Bundesfinanzhof, Beschluss vom 27.12.2010, Az. IX B 107/10

9. Senat | REWIS RS 2010, 27

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Gegenstand

Verletzung der Sachaufklärungspflicht - Inhalt eines Sitzungsprotokolls - maßgebliche ortsübliche Miete


Leitsatz

1. NV: Das FG verletzt die ihm obliegende Pflicht zur Sachaufklärung dadurch, dass es nicht von sich aus einem Beweisangebot eines Beteiligten nachgeht.

2. NV: Ein Sitzungsprotokoll muss über die in § 160 Abs. 1 und Abs. 3 ZPO ausdrücklich aufgeführten Punkte hinaus alle wesentlichen Vorgänge der Verhandlung enthalten (§ 160 Abs. 2, § 165 Satz 1 ZPO). Wesentlich i.S. von § 160 Abs. 2 ZPO sind alle entscheidungs- und ergebniserheblichen Vorgänge, damit sich die Rechtsmittelinstanz im Einzelfall von der Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens effektiv überzeugen kann (BFH-Beschluss vom 17. März 2008 X B 93/07).

3. Die maßgebliche ortsübliche Miete ergibt sich grundsätzlich aus dem örtlichen Mietspiegel, wobei jeder der Mietwerte -nicht nur der Mittelwert- als ortsüblich anzusehen ist, den der Mietspiegel im Rahmen einer Spanne zwischen mehreren Mietwerten für vergleichbare Wohnungen ausweist.

Gründe

1

Die Beschwerde ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Finanzgericht --[X.]-- (§ 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--). Der von der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) geltend gemachte Verfahrensmangel der Verletzung der Sachaufklärungspflicht liegt vor; auf ihm kann die angefochtene Entscheidung beruhen (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O).

2

1. Zwar ist der von der Klägerin gerügte Verfahrensmangel eines Verstoßes gegen den klaren Inhalt der Akten [X.] einer Verletzung des § 96 Abs. 1 Satz 1 [X.]O nicht schlüssig dargelegt. Denn die Einwendungen sowohl aus dem Gesamtzusammenhang der Klageschrift wie im weiteren Verlauf des Klageverfahrens betreffen ausschließlich die vom Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt --[X.]--) vorgelegte Überschussprognose mit negativem Ergebnis, der eine von der Klägerin erstellte Überschussprognose mit positivem Ergebnis gegenübergestellt wurde. Das macht in diesem Kontext nur Sinn, wenn von einer verbilligten Vermietung unterhalb von 75 % der ortsüblichen Marktmiete ausgegangen wird.

3

2. Das [X.] hat aber die ihm obliegende Pflicht zur Sachaufklärung (§ 76 Abs. 1 [X.]O) dadurch verletzt, dass es nicht von sich aus dem Vorbringen und dem Beweisangebot der Klägerin zur Vermietung zu einem Mietpreis oberhalb von 75 % der ortsüblichen Marktmiete nachgegangen ist. Ein Rügeverlust ist nicht eingetreten; denn die fehlende Protokollierung des diesbezüglichen Vorbringens und [X.] wie auch dessen Ablehnung ist auf Unterlassungen des [X.] zurückzuführen.

4

a) Zwar hatten die Beteiligten nach dem Sitzungsprotokoll (zu dessen Beweiskraft: § 94 [X.]O i.V.m. § 165 der Zivilprozessordnung --ZPO--; vgl. Beschluss des [X.] --BFH-- vom 7. September 2006 IX B 199/05, [X.], 75) hinreichend Gelegenheit ("die Sach- und Rechtslage ... mit den Beteiligten erörtert"), sich tatsächlich und rechtlich zur Streitsache zu äußern; außer dem Klageantrag (Klägerin) und dem Klageabweisungsantrag ([X.]) ist kein weiterer Antrag dem Sitzungsprotokoll zu entnehmen. Offensichtlich wurde aber in der mündlichen Verhandlung seitens der Klägerin erstmals die Vorlage des maßgeblichen Mietspiegels angeboten, ein dahingehendes Beweisangebot vom [X.] aber als verspätet zurückgewiesen. Dieses Vorbringen scheint dem tatsächlichen Verlauf der mündlichen Verhandlung zu entsprechen; denn es wird vom [X.] in seiner Beschwerdeerwiderung bestätigt. Dafür spricht auch der von der Klägerin gestellte Antrag auf Protokollberichtigung und indirekt der ablehnende Beschluss des [X.], wonach die Äußerungen der Klägerin bzw. des [X.] zu diesem Thema "nicht zwingend in das Protokoll aufzunehmen" seien, da "weder ein Beweisantrag, noch ein Antrag gem. § 160 Abs. 4 Satz 1 ZPO (§ 94 [X.]O) gestellt" worden sei.

