Bundessozialgericht, Beschluss vom 31.08.2017, Az. B 2 U 76/17 B

2. Senat | REWIS RS 2017, 5928

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Gegenstand

(Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler gem § 160 Abs 2 S 3 Halbs 2 SGG - Verletzung der tatrichterlichen Sachaufklärungspflicht gem § 103 SGG - Einholung eines medizinischen Fachgutachtens - Feststellung einer Berufskrankheit - Erforderlichkeit - kein von Amts wegen erstattetes Sachverständigengutachten im Klage- und Berufungsverfahren)


Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wird der Beschluss des [X.] vom 24. Januar 2017 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Die Beteiligten streiten in der Hauptsache darüber, ob eine Berufskrankheit nach [X.] ("Druckschädigung der Nerven") der [X.] zur [X.] ([X.] 2106) festzustellen ist und der Kläger Verletztenrente beanspruchen kann.

2

Der Kläger war als [X.] unter Tage [X.] ausgesetzt, die potentiell nervenschädigend waren. Seine Anträge auf Feststellung und Entschädigung einer [X.] 2106 lehnte die [X.] ab (Bescheid vom [X.] und Widerspruchsbescheid vom [X.]), nachdem sie das nervenärztliche Verwaltungsgutachten nebst Zusatzgutachten aus einem Parallelverfahren betreffend die [X.] 2104 ("Vibrationsbedingte Durchblutungsstörungen an den Händen …") beigezogen und ausgewertet hatte. Das [X.] hat die Klage abgewiesen (Urteil vom [X.]); das L[X.] hat die Berufung des [X.] zurückgewiesen (Beschluss vom 24.1.2017): Es fehle der Vollbeweis einer "Druckschädigung der Nerven", wie die [X.] in den angefochtenen Bescheiden und das [X.] in dem angegriffenen Urteil gestützt auf das Ergebnis des nervenärztlichen Verwaltungsgutachtens zutreffend dargelegt hätten. Hierauf nehme der [X.] Bezug und sehe von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab. Mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des L[X.] vom 24.1.2017 rügt der Kläger die Verletzung der tatrichterlichen Sachaufklärungspflicht (§ 103 [X.]G). Er macht insbesondere geltend, das L[X.] hätte das von ihm beantragte nervenärztliche Gutachten einholen müssen.

3

II. Die zulässige Beschwerde des [X.] gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des L[X.] ist begründet. Die formgerecht (§ 103 iVm § 160 Abs 2 [X.] 3 Halbs 2 [X.]G) gerügte Verletzung der tatrichterlichen Sachaufklärungspflicht liegt vor.

4

Dem im angegriffenen Beschluss wiedergegebenen, bis zuletzt aufrechterhaltenen und hinreichend konkreten Beweisantrag des unvertretenen [X.], für den die erhöhten Anforderungen an Präzisierung und Formulierung eines prozessordnungskonformen Beweisantrags nicht in vollem Umfang gelten (vgl B[X.] [X.] 4-1500 § 160 [X.] Rd[X.] 5 und [X.]3 Rd[X.]1; [X.] [X.] 3-1500 § 160 [X.]; [X.], [X.], 2. Aufl 2010, Rd[X.] 733), ist das L[X.] ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt. Dabei ist unerheblich, ob es die Ablehnung des Beweisantrags hinreichend begründet hat, sondern es kommt allein darauf an, ob das Gericht objektiv gehalten gewesen ist, den Sachverhalt zu dem von dem betreffenden Beweisantrag erfassten Punkt weiter aufzuklären, ob es sich also zur beantragten Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen (stRspr seit B[X.] Beschluss vom 31.7.1975 - 5 BJ 28/75 - [X.] 1500 § 160 [X.] 5; vgl zuletzt [X.]sbeschluss vom [X.] U 181/16 B - Juris Rd[X.] 7 mwN). Soweit der Sachverhalt nicht hinreichend geklärt ist, muss das Gericht von allen Ermittlungsmöglichkeiten, die vernünftigerweise zur Verfügung stehen, Gebrauch machen (B[X.] Beschluss vom [X.] - B 5 R 48/08 B - Juris Rd[X.] 8), insbesondere bevor es eine Beweislastentscheidung trifft. Einen Beweisantrag darf es nur dann ablehnen, wenn es aus seiner rechtlichen Sicht auf die ungeklärte Tatsache nicht ankommt, wenn diese Tatsache (zugunsten des Beweisführenden) als wahr unterstellt werden kann, wenn das Beweismittel unzulässig, völlig ungeeignet oder unerreichbar ist, wenn die behauptete Tatsache oder ihr Fehlen bereits erwiesen oder wenn die Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist ([X.]sbeschluss aaO).

