Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 18.10.2012, Az. 2 BvR 2776/10

2. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2012, 2186

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Voraussetzungen für Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Zustellung in Abwesenheit und Anforderungen der Art 19 Abs 4 GG, 103 Abs 1 GG - bei lediglich kurzfristiger Abwesenheit keine besonderen Vorkehrungen für eventuelle Zustellungen geboten - Erforderlichkeit der Anhörungsrüge zur Rechtswegerschöpfung nur bei Rüge eine neuen, eigenständigen Gehörsverletzung durch Rechtsmittelgericht


Tenor

Die Beschlüsse des [X.] vom 27. Oktober 2010 - 22 [X.] - und des [X.] vom 30. August 2010 - 933 Cs 498 Js 110165/10 - verletzen den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 19 Absatz 4 und Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.

...

Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 8.000,00 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1

Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen die Verweigerung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Einspruchsfrist gegen einen Strafbefehl.

2

1. Mit Strafbefehl vom 6. Juli 2010 setzte das [X.] gegen den Beschwerdeführer wegen eines fahrlässig begangenen Delikts nach § 316 StGB eine Geldstrafe in Höhe von 40 Tagessätzen zu je 40,00 € fest. Dem lag der Vorwurf zugrunde, der Beschwerdeführer habe am 26. August 2009 gegen 12.45 Uhr mit seinem Motorroller am Straßenverkehr teilgenommen, obwohl er infolge des vorangegangenen Genusses berauschender Mittel fahruntüchtig gewesen sei. Dem Beschwerdeführer wurde die Fahrerlaubnis entzogen. Die Einziehung seines Führerscheins wurde angeordnet, eine Sperrfrist für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis von acht Monaten festgesetzt sowie ein Fahrverbot von drei Monaten verhängt.

3

[X.] ist dem Beschwerdeführer am 15. Juli 2010 durch Einwurf in den Hausbriefkasten seines ständigen Wohnsitzes im Inland zugestellt worden.

4

2. Mit Schreiben seines Verteidigers vom 10. August 2010 legte der Beschwerdeführer Einspruch gegen den Strafbefehl ein und beantragte wegen der versäumten Einspruchsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Er habe sich in der [X.] vom 12. Juli 2010 bis einschließlich 5. August 2010 urlaubsbedingt bei seinen Verwandten in [X.] aufgehalten. Zur Glaubhaftmachung legte er eine eigene eidesstattliche Versicherung vor.

5

Mit Beschluss des [X.] vom 30. August 2010 wurde der Antrag des Beschwerdeführers als unbegründet verworfen. Die Tatsachen zur Begründung des [X.] seien nicht nach § 45 Abs. 2 Satz 1 StPO glaubhaft gemacht, da bei längerfristiger Urlaubsabwesenheit besondere Vorkehrungen zu treffen seien, um rechtzeitig Kenntnis von Zustellungen zu erlangen.

6

3. Gegen diese Entscheidung legte der Beschwerdeführer mit Schriftsatz seines Verteidigers sofortige Beschwerde ein. Zur Glaubhaftmachung wurde ergänzend eine weitere eidesstattliche Versicherung einer Verwandten, bei der sich der Beschwerdeführer in [X.] aufgehalten habe, vorgelegt.

7

Die sofortige Beschwerde wurde mit Beschluss des [X.] vom 27. Oktober 2010 als unbegründet zurückgewiesen. Aufgrund der nunmehr vorgelegten eidesstattlichen Versicherung sei zwar glaubhaft gemacht, dass sich der Beschwerdeführer im [X.]raum der Zustellung des Strafbefehls in [X.] aufgehalten habe. Er könne sich aber nicht auf den Grundsatz berufen, dass bei vorübergehender Abwesenheit keine Pflicht bestehe, Vorkehrungen zu treffen, um von Zustellungen Kenntnis zu erlangen. Denn er sei durch die Polizeibehörden als Beschuldigter vernommen worden; dabei seien ihm der Tatvorwurf und die gegen ihn geführten Ermittlungen bekannt gegeben worden.


