Bundesfinanzhof, Urteil vom 06.04.2022, Az. X K 5/21 (X K 2/19), X K 5/21, X K 2/19

10. Senat | REWIS RS 2022, 5953

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Gegenstand

Entschädigungsklage: Erweiterung des Klageantrags bei Klageerhebung vor Beendigung des Ausgangsverfahrens


Leitsatz

1. NV: Die Entschädigungsforderung für eine bereits vor Beendigung des Ausgangsverfahrens erhobene Entschädigungsklage kann innerhalb der Frist des § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG im Wege der Klageerweiterung erhöht werden.

2. NV: Wird ein zunächst beantragter Entschädigungsbetrag nachträglich erhöht, sind Prozesszinsen für den Erhöhungsbetrag erst ab dessen Geltendmachung zu zahlen.

3. NV: Auch eine Kapitalgesellschaft ist als Verfahrensbeteiligte i.S. des § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG entschädigungsberechtigt.

Tenor

Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin wegen der unangemessenen Dauer des vor dem [X.] geführten Verfahrens 11 K 12217/14 eine Entschädigung von 4.300 € nebst auf den Teilbetrag von 2.800 € ab dem [X.] und auf den Teilbetrag von 1.500 € ab dem 17.08.2021 zu berechnende Zinsen in Höhe von jeweils fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens haben die Klägerin zu 16 % und der Beklagte zu 84 % zu tragen.

Tatbestand

I.

1

Die Klägerin, eine GmbH, begehrt Entschädigung nach § 198 des Gerichtsverfassungsgesetzes ([X.]) für ein von ihr vor dem Finanzgericht ([X.]) [X.]erlin-[X.]randenburg geführtes Klageverfahren, das dort von November 2014 bis Juni 2021 anhängig war.

2

Im Ausgangsverfahren wandte sich die Klägerin gegen eine vom Finanzamt ([X.]) angenommene verdeckte Gewinnausschüttung (vGA) für das [X.]treitjahr 2011. Die seinerzeitigen Gesellschafter-Geschäftsführer der Klägerin, der im Jahr 2019 verstorbene [X.] und [X.], hatten im Jahr 2010 eine [X.]chwester-GmbH ([X.]-GmbH) gegründet, die im Wege der Abspaltung mit Wirkung zum 01.01.2011 den Geschäftsbetrieb mehrerer Zweigniederlassungen der Klägerin übernehmen sollte. Rechtlich umgesetzt werden konnte die Abspaltung allerdings erst mit Wirkung zum 01.01.2012. Gleichwohl hatte die [X.]-GmbH bereits ab Januar 2011 sämtliche Geschäftsvorfälle, die zuvor den Zweigniederlassungen der Klägerin zugeordnet waren, als eigene verbucht und entsprechende Umsätze erklärt. Hieraus schloss das [X.], die Klägerin habe das Vermögen ihrer Zweigniederlassungen zum 01.01.2011 unentgeltlich auf die [X.]-GmbH übertragen, sodass eine vGA zu Gunsten ihrer --auch an der [X.]-GmbH beteiligten-- Gesellschafter [X.] und [X.] vorgelegen habe. Diese vGA bemaß das [X.] --insoweit einvernehmlich-- mit 92.000 €.

3

Gegen die entsprechend geänderten [X.] und Gewerbesteuermessbescheide für das [X.] erhob die Klägerin nach erfolglosem Einspruch am 28.11.2014 Klage zum [X.] und bestritt den Ansatz einer vGA dem Grunde nach. Nach Akteneinsicht durch die Klägerin und wiederholtem [X.]chriftsatzwechsel beantragte die Klägerin am 31.07.2015 die unverzügliche Anberaumung eines Termins zur mündlichen Verhandlung und die Durchführung einer [X.]eweisaufnahme. Das [X.] führte hierauf aus, dass neu zu würdigende Argumente nicht vorlägen. Mit [X.]chreiben vom 29.09.2015 bekräftigte die Klägerin ihren Antrag auf Terminierung zur mündlichen Verhandlung und [X.]eweisaufnahme.

4

Nach zwei am 12.11.2015 und 10.12.2015 erhobenen Verzögerungsrügen, in denen die Klägerin u.a. auf die hohe finanzielle [X.]edeutung des Verfahrens hingewiesen hatte, einem zwischenzeitlichen geschäftsplanmäßigen [X.] und dem im Februar 2016 erteilten Hinweis des nunmehr zuständig gewordenen 11. [X.]enats des [X.], er werde voraussichtlich Ende des Jahres 2016 oder Anfang des Jahres 2017 mündlich verhandeln, erhob die Klägerin am 09.12.2016 eine weitere --nunmehr dritte-- Verzögerungsrüge.

