die hier maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind bereits entschieden. Die Verfassungsbeschwerde ist danach zulässig und offensichtlich begründet.

8

3. Das [X.] hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden. Maßgeblich sind die Anforderungen an die Handhabung der verfahrensrechtlichen Vorschriften für die Beschreitung eines Instanzenzuges (vgl. [X.] 88, 118 <123 f.>).

9

4. Die angegriffene Entscheidung verletzt das Recht des Beschwerdeführers auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Das [X.] hat die maßgeblichen verfahrensrechtlichen Vorschriften über die Zulassung der Rechtsbeschwerde in unhaltbarer Weise gehandhabt.

a) Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip garantiert den [X.]en im Zivilprozess effektiven Rechtsschutz (vgl. [X.] 88, 118 <123>). Danach darf den Prozessparteien der Zugang zu den Gerichten nicht in unzumutbarer, durch [X.] nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. [X.] 88, 118 <124>). Das Gebot effektiven Rechtsschutzes beeinflusst auch die Auslegung und Anwendung der Bestimmungen, die für die Beschreitung eines Instanzenzuges von Bedeutung sind. Es begründet zwar keinen Anspruch auf eine weitere Instanz; die Entscheidung über den Umfang des [X.] bleibt vielmehr dem Gesetzgeber überlassen (vgl. [X.] 54, 277 <291>; 107, 395 <401 f.>). Hat der Gesetzgeber sich jedoch für die Eröffnung einer weiteren Instanz entschieden und sieht die Prozessordnung ein Rechtsmittel vor, so darf der Zugang nicht in unzumutbarer, aus [X.]n nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. [X.] 69, 381 <385>; 77, 275 <284>).

b) Diesen Anforderungen wird der angegriffene Beschluss des [X.]s nicht gerecht.

aa) Nach § 78 Satz 2, § 72 Abs. 2 Nr. 2 ArbGG ist die Rechtsbeschwerde vom [X.] zuzulassen, wenn seine Entscheidung von einer Entscheidung des [X.] abweicht und auf dieser Abweichung beruht. Diese Voraussetzungen lagen ersichtlich vor.

bb) Das [X.] hat mit Beschluss vom 18. November 2003 (5 [X.], Rn. 10 f., juris) entschieden, dass die Beschwerde im [X.] nach § 571 Abs. 2 Satz 1 ZPO auf neue Angriffs- und Verteidigungsmittel gestützt werden könne. Die Beschwerdeinstanz sei eine vollwertige zweite Tatsacheninstanz. Fristen nach § 120 Abs. 4 Satz 2 ZPO a.F. seien keine Ausschlussfristen, denn diese müssten gesetzlich geregelt sein. § 120 Abs. 4 Satz 2 ZPO a.F. ermögliche dem Gericht nur, Erklärungsfristen zu setzen. Sie dienten dazu, erforderliche Erklärungen und Nachweise binnen angemessener [X.] zu beschaffen. Ein endgültiger [X.] sei mit der Versäumung dieser Fristen nicht verbunden.

cc) Von diesem in der Entscheidung des [X.] aufgestellten abstrakten Rechtssatz, dass im [X.] gesetzte Fristen keine Ausschlussfristen darstellen und mit ihrer Versäumung kein endgültiger [X.] verbunden sei, weicht das [X.] ab. Es legt der angegriffenen Entscheidung den Rechtssatz zugrunde, neue Angriffs- und Verteidigungsmittel seien entgegen § 571 Abs. 2 ZPO im Beschwerdeverfahren nicht mehr vorzubringen, wenn der [X.] im [X.] eine Frist zur Vorlage von Unterlagen gesetzt worden sei.