II.

8

1. Mit der fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerde macht der Beschwerdeführer geltend, durch die angegriffenen Gerichtsentscheidungen sei er in seinen Verfahrensgrundrechten aus Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.

9

Die Gerichte im [X.] hätten - soweit sie von ihm verlangt hätten, wegen seiner urlaubsbedingten Abwesenheit von drei Wochen besondere Vorkehrungen wegen möglicher Zustellungen zu treffen - die Anforderungen zur Erlangung der Wiedereinsetzung und damit zur Wahrnehmung des rechtlichen Gehörs im Strafverfahren überspannt. Trotz Entnahme einer Blutprobe und der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens habe er nicht damit rechnen müssen, dass ihm etwa ein Jahr später während einer vorübergehenden Abwesenheit von seinem ständigen Wohnsitz für die Dauer von drei Wochen während der Hauptferienzeit ein Strafbefehl zugestellt werde.

2. Das [X.] hatte Gelegenheit zur Stellungnahme; es hat von einer Stellungnahme im [X.] abgesehen.

3. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem [X.] vorgelegen.

III.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Annahme ist zur Durchsetzung der Verfahrensgrundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Entscheidung durch die Kammer liegen vor (§ 93c Abs. 1 [X.]).

1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Insbesondere war der Beschwerdeführer - trotz Rüge der Verletzung des grundrechtsgleichen Rechts auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG - nicht gehalten, zur Erschöpfung des Rechtsweges gemäß § 90 Abs. 2 Satz 1 [X.] zuvor Anhörungsrüge nach § 33a StPO zu erheben. Er rügt nicht die Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör im [X.], sondern die Versagung des rechtlichen Gehörs durch Verweigerung des Zugangs zum gerichtlichen Einspruchsverfahren als Ergebnis des [X.]s. Er war daher nicht verpflichtet, mit einer Anhörungsrüge gemäß § 33a StPO gegen den Beschluss des [X.] vorzugehen, weil dieses der behaupteten Gehörsverletzung durch das Amtsgericht nicht abgeholfen hat. Ein solches Vorgehen wäre nur dann erforderlich gewesen, wenn er eine neue und eigenständige Verletzung seines Gehörs durch das [X.] hätte rügen wollen (vgl. [X.] 107, 395 <411>;BVerfGK 11, 390 <393>; 13, 496 <499 f.>).

2. Das Amtsgericht hat dadurch, dass es die Wiedereinsetzung in die versäumte Einspruchsfrist verweigert hat, den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG und seinem grundrechtsgleichen Recht auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Der angegriffene Beschluss des [X.] hat durch die Bestätigung der Entscheidung des Amtsgerichts den Verfassungsverstoß perpetuiert.

a) Der in Art. 19 Abs. 4 GG verankerte Anspruch auf effektiven Rechtsschutz gegen Akte öffentlicher Gewalt überlässt zwar die nähere Ausgestaltung des durch die Vorschrift garantierten Rechtsweges der jeweiligen Prozessordnung. Bei der Auslegung und Anwendung dieser Prozessordnung dürfen die Gerichte aber den Zugang zu den den Rechtsuchenden eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer Weise erschweren (vgl. [X.] 44, 302 <305>; 52, 203 <207>; 69, 381 <385>). Insbesondere dürfen die Anforderungen daran, was der Betroffene veranlasst haben und vorbringen muss, um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erlangen, nicht überspannt werden (vgl. [X.] 40, 88 <91>; 67, 208 <212 f.>; 110, 339 <342>).

Bei Versäumnis einer Frist - wie hier der Einspruchsfrist gegen den Strafbefehl - hängt die Möglichkeit, sich rechtliches Gehör zu verschaffen, davon ab, ob Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wird. Der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG verlangt daher ebenfalls, bei Anwendung und Auslegung der die Wiedereinsetzung regelnden Vorschriften die Anforderungen zur Erlangung der Wiedereinsetzung nicht zu überspannen (vgl. [X.] 25, 158 <166>; 26, 315 <318>; 31, 388 <390>; 40, 46 <49 f.>; 40, 95 <99>). Dies gilt insbesondere in den Fällen des ersten Zugangs zum Gericht, in denen das Rechtsinstitut der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unmittelbar der Verwirklichung verfassungsrechtlich verbürgter Rechtsschutzgarantien dient (vgl. [X.] 40, 88 <91>; 54, 80 <83 f.>; 67, 208 <212 f.>).

