Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 13.01.2012, Az. 9 B 56/11

9. Senat | REWIS RS 2012, 10147

© Bundesverwaltungsgericht, Foto: Michael Moser

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Ermittlung des Klagebegehrens; anwaltlich vertretener Kläger


Leitsatz

Maßgebend für den Umfang des Klagebegehrens ist gemäß § 88 VwGO nicht die Fassung des Klageantrages, sondern das wirkliche Rechtsschutzziel, wie es sich aus dem gesamten Parteivorbringen, insbesondere der Klagebegründung, erschließt (im Anschluss an stRspr). Unbeschadet der gesteigerten Bedeutung, die der Fassung des Klageantrages eines anwaltlich vertretenen Klägers zukommt, hat das Gericht auch im Anwaltsprozess dem wirklichen Klageziel Rechnung zu tragen, sofern dieses eindeutig von der Antragsfassung abweicht.

Gründe

1

Die [X.]eschwerde ist zulässig und teilweise begründet. Zwar rechtfertigt das [X.]eschwerdevorbringen nicht die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher [X.]edeutung (1.). Jedoch hat die Verfahrensrüge mit dem Ergebnis Erfolg (2.), dass der Rechtsstreit in dem im Tenor bezeichneten Umfang zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen wird (§ 132 Abs. 2 Nr. 3, § 133 Abs. 6 VwGO).

2

1. Die Grundsatzrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) greift nicht durch. Grundsätzliche [X.]edeutung hat eine Rechtsfrage dann, wenn für die Entscheidung des vorinstanzlichen Gerichts eine konkrete fallübergreifende Rechtsfrage des revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO) von [X.]edeutung war, deren noch ausstehende höchstrichterliche Klärung im Revisionsverfahren zu erwarten ist (stRspr; vgl. [X.]eschlüsse vom 2. Oktober 1961 - [X.]VerwG 8 [X.] 78.61 - [X.]VerwGE 13, 90 <91 f.>, vom 23. April 1996 - [X.]VerwG 11 [X.] - [X.] 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 10 S. 15, vom 30. März 2005 - [X.]VerwG 1 [X.] 11.05 - NVwZ 2005, 709 und vom 2. August 2006 - [X.]VerwG 9 [X.] 9.06 - NVwZ 2006, 1290). Daran fehlt es.

3

a) Soweit die [X.]eschwerde die Frage aufwirft,

"Ist es mit dem Rechtsstaatsprinzip gemäß Art. 20 Abs. 3 [X.] in Verbindung mit dem aus Art. 3 [X.] folgenden Willkürverbot vereinbar, wenn § 3 Abs. 3 KAG NRW dahingehend ausgelegt wird, dass es als zwingende Voraussetzung für die Prognoseentscheidung der Gemeinde bezüglich zu erhebender Vorauszahlungen keiner Steuerfestsetzung aus dem Vorjahr bedarf?",

wendet sie sich gegen die Auslegung von Landesrecht (§ 3 Abs. 3 KAG NRW), die vom Revisionsgericht nicht nachgeprüft wird und eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher [X.]edeutung deswegen nicht begründen kann. Abweichendes folgt nicht daraus, dass die Frage die Vereinbarkeit der vom Oberverwaltungsgericht vorgenommenen Auslegung mit [X.]estimmungen des [X.]undesverfassungsrechts thematisiert. [X.] könnte sie nur erlangen, wenn die angeführten bundesrechtlichen Maßstabsnormen, an denen die Auslegung und Anwendung der landesrechtlichen Vorschrift zu messen sind, ihrerseits ungeklärte Fragen von fallübergreifender [X.]edeutung aufwerfen würden (stRspr; vgl. etwa [X.]eschluss vom 7. März 1996 - [X.]VerwG 6 [X.] 11.96 - [X.] 310 § 137 Abs. 1 VwGO Nr. 7). Das ist nicht ansatzweise dargetan.

4

b) Zur Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher [X.]edeutung führt ebenfalls nicht die Frage,

"Wie ist § 139 [X.]G[X.] analog in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 [X.] in Verbindung mit dem aus Art. 3 [X.] folgenden Willkürverbot auszulegen, wenn eine Gemeinde in einer Satzung bewusst ein zweigleisiges Festsetzungssystem dergestalt geschaffen hat, dass dem Steuerschuldner zwei [X.] und Zahlungsmodalitäten eröffnet werden."