5

b) Ein Sitzungsprotokoll muss über die in § 160 Abs. 1 und Abs. 3 ZPO ausdrücklich aufgeführten Punkte hinaus alle wesentlichen Vorgänge der Verhandlung enthalten (§ 160 Abs. 2, § 165 Satz 1 ZPO). Wesentlich [X.] von § 160 Abs. 2 ZPO sind alle entscheidungs- und ergebniserheblichen Vorgänge, damit sich die Rechtsmittelinstanz im Einzelfall von der Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens effektiv überzeugen kann ([X.] vom 17. März 2008 [X.]/07, [X.], 1181; z.B. [X.]/Schütze/[X.], ZPO, 3. Aufl. 2007, § 160 Rz 16). Dazu zählen u.a. [X.] wie auch ein --wenn auch nur konkludent gestellter-- Beweisantrag ([X.] vom 25. April 2001 [X.] 137,138/00, [X.] 2001, 1565; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], § 94 [X.]O Rz 19) und insbesondere die Ablehnung der Protokollierung eines solchen. Beweisanträge können im Übrigen bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung gestellt werden. Daher ist im Streitfall nicht ersichtlich, warum ein Beweisangebot --zudem ohne entsprechende Protokollierung-- als verspätet zurückgewiesen wurde. Sollte das [X.] der Ansicht gewesen sein, dass ein zumindest konkludent gestellter Beweisantrag nicht hinreichend konkret formuliert gewesen sei, hätte es in Erfüllung seiner Hinweispflicht (§ 76 Abs. 2 [X.]O) auf eine entsprechende Konkretisierung hinwirken können. All das ist vorliegend nicht geschehen; das [X.] hat vielmehr ohne ersichtlichen Grund (etwa eine vorherige [X.]) das neue Vorbringen und das Beweisbegehren der Klägerin ignoriert.

6

3. Aufgrund des darin liegenden [X.] wird das [X.]-Urteil ohne sachliche Nachprüfung aufgehoben und der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen (§ 116 Abs. 6 [X.]O). Das [X.] wird das Vorbringen der Klägerin zu würdigen und ggf. eine Beweiserhebung durchzuführen oder aber hinreichend zu erklären haben, warum es dessen nicht bedarf.

7

Für das weitere Verfahren weist der Senat vorsorglich auf Folgendes hin: Die maßgebliche ortsübliche Miete (für Wohnungen vergleichbarer Art, Lage und Ausstattung) ist vom [X.] als Tatsacheninstanz im Wege der Schätzung zu ermitteln (vgl. BFH-Urteil vom 15. Dezember 1978 VI R 36/77, [X.], 26, [X.] 1979, 629; [X.] vom 24. Juli 2008 V[X.] 7/08, [X.], 1838). Sie ergibt sich grundsätzlich aus dem örtlichen Mietspiegel (vgl. BFH-Urteile vom 17. August 2005 IX R 10/05, [X.], 151, [X.] 2006, 71; vom 17. Februar 1999 II R 48/97, [X.] 1999, 1452; vom 4. März 1999 II R 69/97, [X.] 1999, 1454). Dabei ist [X.]jeder   der [X.] nur der Mittelwert-- als ortsüblich anzusehen, den der Mietspiegel im Rahmen einer Spanne zwischen mehreren [X.] für vergleichbare Wohnungen ausweist (BFH-Urteil in [X.], 151, [X.] 2006, 71; [X.] vom 11. September 2007 [X.], [X.], 2291).

Meta

IX B 107/10

27.12.2010

Bundesfinanzhof 9. Senat

Beschluss

vorgehend FG München, 21. Mai 2010, Az: 8 K 680/08, Urteil

§ 160 Abs 2 ZPO, § 94 FGO, § 76 Abs 1 FGO, § 76 Abs 2 FGO, § 96 Abs 1 S 1 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 116 Abs 6 FGO, § 165 ZPO, § 295 ZPO, § 21 Abs 2 EStG 2002

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 27.12.2010, Az. IX B 107/10 (REWIS RS 2010, 27)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 27

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