Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 12.03.2012, Az. 9 B 8/12

9. Senat | REWIS RS 2012, 8297

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Gründe

1

Die [X.]eschwerde ist zulässig und teilweise begründet. Zwar rechtfertigt das [X.]eschwerdevorbringen nicht die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher [X.]edeutung (1.). Jedoch hat die Verfahrensrüge mit dem Ergebnis Erfolg (2.), dass der Rechtsstreit in dem im Tenor bezeichneten Umfang zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen wird (§ 132 Abs. 2 Nr. 3, § 133 Abs. 6 VwGO).

2

1. Die Grundsatzrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) greift nicht durch. Grundsätzliche [X.]edeutung hat eine Rechtsfrage dann, wenn für die Entscheidung des vorinstanzlichen Gerichts eine konkrete fallübergreifende Rechtsfrage des revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO) von [X.]edeutung war, deren noch ausstehende höchstrichterliche Klärung im Revisionsverfahren zu erwarten ist (stRspr; vgl. [X.]eschlüsse vom 2. Oktober 1961 - [X.]VerwG 8 [X.] 78.61 - [X.]VerwGE 13, 90 <91 f.>, vom 23. April 1996 - [X.]VerwG 11 [X.] - [X.] 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 10 S. 15, vom 30. März 2005 - [X.]VerwG 1 [X.] 11.05 - NVwZ 2005, 709 und vom 2. August 2006 - [X.]VerwG 9 [X.] 9.06 - NVwZ 2006, 1290). Daran fehlt es.

3

Mit der Frage,

"Umfasst das Recht der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie gem. Art. 28 Abs. 2 GG in seiner Ausprägung als Satzungs- und Finanzhoheit auch die [X.]efugnis der Gemeinde, eine Prognoseentscheidung bezüglich zu erhebender Steuervorauszahlungen zu treffen, ohne selbige auf eine wirksame Steuerfestsetzung aus dem Vorjahr zurückführen zu können?"

macht die [X.]eschwerde einen Klärungsbedarf für das Verständnis des Art. 28 Abs. 2 GG geltend, den sie als bundesverfassungsrechtliche Maßstabsnorm heranzieht, an der die Auslegung und Anwendung der landesrechtlichen [X.]estimmung des § 3 Abs. 3 KAG NRW zu messen sei. Sie hat jedoch nicht ansatzweise dargetan, weshalb die Reichweite der vom Selbstverwaltungsrecht nach Art. 28 Abs. 2 GG umfassten Satzungs- und Finanzautonomie klärungsbedürftig sein sollte; insbesondere fehlt es an jeglichen Ausführungen dazu, inwiefern der Satzungs- und Finanzautonomie begrenzende Vorgaben für die Prognoseentscheidung der Gemeinde über zu erhebende Steuervorauszahlungen sollten entnommen werden können.

4

2. Mit der Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) macht die Klägerin geltend, das Oberverwaltungsgericht habe ihr Klagebegehren unter Verstoß gegen § 88 VwGO unzutreffend ausgelegt und deshalb über einen Teil der Klage entgegen dem Klageantrag nicht in der Sache entschieden. Es habe zu Unrecht angenommen, das Verwaltungsgericht sei - seinerseits unter Verstoß gegen § 88 VwGO - mit der Aufhebung der [X.] für 2009 und ggfs. die Folgejahre über das Klagebegehren hinausgegangen. Demgegenüber ergebe sich aus der Klagebegründung vom 6. Mai 2009 wie auch aus der Interessenlage der Klägerin, dass das Verwaltungsgericht das [X.] zutreffend erkannt habe. Diese Rüge greift durch.

5

Nach § 88 VwGO darf das Gericht über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden; es hat vielmehr das tatsächliche Rechtschutzbegehren zu ermitteln (Urteil vom 3. Juli 1992 - [X.]VerwG 8 C 72.90 - [X.] 310 § 88 VwGO Nr. 19 S. 4 f.; [X.]eschlüsse vom 5. Februar 1998 - [X.]VerwG 2 [X.] 56.97 - [X.] 310 § 88 VwGO Nr. 25 und vom 17. Dezember 2009 - [X.]VerwG 6 [X.] 30.09 - [X.] 310 § 88 VwGO Nr. 38 Rn. 3). Maßgebend für den Umfang des Klagebegehrens ist das aus dem gesamten Parteivorbringen, insbesondere der Klagebegründung, zu entnehmende wirkliche Rechtsschutzziel (stRspr; Urteil vom 3. Juli 1992 a.a.[X.]; [X.]eschluss vom 25. Juni 2009 - [X.]VerwG 9 [X.] 20.09 - [X.] 310 § 88 VwGO Nr. 37 Rn. 2). Insoweit sind die für die Auslegung von Willenserklärungen geltenden Grundsätze (§§ 133, 157 [X.]G[X.]) anzuwenden. Wesentlich ist der geäußerte [X.], wie er sich aus der prozessualen Erklärung und sonstigen Umständen ergibt; der Wortlaut der Erklärung tritt hinter deren Sinn und Zweck zurück (Urteil vom 27. April 1990 - [X.]VerwG 8 C 70.88 - [X.] 310 § 74 VwGO Nr. 9 S. 5; [X.]eschluss vom 19. Juni 2010 - [X.]VerwG 6 [X.] 12.10 - [X.] 422.2 Rundfunkrecht Nr. 55 Rn. 4). Neben dem Klageantrag und der Klagebegründung ist auch die Interessenlage des Klägers zu berücksichtigen, soweit sie sich aus dem Parteivortrag und sonstigen für das Gericht und den [X.]eklagten als Empfänger der Prozesserklärung erkennbaren Umständen ergibt (vgl. Urteil vom 18. November 1982 - [X.]VerwG 1 C 62.81 - [X.] 310 § 82 VwGO Nr. 11 S. 5 f.; [X.]eschlüsse vom 17. Dezember 2009 a.a.[X.] und vom 19. Juni 2010 a.a.[X.]).