5

Am 15.05.2017 bat das [X.] um Klarstellung des [X.]treitgegenstands. Hierzu nahm die Klägerin noch am gleichen Tag [X.]tellung.

6

Nachdem die Klägerin im November 2017 und Dezember 2018 weitere Verzögerungsrügen angebracht hatte und eine Förderung des Ausgangsverfahrens auch weiterhin nicht erkennbar war, erhob sie am [X.] die vorliegende --zunächst unter dem Aktenzeichen [X.] geführte-- [X.]. Diese wurde dem [X.]eklagten am 10.04.2019 zugestellt. Der [X.]eklagte beantragte daraufhin das Ruhen des Verfahrens bis zum Abschluss des Ausgangsverfahrens. Dem stimmte die Klägerin zu. Durch [X.]enatsbeschluss vom 06.06.2019 wurde das Verfahren dementsprechend zum Ruhen gebracht.

7

Am 08.07.2019 und am [X.] zeigte die Klägerin dem [X.] an, dass [X.] verstorben sei, und erhob erneut eine Verzögerungsrüge.

8

Die [X.]erichterstatterin des Ausgangsverfahrens forderte am 23.01.2020 eine Abschrift des [X.]enatsbeschlusses vom 06.06.2019 an. Im Nachgang hierzu erbat sie am 10.02.2020 vom Vorzimmer des Präsidenten des [X.] die Übersendung der [X.]teuerakten zum Ausgangsverfahren und mit [X.]chreiben vom 24.02.2020 vom Amtsgericht die Übersendung der Akten zur [X.]-GmbH, die am 03.03.2020 beim [X.] eingingen.

9

Unter dem 02.05.2020 notierte die [X.]erichterstatterin, dass die Akten für sie wegen des Notbetriebs des [X.] aufgrund der Corona-Pandemie in der [X.] vom 24.03.2020 bis zum 01.05.2020 nicht erreichbar gewesen seien.

Am 12.05.2020 bat die [X.]erichterstatterin die Klägerin um Erläuterung der umsatzsteuerlichen Auswirkung der Übertragung der Wirtschaftsgüter der drei Zweigniederlassungen auf die Klägerin und um Vorlage der vollständigen [X.]uchführungsunterlagen. Darüber hinaus forderte sie das [X.] am 30.05.2020 auf, alle an die Klägerin gerichteten [X.]escheide für das [X.] sowie weitere Aktenbestandteile zu übersenden.

Die Klägerin beantragte mit [X.]chreiben vom 05.06.2020 Akteneinsicht, die deren Prozessbevollmächtigte am 06.07.2020 vornahm. Am 16.07.2020 bat sie wegen der Vorlage der [X.]uchführungsunterlagen für 2011 um Fristverlängerung bis zum [X.] Am 01.09.2020 übersandte die Klägerin die [X.]uchführungsunterlagen und nahm erneut zur Klage [X.]tellung.

Die [X.]erichterstatterin teilte dem [X.] am 21.09.2020 mit, dass die Möglichkeit zur Akteneinsicht bestehe. [X.]ie bat um Mitteilung bis zum 09.10.2020, ob das [X.] die Unterlagen beim [X.] einsehen wolle. Auf Nachfrage des [X.] vom 20.10.2020 teilte das [X.] am 02.11.2020 mit, es wolle die [X.]uchführungsunterlagen nicht einsehen. Die Klägerin erhob am 19.11.2020 eine weitere Verzögerungsrüge. [X.]eide [X.]chriftsätze übersandte die [X.]erichterstatterin der jeweiligen Gegenseite im November 2020 zur Kenntnis.

Das [X.] lud am 10.04.2021 zur mündlichen Verhandlung und [X.]eweisaufnahme für den 12.05.2021. Das klageabweisende Urteil wurde der Klägerin am 18.06.2021 zugestellt.

Nach Rechtskraft des Urteils ist das vorliegende --nunmehr unter [X.] geführte-- [X.]verfahren wieder aufgenommen worden.