5

[X.]ei sachgerechter Auslegung dieser Frage will die [X.]eschwerde die Voraussetzungen einer Teil- oder Gesamtnichtigkeit von Satzungen mit den genannten Regelungen geklärt wissen. Dazu bedarf es jedoch keiner revisionsgerichtlichen Entscheidung. Die [X.], von der entsprechenden Anwendung des § 139 [X.]G[X.] ausgehenden Fragen der Gesamt- oder bloßen Teilnichtigkeit von Satzungen sind höchstrichterlich bereits geklärt. Danach steht fest, dass die Entscheidung, ob ein Rechtsmangel zur Gesamtnichtigkeit der Satzung oder nur zur Nichtigkeit einzelner Vorschriften führt, davon abhängt, ob - erstens - die [X.]eschränkung der Nichtigkeit eine mit höherrangigem Recht vereinbare sinnvolle (Rest-)Regelung des [X.] belässt und ob - zweitens - hinreichend sicher ein entsprechender hypothetischer Wille des [X.] angenommen werden kann (vgl. u.a. [X.]eschlüsse vom 20. August 1991 - [X.]VerwG 4 N[X.] 3.91 - [X.] 310 § 47 VwGO Nr. 59 S. 81 ff. und vom 28. August 2008 - [X.]VerwG 9 [X.] 40.08 - [X.] 401.9 [X.]eiträge Nr. 56 Rn. 13). Von diesen Grundsätzen ist das Oberverwaltungsgericht zutreffend ausgegangen. Im Übrigen hängt die [X.]eantwortung der Frage maßgeblich von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab, die einer verallgemeinerungsfähigen [X.]eantwortung in einem Revisionsverfahren nicht zugänglich sind.

6

2. Mit der Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) macht die Klägerin geltend, das Oberverwaltungsgericht habe ihr Klagebegehren unter Verstoß gegen § 88 VwGO unzutreffend ausgelegt und deshalb über einen Teil der Klage entgegen dem Klageantrag nicht in der Sache entschieden. Es habe zu Unrecht angenommen, das Verwaltungsgericht sei - seinerseits unter Verstoß gegen § 88 VwGO - mit der Aufhebung der [X.] für 2009 und die Folgejahre über das Klagebegehren hinausgegangen. Demgegenüber ergebe sich aus der Klagebegründung vom 7. Mai 2009, wie auch aus der Interessenlage der Klägerin, dass das Verwaltungsgericht das [X.] zutreffend erkannt habe. Diese Rüge greift durch.

7

Nach § 88 VwGO darf das Gericht über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden; es hat vielmehr das tatsächliche Rechtschutzbegehren zu ermitteln (Urteil vom 3. Juli 1992 - [X.]VerwG 8 C 72.90 - [X.] 310 § 88 VwGO Nr. 19 S. 4 f.; [X.]eschlüsse vom 5. Februar 1998 - [X.]VerwG 2 [X.] 56.97 - [X.] 310 § 88 VwGO Nr. 25 und vom 17. Dezember 2009 - [X.]VerwG 6 [X.] 30.09 - [X.] 310 § 88 VwGO Nr. 38 Rn. 3). Maßgebend für den Umfang des Klagebegehrens ist das aus dem gesamten Parteivorbringen, insbesondere der Klagebegründung, zu entnehmende wirkliche Rechtsschutzziel (stRspr; Urteil vom 3. Juli 1992 a.a.[X.]; [X.]eschluss vom 25. Juni 2009 - [X.]VerwG 9 [X.] 20.09 - [X.] 310 § 88 VwGO Nr. 37 Rn. 2). Insoweit sind die für die Auslegung von Willenserklärungen geltenden Grundsätze (§§ 133, 157 [X.]G[X.]) anzuwenden. Wesentlich ist der geäußerte [X.], wie er sich aus der prozessualen Erklärung und sonstigen Umständen ergibt; der Wortlaut der Erklärung tritt hinter deren Sinn und Zweck zurück (Urteil vom 27. April 1990 - [X.]VerwG 8 C 70.88 - [X.] 310 § 74 VwGO Nr. 9 S. 5; [X.]eschluss vom 19. Juni 2010 - [X.]VerwG 6 [X.] 12.10 - [X.] 422.2 Rundfunkrecht Nr. 55 Rn. 4). Neben dem Klageantrag und der Klagebegründung ist auch die Interessenlage des Klägers zu berücksichtigen, soweit sie sich aus dem Parteivortrag und sonstigen für das Gericht und den [X.]eklagten als Empfänger der Prozesserklärung erkennbaren Umständen ergibt (vgl. Urteil vom 18. November 1982 - [X.]VerwG 1 C 62.81 - [X.] 310 § 82 VwGO Nr. 11 S. 5 f.; [X.]eschlüsse vom 17. Dezember 2009 a.a.[X.] und vom 19. Juni 2010 a.a.[X.]).