5

Ausgehend von seiner eigenen Rechtsauffassung hätte sich das L[X.] aus objektiver Sicht gedrängt fühlen müssen, ein nervenärztliches Sachverständigengutachten zum Vorliegen bzw Nichtvorliegen von Nervenschäden im Bereich der Arme und eventuell auch der unteren Extremitäten sowie ggf zur haftungsbegründenden Kausalität zwischen den berufsbedingten [X.] und den Nervenschäden beizuziehen. Soweit das L[X.] die "Einholung eines weiteren Gutachtens von Amts wegen … nicht für erforderlich" hält, übersieht es bereits, dass weder im Klage- noch im Berufungsverfahren ein Sachverständigengutachten von Amts wegen erstattet worden ist. [X.] und L[X.] stützen ihre Entscheidungen ausschließlich auf das Verwaltungsgutachten des Neurologen Prof. Dr. T. vom 29.10.2013 nebst elektromyografischen und elektroneurografischen Zusatzgutachten, die im Verwaltungsverfahren zur Feststellung einer [X.] nach [X.] 2104 (Vibrationsbedingte Durchblutungsstörungen an den Händen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können) erstattet worden sind. Auf der Grundlage dieser Gutachten durfte das L[X.] indes nicht davon ausgehen, das Fehlen eines (druckbedingten) [X.] sei bereits erwiesen. Denn das neurologische Hauptgutachten sowie die elektromyografischen und elektroneurografischen Zusatzgutachten sind in einem völlig anderen Kontext ([X.] 2104) differentialdiagnostisch zu "Durchblutungsstörungen an den Händen" erstellt worden und konnten schon deshalb nicht alle potentiellen Nervendruckschäden erfassen, die nach dem Wortlaut der [X.] 2106 prinzipiell in allen Körperregionen (und nicht nur "an den Händen") auftreten können. Schon deshalb war weitere Sachaufklärung durch Einholung eines nervenärztlichen Sachverständigengutachtens von Amts wegen geboten. Im Übrigen hätten die Verwaltungsgutachten vorliegend nur dann alleinige Grundlage der gerichtlichen Entscheidungen sein können, wenn der Kläger in die Übermittlung und Nutzung seiner hochsensiblen Sozialdaten (§ 35 Abs 1 S 1 [X.]B I; § 67 Abs 1 und Abs 12 [X.]B X) an das [X.] und L[X.] schriftlich eingewilligt (§ 67b Abs 2 S 3 [X.]B X) hätte, weil die gesetzliche Übermittlungsbefugnis in § 69 Abs 1 [X.] 2 [X.]B X nur für die Übermittlung von Verwaltungsgutachten für ein dieses Verwaltungsverfahren betreffendes Gerichtsverfahren gilt.

6

Bei dieser Sachlage ist in Übereinstimmung mit dem Vorbringen des [X.] nicht auszuschließen, dass die beantragte Zuziehung eines nervenärztlichen Sachverständigengutachtens nicht nur den Vollbeweis eines [X.], sondern auch überzeugende Anhaltspunkte für die Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs zwischen den beruflichen [X.] und dem Nervenschaden erbracht hätten, die ihrerseits zur Feststellung einer [X.] 2106 und zur Gewährung einer Stützrente nach einer MdE von [X.] geführt hätten.

7

Die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 [X.] 3 [X.]G liegen somit vor. Der [X.] hebt gemäß § 160a Abs 5 [X.]G die angefochtene Berufungsentscheidung auf und verweist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das L[X.] zurück.

8

Das L[X.] wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 2 U 76/17 B

31.08.2017

Bundessozialgericht 2. Senat

Beschluss

Sachgebiet: U

vorgehend SG Dortmund, 9. August 2016, Az: S 36 U 368/14

§ 103 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG, Anl 1 Nr 2106 BKV

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 31.08.2017, Az. B 2 U 76/17 B (REWIS RS 2017, 5928)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 5928

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