Mit [X.]chriftsatz vom 05.08.2021, der am 11.08.2021 an den [X.]eklagten gesandt wurde, vertritt die Klägerin --klageerweiternd-- die Ansicht, dass ihr eine Entschädigung nach § 198 [X.] für das 78 Monate dauernde Ausgangsverfahren in Höhe von mindestens 5.100 € zustehe. [X.]achliche Gründe für die überlange Dauer des Ausgangsverfahrens seien nicht erkennbar. Vielmehr sei die Überlänge Folge mangelnder Personalausstattung des [X.] durch den [X.]eklagten. Maßgeblich sei darüber hinaus auch, dass das [X.], nachdem die [X.]ache ausgeschrieben gewesen sei, den Termin zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung für den Jahreswechsel 2016/2017 zwar angekündigt, ihn jedoch ohne Angabe weiterer Gründe nicht durchgeführt habe. [X.]ogar die Mitteilung, dass [X.] verstorben und damit ein [X.]eweismittel der Klägerin entfallen sei, hätte das [X.] nicht zu einer zeitnahen Ladung veranlasst. Infolgedessen habe sich die Klägerin zum [X.]punkt der mündlichen Verhandlung in einer Art [X.]eweisnotstand befunden. Dies sei bei der Höhe der Entschädigung zu beachten.

Nachdem die Klägerin mit Klageerhebung 2019 zunächst beantragt hatte, den [X.]eklagten zu verurteilen, an sie wegen überlanger Dauer des Ausgangsverfahrens eine angemessene Entschädigung zu zahlen, deren Höhe nach freiem Ermessen des [X.]undesfinanzhofs ([X.]FH) festzusetzen sei, hilfsweise den [X.]eklagten zur Zahlung einer Entschädigung in Höhe von mindestens 3.300 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem [X.]asiszinssatz nach § 247 des [X.]ürgerlichen Gesetzbuches ([X.]G[X.]) seit Rechtshängigkeit zu verurteilen, beantragt sie nunmehr,

den [X.]eklagten zu verurteilen, an die Klägerin wegen überlanger Dauer des zum Aktenzeichen 11 K 12217/14 beim [X.] [X.]erlin-[X.]randenburg durchgeführten Klageverfahrens eine angemessene Entschädigung in Höhe von mindestens 5.100 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem [X.]asiszinssatz nach § 247 [X.]G[X.] seit dem Tag der Rechtshängigkeit zu zahlen.

Der [X.]eklagte hat sich zum Klagevorbringen nicht geäußert.

Entscheidungsgründe

II.

[X.]ie Klage ist zulässig.

1. Sie ist insbesondere nicht zu früh erhoben worden.

Nach § 198 Abs. 5 Satz 1 [X.] kann eine [X.] frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge erhoben werden. [X.]iese Wartefrist hat die Klägerin mit [X.]lick auf ihre --erste wirksame-- Verzögerungsrüge vom 09.12.2016 und der am 27.02.2019 erhobenen Klage gewahrt. [X.]er Abschluss des Ausgangsverfahrens ist keine Zulässigkeitsvoraussetzung für die Erhebung der [X.]. Vielmehr wollte der Gesetzgeber mit der Möglichkeit, [X.]n schon vor Abschluss des Ausgangsverfahrens erheben zu können, die Effektivität der Regelung im Hinblick auf das [X.] Verfassungsrecht und Art. 13 der [X.] sowie ihre Präventivwirkung sichern (weiterführend Senatsurteil vom 06.06.2018 - X K 2/16, [X.], 1149, Rz 29 f.).

2. [X.]er hinreichenden [X.]estimmtheit des Klageantrags steht nicht entgegen, dass die Klägerin ihren [X.] lediglich in Höhe eines [X.] beziffert hat (vgl. insoweit nur Senatsurteil vom 12.07.2017 - X K 3-7/16, [X.], 393, [X.], 103, Rz 27, m.w.N.).

III.

[X.]ie Klage ist im Wesentlichen begründet. [X.]er Klägerin, die als juristische Person des Privatrechts entschädigungsberechtigt ist (unten 1.), ist für das Ausgangsverfahren, dessen [X.]auer im Umfang von 43 Monaten unangemessen war (unten 2.), eine Entschädigung von 4.300 € zu leisten (unten 3.).