dd) Diese voneinander divergierenden Rechtssätze beziehen sich auf dieselbe gesetzliche Bestimmung. Zwar wurde § 120 Abs. 4 Satz 2 ZPO a.F. durch das Gesetz zur Änderung des [X.] vom 31. August 2013 mit Wirkung zum 1. Januar 2014 geändert. Doch liegt der angegriffenen Entscheidung mit § 120a Abs. 1 Satz 3 ZPO eine Norm zugrunde, die fast wortgleich mit der für den divergierenden Beschluss des [X.] entscheidenden Norm des § 120 Abs. 4 Satz 2 ZPO a.F. übereinstimmt. Die Änderungen zum 1. Januar 2014 ersetzten die Vorgabe "hat sich die [X.] darüber zu erklären" durch "muss die [X.] jederzeit erklären". Das Wort "jederzeit" hatte insofern nur klarstellenden Charakter (vgl. BTDrucks 17/11472, [X.]). Auch aus dem damals geänderten Normzusammenhang lässt sich nicht erkennen, dass unterschiedliche Regelungsabsichten bestanden.

ee) [X.] der Entscheidung vom 18. November 2003 entfällt auch nicht deshalb, weil das [X.] die Rechtsfrage zu einem späteren [X.]punkt bewusst anders beantwortet habe. Das [X.] zieht hier die Entscheidung des [X.] vom 3. Dezember 2003 (2 [X.] 19/03, juris) heran. Diese bezieht sich jedoch offensichtlich nicht auf dieselbe Rechtsfrage. Sie behandelt nicht die Erklärungspflicht nach § 120 Abs. 4 Satz 2 ZPO a.F., sondern die Glaubhaftmachung nach § 118 Abs. 2 ZPO a.F. Diese Regelungen unterscheiden sich nach Wortlaut und Regelungsgehalt erheblich, denn § 120 Abs. 4 Satz 2 ZPO a.F. betrifft das Abänderungsverfahren und eröffnet Ermessen, wohingegen § 118 Abs. 2 ZPO a.F. das Bewilligungsverfahren betrifft und für die Zurückweisung bei versäumter Mitwirkung kein Ermessen eröffnet.

ff) Die angegriffene Entscheidung des [X.]s beruht auf dem divergierenden Rechtssatz. Das Gericht hat ihn zur Beurteilung des Antragsbegehrens herangezogen. Wäre es nicht davon ausgegangen, dass die Versäumung der Fristen zur Vorlage von Unterlagen im [X.] dazu führe, dass neue Angriffs- und Verteidigungsmittel im Beschwerdeverfahren nicht mehr vorzubringen seien, hätte es das neue Vorbringen des Beschwerdeführers berücksichtigt und wäre möglicherweise zu einer anderen Entscheidung über die Beschwerde gekommen.

gg) Die sachlich nicht zu rechtfertigende Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde schließt den Beschwerdeführer von dem verfassungsrechtlich gebotenen Zugang zur [X.] aus; sie ist mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes nicht zu vereinbaren.

5. Der angegriffene Beschluss beruht auf den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Fehlern. Es ist auch nicht deutlich abzusehen, dass der Beschwerdeführer bei einer Zurückverweisung der Sache sein verfolgtes Begehren nicht erreichen könnte (vgl. [X.] 90, 22 <25 f.>).

IV.

1. Nach § 93c Abs. 2 [X.] in Verbindung mit § 95 Abs. 2 [X.] ist der Beschluss des [X.]s vom 14. Januar 2019 aufzuheben und die Sache an das [X.] zurückzuverweisen.

2. Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 [X.].

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 427/19

20.02.2020

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 3. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend Landesarbeitsgericht Düsseldorf, 14. Januar 2019, Az: 2 Ta 12/19, Beschluss

Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 72 Abs 2 Nr 2 ArbGG, § 78 S 2 ArbGG, § 118 Abs 2 S 4 ZPO vom 05.12.2005, § 120a Abs 1 S 3 ZPO vom 31.08.2013, § 120 Abs 4 S 1 ZPO vom 05.12.2005

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 20.02.2020, Az. 1 BvR 427/19 (REWIS RS 2020, 2688)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 2688

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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