Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 29.09.2011, Az. 10 C 23/10

10. Senat | REWIS RS 2011, 2767

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Gegenstand

Abschiebungsverbot bezüglich bisher nicht geprüfter Zielstaaten; Neuantrag


Leitsatz

Der Antrag auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG (juris: AufenthG 2004) bezüglich eines bisher noch nicht geprüften Staates stellt einen Neuantrag dar, der nicht von der Erfüllung der Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen nach § 51 VwVfG abhängt (im Anschluss an Urteil vom 4. Dezember 2001 - BVerwG 1 C 11.01 - BVerwGE 115, 267 <269>).

Tatbestand

1

Der Kläger erstrebt [X.] wegen ihm in [X.] drohender Gefahren.

2

Der 1964 geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört zur Volksgruppe der Paschtunen und stammt aus [X.]. Dort hat er nach eigenen Angaben bis zu seinem 11. Lebensjahr gelebt. Dann seien seine Eltern ums Leben gekommen und Bekannte hätten ihn mit nach [X.] ([X.]) genommen. Dort habe er zehn bis zwölf Jahre gelebt. Er sei seit 1985 mit einer pakistanischen Staatsangehörigen verheiratet und habe drei Kinder. Mit seiner Familie habe er bis zu seiner Ausreise in [X.] gelebt. Im Oktober 1992 sei er mit Hilfe eines Fluchthelfers von dort aus nach [X.] eingereist. Zu seiner Familie, die ebenfalls aus [X.] ausgereist sei, habe er keinen Kontakt mehr.

3

Im Oktober 1992 beantragte er die Anerkennung als Asylberechtigter, gab aber an, aus [X.] zu stammen und dort geboren zu sein. Im August 1993 wurde sein Asylantrag vom [X.] (jetzt: [X.]) - [X.] - abgelehnt. Zugleich wurde festgestellt, dass weder [X.] nach § 51 Abs. 1 AuslG noch nach § 53 AuslG vorliegen. Ferner wurde dem Kläger die Abschiebung nach [X.] angedroht. Die hiergegen gerichtete Klage blieb ohne Erfolg, der Bescheid wurde im November 1997 bestandskräftig.

4

Im April 1998 teilte der Kläger der Ausländerbehörde mit, dass er ursprünglich aus [X.] stamme und legte ihr einen 1992 ausgestellten und 1998 in [X.] verlängerten afghanischen Pass vor. Im November 2006 beantragte der Kläger beim [X.] die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 [X.] in Bezug auf sein Herkunftsland [X.]. Im Rahmen seiner persönlichen Anhörung erklärte er, er habe keine Angehörigen in [X.] mehr. Auch zu seiner Frau und seinen Kindern bestehe kein Kontakt mehr, man habe sich "praktisch verloren". Weder in [X.] noch in [X.] habe er eine Schule besucht. Auch einen Beruf habe er nicht erlernt. In [X.] habe er in verschiedenen Restaurants als Küchenhilfe gearbeitet.

5

Mit Bescheid vom 7. März 2007 lehnte das [X.] den Antrag auf Abänderung des Bescheids vom 4. August 1993 bezüglich der Feststellung zu § 53 Abs. 1 bis 6 AuslG ab (Ziffer 1). Zugleich benannte es unter Teiländerung seines früheren Bescheids nunmehr [X.] als Zielstaat einer Abschiebung (Ziffer 2). Zur Begründung führte es aus, dass es an Gründen für ein Wiederaufgreifen nach § 51 VwVfG fehle. Der Antrag sei gemäß § 51 Abs. 2 VwVfG unzulässig, da der Kläger nicht ohne grobes Verschulden außerstande gewesen sei, die Gründe für das Wiederaufgreifen bereits im Asylverfahren vorzutragen. Es lägen auch keine Gründe für ein Wiederaufgreifen nach Ermessen gemäß § 51 Abs. 5 VwVfG vor. Es könne nicht festgestellt werden, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach [X.] einer extremen Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt wäre.