1. Wer infolge unangemessener [X.]auer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, wird angemessen entschädigt (§ 198 Abs. 1 Satz 1 [X.]). [X.] ist nach der Legaldefinition des § 198 Abs. 6 Nr. 2 [X.] ein Verfahrensbeteiligter i.S. des § 198 Abs. 1 Satz 1 [X.], der [X.] und [X.]eteiligter eines Gerichtsverfahrens war. Lediglich Verfassungsorgane, Träger öffentlicher Verwaltung und sonstige öffentliche Stellen, soweit sie nicht in Wahrnehmung eines Selbstverwaltungsrechts an einem Verfahren beteiligt sind, sind insoweit ausgeschlossen (vgl. hierzu nur Urteil des [X.] vom [X.] - 5 [X.] 16/19 [X.], [X.] 300 § 198 [X.] Nr. 12, Rz 8).

[X.]ie Klägerin ist eine GmbH und als Klägerin [X.]eteiligte des Ausgangsverfahrens und somit Verfahrensbeteiligte i.S. des § 198 Abs. 1 Satz 1 [X.]. Für ihren Nachteil, den sie infolge unangemessener [X.]auer ihres Gerichtsverfahrens erlitten hat, ist sie zu entschädigen.

2. Gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 [X.] richtet sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und [X.]edeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und [X.]ritter.

a) [X.]iese auf der ständigen Rechtsprechung des [X.] und des [X.] ([X.]) beruhenden gesetzlichen Maßstäbe lassen den [X.]egriff der "Angemessenheit" für Wertungen offen. [X.]abei ist dem Spannungsverhältnis zwischen dem Interesse an einem möglichst zügigen Abschluss des Rechtsstreits einerseits und anderen, ebenfalls hochrangigen sowie verfassungs- und menschenrechtlich verankerten prozessualen Grundsätzen --wie dem Anspruch auf Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes durch inhaltlich zutreffende und qualitativ möglichst hochwertige Entscheidungen, der Unabhängigkeit der [X.] und dem Anspruch auf den gesetzlichen [X.]-- Rechnung zu tragen (zu den Einzelheiten vgl. zur Vermeidung von Wiederholungen insbesondere das Senatsurteil vom 07.11.2013 - [X.], [X.], 126, [X.], 179, Rz 48 ff.).

b) Für ein finanzgerichtliches Klageverfahren, das im Vergleich zu dem typischen in dieser Gerichtsbarkeit zu bearbeitenden Verfahren keine wesentlichen [X.]esonderheiten aufweist, hat der Senat die Vermutung aufgestellt, dass die [X.]auer des Verfahrens angemessen ist, wenn das Gericht gut zwei Jahre nach dem Eingang der Klage mit Maßnahmen beginnt, die das Verfahren einer Entscheidung zuführen sollen, und die damit begonnene ("dritte") Phase des [X.] nicht durch nennenswerte [X.]räume unterbrochen wird, in denen das Gericht die Akte unbearbeitet lässt (Senatsurteil in [X.], 126, [X.], 179, Rz 69).

c) Unter [X.]erücksichtigung dieser Überlegungen ist eine Verzögerung von 43 Monaten zu verzeichnen.

aa) [X.]ie Anwendung der in § 198 Abs. 1 Satz 2 [X.] nach Art von Regelbeispielen genannten Kriterien führt im Streitfall zu keinem eindeutigen [X.]ild.

[X.]ie Schwierigkeit des Verfahrens war überdurchschnittlich. Streitig war die ertragsteuerrechtliche [X.]eurteilung eines betrieblichen Umstrukturierungsvorgangs, dem ein komplexer Sachverhalt zugrunde lag. [X.]as Ausgangsgericht hatte neben umfangreichen Schriftsätzen zahlreiche Unterlagen beizuziehen und eine [X.]eweisaufnahme mit drei Zeugen durchzuführen.

Auch wirtschaftlich war das Verfahren --gemessen an der durch die streitigen Einkünfte verursachten Steuerbelastung und möglichen [X.] bedeutend. [X.]ie [X.]eteiligten stritten um die Frage, ob die Klägerin im Streitjahr durch die unentgeltliche Übertragung sämtlicher Aktiva und Passiva ihrer drei Zweigniederlassungen auf die S-GmbH die Voraussetzungen einer vGA erfüllte, sodass ihr außerbilanzieller Gewinn dementsprechend zu erhöhen war. [X.]ennoch waren die steuerlichen Auswirkungen, auch aufgrund der vorprozessualen Einigung in [X.]ezug auf die Höhe der vGA (92.000 €), nicht existenzbedrohend.