Nach der Rechtsprechung des [X.]s darf es dem Bürger nicht als ein die Wiedereinsetzung ausschließender Umstand zugerechnet werden, wenn er wegen einer nur vorübergehenden Abwesenheit von seiner ständigen Wohnung keine besonderen Vorkehrungen wegen der möglichen Zustellung eines Bußgeldbescheids oder Strafbefehls getroffen hat (vgl. [X.] 37, 100 <102>; 40, 88 <91 f.>; 40, 182 <186>; 41, 332 <335>). Es kommt nicht darauf an, ob die urlaubsbedingte Abwesenheit - wie hier - in die "allgemeine Ferienzeit" oder eine sonstige Jahreszeit fällt. Entscheidend ist allein, dass die Abwesenheit eine nur vorübergehende und relativ kurzfristige - längstens etwa sechs Wochen - von einer sonst ständig benutzten Wohnung ist (vgl. [X.] 40, 182 <186>; 41, 332 <336>). Das gilt auch dann, wenn er weiß, dass gegen ihn ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, oder er als Beschuldigter oder Betroffener vernommen wurde (vgl. [X.] 25, 158 <166>; 34, 154 <156 f.>).

b) Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht. Die Gerichte im [X.] haben die Anforderungen an die Voraussetzungen für die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ersichtlich überspannt und dem Beschwerdeführer dadurch den ersten Zugang zum Gericht verwehrt.

aa) Sie beruhen auf der Annahme einer Obliegenheit, bereits bei einer vorübergehenden urlaubsbedingten Abwesenheit von nur etwa drei Wochen besondere Vorkehrungen hinsichtlich möglicher Zustellungen zu treffen. Dies widerspricht den dargestellten verfassungsrechtlichen Maßstäben.

bb) Der Umstand, dass der Beschwerdeführer als Beschuldigter vernommen worden war und ihm der Tatvorwurf sowie die Einleitung des Ermittlungsverfahrens bekannt gegeben wurden, führt - entgegen der Auffassung des [X.] - zu keiner anderen Bewertung, zumal seit der Feststellung der Tat und der Anhörung des Betroffenen am 26. August 2009 bis zur Zustellung des Strafbefehls am 15. Juli 2010 fast ein Jahr vergangen war und daher für den Beschwerdeführer keine besondere Veranlassung bestand, die Zustellung eines Strafbefehls während der allgemeinen Urlaubszeit in Betracht zu ziehen.

3. Die angegriffenen Gerichtsbeschlüsse des Amtsgerichts und des [X.] sind daher aufzuheben. Die Sache ist an das Amtsgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 i. V. m. § 95 Abs. 2 [X.]).

IV.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung im [X.] beruht auf § 34a Abs. 2 [X.].

Der nach § 37 Abs. 2 RVG festzusetzende Gegenstandswert für die anwaltliche Tätigkeit im [X.] beträgt mindestens 4.000,00 € und, wenn wie hier der Verfassungsbeschwerde durch die Entscheidung einer Kammer stattgegeben wird, in der Regel 8.000,00 €. Weder die objektive Bedeutung der Sache noch Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit weisen Besonderheiten auf, die zu einer Abweichung Anlass geben.

Meta

2 BvR 2776/10

18.10.2012

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 3. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend LG München I, 27. Oktober 2010, Az: 22 Qs 77/10, Beschluss

Art 19 Abs 4 GG, Art 103 Abs 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 33a StPO, § 45 Abs 2 S 1 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 18.10.2012, Az. 2 BvR 2776/10 (REWIS RS 2012, 2186)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 2186

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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