6

Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte im Februar 2008 unter Aufhebung des Bescheids zu der Feststellung verpflichtet, dass bei dem Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 [X.] hinsichtlich [X.]s vorliegt. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung der [X.] im Februar 2010 zurückgewiesen. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt: Der Kläger wäre im Fall der Rückkehr nach [X.] mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Lebensverhältnissen ausgesetzt, die als Extremgefahr im Sinne der Rechtsprechung des [X.] anzusehen seien. Ihm sei daher [X.] in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 [X.] zu gewähren. Er gehöre zu einer Personengruppe, die erhöhten Rückkehrrisiken ausgesetzt sei. Denn er habe [X.] bereits im Kindesalter verlassen und verfüge dort über keine verwandtschaftlichen oder persönlichen Bindungen. Er habe weder in [X.] noch in [X.] eine Schule besucht und sei mit den Lebensverhältnissen in seinem Herkunftsland nicht vertraut. Auch in [X.] sei es ihm nicht gelungen, den Lebensunterhalt für sich und seine Familie zu sichern. Aus wirtschaftlicher Not habe er das Land verlassen. Selbst wenn sich die Lebensverhältnisse von Rückkehrern aus dem Ausland in [X.] allmählich normalisieren sollten, werde sich der Kläger dort kaum eine Existenzgrundlage schaffen können, sondern weitgehend schutzlos Hunger, Kälte und damit verbundenen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt sein.

7

Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision beanstandet die Beklagte vor allem, dass der Verwaltungsgerichtshof für die Durchbrechung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 [X.] ausreichen lasse, dass der Kläger die hierfür maßgeblichen Tatsachen glaubhaft mache oder schlüssig darlege. Das Berufungsgericht habe den Beweismaßstab nach der Rechtsprechung des [X.] verkannt und seine Überzeugungsbildung im Sinne von § 108 Abs. 1 VwGO sei mangels hinreichender Tatsachenbasis unzureichend.

8

Der Kläger tritt der Revision entgegen und verteidigt das angegriffene Urteil. Der Vertreter des [X.] beim [X.] hat sich an dem Verfahren beteiligt und sich im Wesentlichen der Auffassung der [X.] angeschlossen.

Entscheidungsgründe

9

Die Revision der Beklagten ist begründet. Das Berufungsurteil verletzt in mehrfacher Hinsicht Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Da der Senat mangels ausreichender Feststellungen im Berufungsurteil in der Sache nicht abschließend entscheiden kann, ist das Verfahren an den [X.]hof zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist zunächst das Verpflichtungsbegehren des [X.] auf Gewährung subsidiären unionsrechtlichen [X.]es. Hierzu zählen in Umsetzung des subsidiären Schutzkonzepts nach Art. 15 und Art. 17 der Richtlinie 2004/83/[X.] vom 29. April 2004 - sog. Qualifikationsrichtlinie - die in § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 [X.] aufgeführten Abschiebungsverbote. Dieses Begehren ist mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der [X.] ([X.], 1970) - Richtlinienumsetzungsgesetz - im August 2007 Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens geworden und ist dies - entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts - nach wie vor. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist ferner das Verpflichtungsbegehren des [X.] auf Feststellung eines (nationalen) Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 und 3 [X.] einschließlich der Feststellung eines Abschiebungsverbots in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 [X.]. Nicht Gegenstand des Verfahrens ist die bestandskräftige Abschiebungsandrohung vom August 1993, wohl aber die vom [X.] des angegriffenen Bescheids neu verfügte Bezeichnung von [X.] als Zielstaat der Abschiebung gemäß § 59 Abs. 2 [X.]. [X.] dieser Bezeichnung ergibt sich aus den in § 59 Abs. 4 [X.] daran geknüpften Rechtsfolgen der Präklusion bezüglich bestimmter [X.] Gefahren. Da das Verwaltungsgericht in seinem Urteil den Bescheid in vollem Umfang, also auch bezüglich der neuen Zielstaatsbezeichnung, aufgehoben hat und das Berufungsgericht diese Entscheidung bestätigt hat, ist die Zielstaatsbezeichnung [X.] auch Gegenstand der Revision der Beklagten geworden. Einer besonderen Revisionsbegründung bedurfte es insoweit nicht, weil die Rechtmäßigkeit der Zielstaatsbezeichnung zwingend von der rechtlichen Beurteilung der Entscheidung zu den [X.] nach § 60 Abs. 2 bis 7 [X.] als Vorfrage abhängt.