Gründe für eine besondere Eilbedürftigkeit sind nicht erkennbar. [X.]em Vortrag der Klägerin kann nicht entnommen werden, inwieweit eine Vernehmung des inzwischen verstorbenen Geschäftsführers [X.] zwingend geboten gewesen wäre.

bb) [X.]er Umfang der Verzögerung --43 [X.] ergibt sich aus einer [X.]etrachtung des konkreten [X.].

(1) Nach Maßgabe der vorgenannten Senatsrechtsprechung begann für das Ende November 2014 rechtshängig gewordene Ausgangsverfahren ab [X.]ezember 2016 diejenige Phase, in der das Ausgangsgericht das Verfahren ohne nennenswerte Unterbrechungszeiten hätte fördern und einer Entscheidung zuführen müssen.

Allerdings ist erst das im Mai 2017 an die Klägerin gerichtete Schreiben mit der [X.]itte um Klarstellung des Streitgegenstands als ein erster Versuch des [X.] zu sehen, sich mit dem Ausgangsverfahren inhaltlich zu befassen. In dem vorherigen [X.]raum von [X.]ezember 2016 bis April 2017 ist das Verfahren nicht bearbeitet worden und ist damit für zunächst fünf Monate als verzögert anzusehen.

(2) Weitere Verzögerungsrügen in den Jahren 2017 und 2018 hatten keine Förderung der Sache durch das [X.] zur Folge. [X.]is einschließlich [X.]ezember 2019 und somit --beginnend ab Juni 2017-- für weitere 31 Monate sind keine verfahrensfördernden Maßnahmen ersichtlich.

(3) Auch für den Monat Januar 2020 ist eine [X.]earbeitung des Ausgangsverfahrens nicht erkennbar. [X.]ie [X.]erichterstatterin hat sich lediglich den Ruhensbeschluss des Senats vom 06.06.2019 übersenden lassen, Akten aber erst im Februar und März 2020 angefordert. Folglich ist das Ausgangsverfahren auch im Monat Januar 2020 und damit um einen weiteren Monat verzögert.

(4) Keine Verzögerung ist allerdings in den Monaten Februar und März 2020 gegeben. [X.]ie [X.]erichterstatterin hat in diesen Monaten um Übersendung von Akten zur weiteren Sachaufklärung gebeten.

(5) Keine [X.]earbeitung erfolgte im April 2020. Zwar notierte die [X.]erichterstatterin in den Akten des Ausgangsverfahrens, sie habe wegen eines "Notbetriebs" des [X.] aufgrund der [X.]orona-Pandemie in der [X.] vom 24.03.2020 bis zum 01.05.2020 keinen Zugriff auf Akten im Gericht gehabt. Für den Senat ist bereits nicht erkennbar, inwieweit dieser Notbetrieb zwingend dazu geführt haben soll, dass die [X.]erichterstatterin mehr als fünf Wochen daran gehindert war, die von ihr bereits in den Vormonaten angeforderten umfangreichen Akten zu bearbeiten. Angesichts der bis zu jener [X.] bereits zu verzeichnenden [X.]auer des Ausgangsverfahrens von fast 5 ½ Jahren und der seit April 2019 zugestellten und der [X.]erichterstatterin bekannten [X.] war es angezeigt, auch im April 2020 das Ausgangsverfahren weiter zu fördern. [X.]ei einer derartigen Verzögerung reicht es nicht aus, sich lediglich auf einen fehlenden Aktenzugriff zu berufen. Notwendig wäre vielmehr gewesen, sich darum zu bemühen, die zur [X.]earbeitung des Verfahrens notwendigen Unterlagen zur Verfügung zu erhalten. Folglich ist das Ausgangsverfahren im Monat April 2020 verzögert.

(6) In der Folgezeit kam es erneut zu einem Schriftsatzaustausch aufgrund der Einreichung der [X.]uchführungsunterlagen am [X.] [X.]ie [X.]erichterstatterin hat dem [X.] nicht nur die Stellungnahme der Klägerin am 01.09.2020 übersandt, sondern auch die Möglichkeit zur Akteneinsicht gegeben. An diese musste sie, obgleich wegen eines Missverständnisses, im Oktober 2020 das [X.] erneut erinnern. Aufgrund dieser Aktivitäten der [X.]erichterstatterin ist eine Verzögerung des Ausgangsverfahrens von Mai 2020 bis Oktober 2020 nicht anzunehmen.