6

Ist der Kläger bei der Fassung des [X.] anwaltlich vertreten worden, kommt der Antragsformulierung allerdings gesteigerte [X.]edeutung für die Ermittlung des tatsächlich Gewollten zu. Selbst dann darf die Auslegung jedoch vom Antragswortlaut abweichen, wenn die Klagebegründung, die beigefügten [X.]escheide oder sonstige Umstände eindeutig erkennen lassen, dass das wirkliche [X.] von der Antragsfassung abweicht.

7

Gemessen an diesen Grundsätzen hat das Oberverwaltungsgericht das Klagebegehren nicht zutreffend ausgelegt. Es ist zwar zu Recht davon ausgegangen, dass nach dem Klageantrag vom 19. Januar 2009 die Aufhebung der [X.]escheide vom 19. Dezember 2008 ausdrücklich nur hinsichtlich der Steuerfestsetzung für das Kalenderjahr 2007 und der Festsetzung von Vorauszahlungen für das Kalenderjahr 2008, nicht aber für das Kalenderjahr 2009 und die Folgejahre beantragt war. Das damit umrissene Klagebegehren war aber auslegungsbedürftig, weil die angefochtenen Steuerbescheide ihrerseits nicht frei von Unklarheiten waren. Obwohl sie jeweils (u.a.) als "Vorauszahlungsbescheid ab dem [X.]" überschrieben waren und auch die jeweils angegebenen [X.]erechnungsgrundlagen auf eine "Festsetzung der Vorauszahlungen für die Jahre ab 2008" hindeuteten, war in der eigentlichen Festsetzung, soweit sie sich auf die Vorauszahlungen bezog, jeweils nur das [X.] genannt. Schon dieser Umstand sprach dafür, dass sich das Klagebegehren trotz des an die missverständliche Fassung der [X.]escheide angelehnten [X.] in Wahrheit auf die Vorauszahlungen insgesamt bezog. Etwaige Auslegungszweifel wurden durch die Klagebegründung beseitigt, die im Zusammenhang mit der Interessenlage der Klägerin deutlich erkennen lässt, dass [X.] die Aufhebung der Festsetzung von Vorausleistungen insgesamt war. In der Klagebegründung hat die Klägerin ihr Aufhebungsbegehren auf die Rechtsauffassung gestützt, die Vergnügungssteuersatzung der [X.]eklagten sei unwirksam. Diese Satzung bildete die Rechtsgrundlage für die Festsetzung von Vorausleistungen nicht nur für das [X.], sondern in gleicher Weise für die Folgejahre. Indem die Klagebegründung daraus den Schluss gezogen hat, "die angefochtene Festsetzung von Vorausleistungen (sei) ebenfalls unwirksam", hat sie unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass diese Festsetzung uneingeschränkt angegriffen werden sollte. Gestützt wird dieses Auslegungsergebnis durch die Interessenlage. Die Klägerin wurde durch die Festsetzung von Vorausleistungen insgesamt belastet. Ein sachlicher Grund, warum sie gegen diese [X.]elastung nur teilweise hätte vorgehen sollen, ist nicht erkennbar.

8

Das Urteil beruht auf dem aufgezeigten Verfahrensmangel. Denn das Oberverwaltungsgericht hat den Teil des erstinstanzlichen Urteils, der die Festsetzung der Vergnügungssteuervorauszahlung für das [X.] betrifft, wegen Verstoßes gegen § 88 VwGO aufgehoben, aber nicht in der Sache entschieden.

9

Da weitere Zulassungsgründe nicht eingreifen, macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, auf die Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 133 Abs. 6 VwGO das angefochtene Urteil im Umfang des Verfahrensfehlers aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen.

3. [X.] folgt, soweit über die Kosten des [X.]eschwerdeverfahrens zu entscheiden war, aus § 154 Abs. 2 VwGO. Im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde entsteht eine Gerichtsgebühr nur, soweit die [X.]eschwerde verworfen oder zurückgewiesen wird. Die sonstigen Kosten des [X.]eschwerdeverfahrens, namentlich die außergerichtlichen Kosten, waren verhältnismäßig zu teilen, und zwar in der Weise, dass die Klägerin die Kosten im Maße ihres Unterliegens trägt und die Entscheidung über diejenigen Kosten, die dem Anteil der erfolgreichen [X.]eschwerde am gesamten [X.]eschwerdeverfahren entsprechen, der Kostenentscheidung in der Hauptsache folgt.

Meta

9 B 8/12

12.03.2012

Bundesverwaltungsgericht 9. Senat

Beschluss

Sachgebiet: B

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 21. November 2011, Az: 14 A 1690/09, Urteil

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 12.03.2012, Az. 9 B 8/12 (REWIS RS 2012, 8297)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 8297

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Referenzen
Wird zitiert von

M 22 E 19.5853

M 22 K 18.893

Au 8 K 17.1605

M 22 K 18.248

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