Das Berufungsurteil verletzt Bundesrecht, weil es den unionsrechtlichen [X.] nicht geprüft hat (1.). Es verletzt ferner Bundesrecht, weil es beim nationalen [X.] den Anforderungen an die verfassungskonforme Auslegung und Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 [X.] im Fall allgemeiner Gefahren nicht hinreichend Rechnung getragen hat (2.). Schließlich verletzt es Bundesrecht, weil seine Feststellungen zur Gefahrenprognose bei verfassungskonformer Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 [X.] einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht standhalten (3.).

1. Das Berufungsgericht hätte nicht ungeprüft lassen dürfen, ob der Kläger die Voraussetzungen für die Feststellung eines unionsrechtlich begründeten Abschiebungsverbots erfüllt. Dieser Streitgegenstand ist in allen Übergangsfällen, in denen das [X.] über die Zuerkennung von [X.] nach § 60 Abs. 2 bis 7 [X.] a.F. entschieden hat und hiergegen Klage erhoben wurde, mit Inkrafttreten des [X.] im August 2007 im gerichtlichen Verfahren angewachsen. Dies hat der Senat in seinem Urteil vom 8. September 2011 - BVerwG 10 C 14.10 - (zur [X.] in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen, Rn. 9 bis 14) näher begründet. Hierauf wird verwiesen. Damit ist in allen derartigen Übergangsfällen nicht nur der nationale [X.], sondern auch der weitergehende unionsrechtlich begründete [X.] zwingend zu prüfen. In diesen Übergangsfällen scheidet der so angewachsene unionsrechtliche [X.] aus dem gerichtlichen Verfahren nur dann wieder aus, wenn er rechtskräftig abgeschichtet worden ist, d.h. wenn nach erkennbarer Sachprüfung der entsprechende Anspruchsgrundlagen über alle unionsrechtlichen Abschiebungsverbote entschieden worden ist und der unterlegene Verfahrensbeteiligte dies unangefochten lässt. Auch insoweit wird zur Begründung auf das Urteil des Senats vom 8. September 2011 (a.a.[X.] Rn. 13) verwiesen.

Im [X.] fehlt es an einer derartigen unanfechtbaren Sachentscheidung zum unionsrechtlichen [X.]. Das [X.] hat vor Inkrafttreten des [X.] entschieden. Hiergegen wurde Klage erhoben, sodass nach der Rechtsprechung des Senats die Voraussetzungen für das Anwachsen des unionsrechtlichen [X.]es ungeachtet der Tatsache vorliegen, dass sich der Klageantrag auf [X.] nach § 60 Abs. 7 [X.] beschränkte. Denn die Parteien können in den vom Senat näher gekennzeichneten Übergangsfällen insoweit über das gerichtliche Prüfprogramm nicht disponieren (vgl. Urteil vom 8. September 2011 a.a.[X.] Rn. 13). Das haben das Verwaltungsgericht und der [X.]hof irrtümlich verkannt.

Vorliegend ist der unionsrechtliche [X.] demnach im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht angewachsen und mangels einer entsprechenden sachlichen Entscheidung des [X.] auch Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden. Der [X.]hof muss sich daher in dem erneuten Berufungsverfahren mit diesem Begehren befassen. Nach der Rechtsprechung des Senats handelt es sich insoweit um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand, der eigenständig und vorrangig vor den sonstigen zielstaatsbezogenen ausländerrechtlichen [X.] zu prüfen ist (vgl. Urteil vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198 Rn. 11). Der [X.]hof muss deshalb alle entsprechenden Anspruchsgrundlagen in den Blick nehmen, aus denen sich ein Anspruch auf Feststellung eines unionsrechtlichen Abschiebungsverbots in Bezug auf [X.] ergeben kann (§ 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 [X.]).