(7) Eine Aktivität des [X.] zur Förderung des Ausgangsverfahrens ist allerdings im November 2020 nicht zu erkennen. [X.]ie [X.]erichterstatterin verfügte lediglich am 14.11.2020 und 20.11.2020 die Übersendung von Schriftsätzen zur Kenntnis sowie die Wiedervorlage zum 04.01.2021.

Zwar geht das [X.]undessozialgericht ([X.]SG) --wenn auch wohl in nicht bindenden Hinweisen im Rahmen der Zurückverweisung an die dortige [X.] davon aus, dass eingereichte Schriftsätze, die einen gewissen Umfang haben und sich inhaltlich mit Fragen des Verfahrens befassen, generell eine Überlegungs- und [X.]earbeitungszeit beim Gericht bewirkten, die mit einem Monat zu [X.]uche schlage (Urteil vom 03.09.2014 - [X.] 10 ÜG 12/13 R, [X.] 4-1720 § 198 Nr. 4, Rz 57). [X.]emgegenüber hat der erkennende Senat --in einer letztlich ebenfalls nicht entscheidungstragenden Erwägung-- im Urteil vom 27.06.2018 - [X.] ([X.]FH/NV 2019, 27, Rz 69) unter Hinweis auf die Rechtsprechung des [X.] ([X.]eschluss vom 27.07.2004 - 1 [X.]vR 1196/04, Neue Juristische Wochenschrift 2004, 3320, unter [X.], m.w.N.), wonach sich mit zunehmender Verfahrensdauer die Pflicht des Gerichts verdichtet, sich nachhaltig um eine Förderung, [X.]eschleunigung und [X.]eendigung des Verfahrens zu bemühen, ausgeführt, das Gericht dürfe sich jedenfalls in einem Verfahren, dessen [X.]auer bereits als deutlich unangemessen anzusehen sei, nicht mehr auf die bloße Weiterleitung eingehender Schriftsätze beschränken, sondern müsse das Verfahren aktiv fördern.

Wegen der [X.]esonderheiten des Streitfalls bedarf es an dieser Stelle keiner grundsätzlichen Entscheidung dieser Streitfrage, da das [X.]SG --ebenso wie der Senat-- vorliegend eine Verfahrensförderung verneinen würde. [X.]ie Auffassung des [X.]SG, die Weiterreichung eingereichter Schriftsätze könne generell als gerichtliche Aktivität angesehen werden, beruht nämlich auf der Voraussetzung, dass diese Schreiben einen gewissen Umfang haben und sich inhaltlich mit Fragen des Verfahrens befassen. [X.]eide im November 2020 weitergeleiteten Schreiben erfüllen diese Vorgaben jedoch nicht. In seinem Schreiben vom 02.11.2020, das nur eine halbe Seite umfasst, hat das [X.] lediglich auf die Einsichtnahme in die [X.]uchführungsunterlagen verzichtet. [X.]as Schreiben der Klägerin vom 19.11.2020 enthält nur eine erneute Verzögerungsrüge mit der [X.]egründung, warum Anlass zur [X.]esorgnis bestehe, dass das Verfahren nicht in angemessener [X.] abgeschlossen wird. Eine [X.]efassung mit inhaltlichen Fragen des Ausgangsverfahrens fehlt indes.

[X.]a das Verfahren im November 2020 bereits seit sechs Jahren anhängig war, musste sich das Gericht nach Auffassung des erkennenden Senats um eine Verfahrensförderung bemühen, die über die bloße Weiterleitung der beiden Schriftsätze hinausging. Auch andere Tätigkeiten mit dem Ziel der [X.]eendigung des Ausgangsverfahrens finden sich nicht in den Akten. Vielmehr zeigt die Tatsache, dass die [X.]erichterstatterin eine Wiedervorlage zum 04.01.2021 angeordnet hat, dass sie im [X.] noch nicht mit Maßnahmen beginnen wollte, um das Verfahren einer Entscheidung zuzuführen. Folglich ist das Ausgangsverfahren im Monat November 2020 verzögert.

(8) Von [X.]ezember 2020 bis zur Ladung zur mündlichen Verhandlung am 10.04.2021 fehlt es ebenfalls an einer Aktivität des [X.]. Somit ist das Ausgangsverfahren für weitere vier Monate verzögert.