8

Ist aber der Kläger bei der Fassung des [X.] anwaltlich vertreten worden, kommt der Antragsformulierung allerdings gesteigerte [X.]edeutung für die Ermittlung des tatsächlich Gewollten zu. Selbst dann darf die Auslegung jedoch vom Antragswortlaut abweichen, wenn die Klagebegründung, die beigefügten [X.]escheide oder sonstige Umstände eindeutig erkennen lassen, dass das wirkliche [X.] von der Antragsfassung abweicht.

9

Gemessen an diesen Grundsätzen hat das Oberverwaltungsgericht das Klagebegehren nicht zutreffend ausgelegt. Es ist zwar zu Recht davon ausgegangen, dass nach dem Klageantrag die Aufhebung des [X.]escheides vom 12. Dezember 2008 nur hinsichtlich der Steuerfestsetzung für das Kalenderjahr 2007 und der Festsetzung von Vorauszahlungen für das Kalenderjahr 2008, nicht aber für das Kalenderjahr 2009 beantragt war. Dagegen hat es die Klagebegründung unberücksichtigt gelassen, die im Zusammenhang mit der Interessenlage der Klägerin deutlich erkennen lässt, dass [X.] die Aufhebung der Festsetzung von Vorausleistungen insgesamt war. In der Klagebegründung hat die Klägerin ihr Aufhebungsbegehren auf die Rechtsauffassung gestützt, die Vergnügungssteuersatzung der [X.]eklagten sei nichtig. Diese Satzung bildete die Rechtsgrundlage für die Festsetzung von Vorausleistungen nicht nur für das [X.], sondern in gleicher Weise für die Folgejahre. Indem die Klagebegründung daraus den Schluss gezogen hat, "die angefochtene Festsetzung von Vorausleistungen (sei) ebenfalls unwirksam", hat sie unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass diese Festsetzung uneingeschränkt angegriffen werden sollte. Gestützt wird dieses Auslegungsergebnis durch die Interessenlage. Die Klägerin wurde durch die Festsetzung von Vorausleistungen insgesamt belastet. Ein sachlicher Grund, warum sie gegen diese [X.]elastung nur teilweise hätte vorgehen sollen, ist nicht erkennbar.

Das Urteil beruht auf dem aufgezeigten Verfahrensmangel. Denn das Oberverwaltungsgericht hat den Teil des erstinstanzlichen Urteils, der die Festsetzung der Vergnügungssteuervorauszahlung für das [X.] betrifft, wegen Verstoßes gegen § 88 VwGO aufgehoben, aber nicht in der Sache entschieden.

Da weitere Zulassungsgründe nicht eingreifen, macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, auf die Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 133 Abs. 6 VwGO das angefochtene Urteil im Umfang des Verfahrensfehlers aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen.

3. Die Kostenentscheidung folgt, soweit über die Kosten des [X.]eschwerdeverfahrens zu entscheiden war, aus § 154 Abs. 2 VwGO. Im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde entsteht eine Gerichtsgebühr nur, soweit die [X.]eschwerde verworfen oder zurückgewiesen wird. Die sonstigen Kosten des [X.]eschwerdeverfahrens, namentlich die außergerichtlichen Kosten, waren verhältnismäßig zu teilen, und zwar in der Weise, dass die Klägerin die Kosten im Maße ihres Unterliegens trägt und die Entscheidung über diejenigen Kosten, die dem Anteil der erfolgreichen [X.]eschwerde am gesamten [X.]eschwerdeverfahren entsprechen, der Kostenentscheidung in der Hauptsache folgt.

Meta

9 B 56/11

13.01.2012

Bundesverwaltungsgericht 9. Senat

Beschluss

Sachgebiet: B

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 7. April 2011, Az: 14 A 1594/09, Urteil

§ 132 Abs 2 Nr 3 VwGO, § 88 VwGO

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 13.01.2012, Az. 9 B 56/11 (REWIS RS 2012, 10147)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 10147

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

9 B 8/12 (Bundesverwaltungsgericht)


9 B 7/12 (Bundesverwaltungsgericht)

Verfahrensfehler; unzureichende Auslegung des Klagezieles


7 B 16/20 (Bundesverwaltungsgericht)

Immissionsschutzrechtliche Ausnahmegenehmigung für muslimischen Gebetsruf über Lautsprecher


4 B 42/14 (Bundesverwaltungsgericht)

Zulässigkeit eines Zwischenurteils; Umstellung einer Verpflichtungs- auf eine Fortsetzungsfeststellungsklage; Auslegung des Klagebegehrens


2 B 58/18 (Bundesverwaltungsgericht)

Staatsvertraglich geregelte unterschiedliche Richterbesoldung an gemeinsamen Fachobergerichten nach dem jeweiligen Sitzland


Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.