(9) Anschließend ist das Verfahren vom [X.] bis zur Abfassung und Zustellung des Urteils aktiv und ohne entschädigungsrelevante Unterbrechungen betrieben worden.

3. [X.]ie Klage ist nicht in vollem Umfang begründet.

a) Soweit die Klägerin bei der Erhebung ihrer [X.] im Jahr 2019 zunächst beantragt hatte, an sie eine angemessene Entschädigung zu zahlen, deren Höhe nach freiem Ermessen des Entschädigungsgerichts festzusetzen sei, und sie lediglich hilfsweise eine Entschädigung in Höhe von mindestens 3.300 € begehrt hatte, liegt insgesamt nur ein Antrag vor. [X.]as von der Klägerin als Hilfsantrag bezeichnete [X.]egehren enthält inhaltlich kein hilfsweises Petitum, das erst dann zum Tragen kommen soll, wenn dem Hauptantrag nicht entsprochen wird. Vielmehr präzisiert, bestimmt und begrenzt es die beantragte Entschädigungszahlung (vgl. insoweit schon Senatsurteil vom 02.12.2015 - X K 7/14, [X.]FHE 252, 233, [X.]St[X.]l II 2016, 405, Rz 20).

Nach erneuter Aufnahme des [X.] nach Rechtskraft des [X.]-Urteils im Ausgangsverfahren hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 05.08.2021 im Rahmen einer zulässigen Klageerweiterung innerhalb der Frist des § 198 Abs. 5 Satz 2 [X.] eine Entschädigung nunmehr in Höhe von mindestens 5.100 € beantragt und insoweit den Entscheidungsumfang des Gerichts bestimmt.

b) [X.]ie Klage hat allerdings nur in Höhe von 4.300 € Erfolg, da --wie oben unter III.2.c bb [X.] das Verfahren für 43 Monate als verzögert anzusehen ist, sodass eine Entschädigung in Höhe von 4.300 € zu leisten ist.

aa) [X.]as Entstehen eines Nichtvermögensnachteils wird in Fällen unangemessener Verfahrensdauer gemäß § 198 Abs. 2 Satz 1 [X.] vermutet. Anhaltspunkte dafür, dass eine Wiedergutmachung auf andere Weise (§ 198 Abs. 2 Satz 2, Abs. 4 [X.]) im Streitfall ausreichend wäre, sind nicht erkennbar.

bb) Auch Umstände dafür, dass der in § 198 Abs. 2 Satz 3 [X.] genannte [X.] von 1.200 € für jedes Jahr der Verzögerung vorliegend unbillig (§ 198 Abs. 2 Satz 4 [X.]) sein könnte, sind nicht ersichtlich. Insbesondere führt weder die Gesamtdauer der Unangemessenheit von 43 Monaten noch die wirtschaftliche [X.]edeutung des Ausgangsverfahrens auch für Folgejahre oder der Tod des [X.] dazu, eine Abweichung vom [X.] vorzunehmen. Sollte die Klägerin meinen, sie sei aufgrund des Todes des [X.] in eine [X.]eweisnot für die von ihr behauptete Richtigkeit ihres Vorbringens im Ausgangsverfahren gekommen, wäre dies bereits im Ausgangsverfahren bei der [X.]eweiswürdigung zu beachten gewesen (vgl. auch Senatsurteil vom 27.04.2016 - X R 1/15, [X.]FHE 253, 306, [X.]St[X.]l II 2016, 840, Rz 25). [X.]ies darüber hinaus zum Anlass zu nehmen, den gesetzlichen [X.] für die Entschädigung von Nichtvermögensnachteilen wegen überlanger Verfahrensdauer zu erhöhen, ist nicht angezeigt. [X.]as Gleiche gilt im Hinblick auf den hohen Streitwert des Ausgangsverfahrens, da das damit verbundene Risiko der Klägerin nicht als existenziell angesehen werden kann.

cc) Obwohl im Gesetz ein Jahresbetrag genannt ist, ist dieser [X.] im konkreten Fall nach Monaten zu bemessen (Senatsurteil vom 19.03.2014 - X K 8/13, [X.]FHE 244, 521, [X.], 584, Rz 37, m.w.N.).

dd) [X.]a die Klägerin bereits im [X.]ezember 2016 eine (weitere) Verzögerungsrüge erhoben hat, ist, soweit das Verfahren ab diesem Monat unangemessen verzögert war, auch gemäß § 198 Abs. 3 Satz 1 [X.] eine Entschädigung in Geld auszusprechen.

4. [X.]er Zinsanspruch folgt aus § 291 i.V.m. § 288 Abs. 1 Satz 2 [X.]G[X.].

a) Nach § 291 Satz 1 Halbsatz 1 [X.]G[X.] hat der Schuldner eine Geldschuld --auch außerhalb eines Verzugs-- von dem Eintritt der Rechtshängigkeit an zu verzinsen. [X.]ie Rechtshängigkeit eines erst im Laufe des Prozesses erhobenen Anspruchs tritt nach § 155 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) i.V.m. § 261 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) mit dem [X.]punkt ein, in dem der Anspruch in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht oder ein den Erfordernissen des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO entsprechender Schriftsatz zugestellt wird. Wird die Schuld erst nach Rechtshängigkeit fällig, beginnt die Verzinsung mit der Fälligkeit (§ 291 Satz 1 Halbsatz 2 [X.]G[X.]).

b) Für die vorliegende [X.], die nach § 66 Satz 2 [X.]O mit der Zustellung an den [X.]eklagten am 10.04.2019 rechtshängig wurde, gilt demnach Folgendes:

aa) [X.]ie Entschädigung ist in Höhe eines [X.] von 2.800 €, der die Verzögerungsmonate bis einschließlich April 2019 betrifft, ab dem auf die Zustellung der Klageschrift folgenden Tag --dem 11.04.2019-- zu verzinsen (§ 187 Abs. 1 [X.]G[X.] analog). Ein Zahlungsanspruch für zeitlich hierüber hinausgehende Verzögerungsmonate war zu diesem [X.]punkt weder geltend gemacht noch fällig.

bb) Soweit der [X.]eklagte für [X.]räume ab Mai 2019 eine weitergehende Entschädigung von 1.500 € zu leisten hat, ist dieser Teilbetrag ab dem 17.08.2021 zu verzinsen. Jene Ansprüche hat die Klägerin klageerweiternd erst mit Schriftsatz vom 05.08.2021 geltend gemacht. Mangels förmlicher Zustellung dieses Schriftsatzes ist in entsprechender Anwendung des § 155 Satz 1 [X.]O i.V.m. § 261 Abs. 2 ZPO auf den [X.]punkt der [X.]ekanntgabe an den [X.]eklagten abzustellen. Ausgehend von der Absendung des Schriftsatzes durch die [X.] am 11.08.2021 und bei sinngemäßer Zugrundelegung der [X.]ekanntgabefiktion in abgabenrechtlichen Verfahren gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 der Abgabenordnung sowie der hierzu ergangenen Rechtsprechung (u.a. [X.]FH-Urteil vom 14.10.2003 - IX R 68/98, [X.]FHE 203, 26, [X.]St[X.]l II 2003, 898) gilt der [X.] vom 05.08.2021 somit am 16.08.2021 als bekanntgegeben.

5. [X.]er Senat hält es für angebracht, ohne [X.]urchführung einer mündlichen Verhandlung durch Gerichtsbescheid zu entscheiden (§ 155 Satz 2 i.V.m. § 90a Abs. 1 [X.]O).

6. [X.]ie Kostenentscheidung beruht auf § 155 Satz 2 i.V.m. § 136 Abs. 1 Satz 1 [X.]O. Sie berücksichtigt, dass die Klägerin hinsichtlich ihres Antrags in der Hauptsache, den [X.]eklagten zur Zahlung einer Entschädigung von (mindestens) 5.100 € zu verurteilen, in Höhe von 4.300 € obsiegt.

Meta

X K 5/21 (X K 2/19), X K 5/21, X K 2/19

06.04.2022

Bundesfinanzhof 10. Senat

Urteil

vorgehend BFH, 6. Juni 2019, Az: X K 2/19, Beschluss

§ 198 Abs 1 S 1 GVG, § 198 Abs 3 GVG, § 198 Abs 5 S 2 GVG, § 198 Abs 6 Nr 2 GVG, § 66 S 2 FGO, § 291 S 1 Halbs 1 BGB, § 261 Abs 2 ZPO, § 198 Abs 1 S 2 GVG, § 198 Abs 5 S 1 GVG, § 198 Abs 2 S 4 GVG, § 288 Abs 1 S 2 BGB

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 06.04.2022, Az. X K 5/21 (X K 2/19), X K 5/21, X K 2/19 (REWIS RS 2022, 5953)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 5953

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