2. Das Berufungsurteil verletzt auch hinsichtlich des nationalen [X.]es Bundesrecht. Der [X.]hof wird sich im Falle der Ablehnung eines unionsrechtlichen Abschiebungsverbots auch mit diesem Begehren nochmals befassen müssen. Bei dem nationalen [X.] handelt es sich nach dem Inkrafttreten des [X.] ebenfalls um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand mit mehreren Anspruchsgrundlagen (§ 60 Abs. 5, 7 Satz 1 einschließlich Abs. 7 Satz 1 und 3 [X.] in verfassungskonformer Anwendung). Eine Abschichtung einzelner nationaler Abschiebungsverbote im Laufe des gerichtlichen Verfahrens ist daher ungeachtet des materiellen Nachrangs des Abschiebungsverbots in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 [X.] nicht möglich.

Das Berufungsurteil ist insoweit mit Bundesrecht nicht vereinbar, als es dem Kläger [X.] nach nationalem Recht in verfassungskonformer Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 [X.] zugesprochen hat, ohne das Vorliegen des unionsrechtlich begründeten [X.]es (Abschiebungsverbote u.a. nach § 60 Abs. 7 Satz 2 [X.]) rechtsfehlerfrei zu prüfen und auszuschließen. Damit hat es sowohl den Vorrang des unionsrechtlichen gegenüber dem nationalen [X.] (vgl. Urteil vom 24. Juni 2008 a.a.[X.] Rn. 11) als auch die in der Rechtsprechung des Senats entwickelten Voraussetzungen für die verfassungskonforme Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 [X.] in Fällen einer allgemeinen Gefahr verfehlt.

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 [X.] soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 3 [X.] sind Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 [X.] zu berücksichtigen. Nach § 60a Abs. 1 Satz 1 [X.] kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der [X.] anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten [X.] oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen allgemein oder in bestimmte [X.] für längsten sechs Monate ausgesetzt wird. Eine derartige Abschiebestopp-Anordnung besteht für die Personengruppe, der der Kläger angehört, nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht (mehr). Mit seinem Hinweis insbesondere auf die unzureichende Versorgungslage in [X.], die für Rückkehrer ohne Berufsausbildung und familiäre Unterstützung bestehe, macht der Kläger allgemeine Gefahren geltend, die aufgrund der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 [X.] die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 [X.] grundsätzlich nicht rechtfertigen können. Diese Sperrwirkung kann, wie ausgeführt, nur dann im Wege einer verfassungskonformen Auslegung eingeschränkt werden, wenn für den Schutzsuchenden ansonsten eine verfassungswidrige [X.] besteht. Eine [X.] besteht für den Kläger nicht, falls ihm unionsrechtlicher [X.] zusteht. Der [X.]hof hätte sich daher auch aus diesem Grund mit der Frage des unionsrechtlichen [X.]es befassen müssen, ehe er sich mittels verfassungskonformer Auslegung über die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 [X.] hinwegsetzt.

3. Schließlich ist die Annahme eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 [X.] durch den [X.]hof auch deshalb mit Bundesrecht nicht vereinbar, weil seine Feststellungen zum Vorliegen einer extremen Gefahr im Falle einer Rückkehr des [X.] nach [X.] einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht standhalten.

Der [X.]hof hat allerdings zutreffend erkannt, dass es sich hier nicht um ein Folgeverfahren handelt, bei dem die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 VwVfG erfüllt sein müssen. Hiervon waren zu Unrecht das [X.] in seinem Bescheid vom 7. März 2007 und das Verwaltungsgericht ausgegangen. Über das Vorliegen von [X.] wegen [X.] Gefahren für den Kläger in [X.] ist jedoch noch keine bestandskräftige Entscheidung getroffen. Eine solche liegt nur für den ausländerrechtlichen [X.] des [X.] in Bezug auf [X.] vor. Nach der Rechtsprechung des [X.] enthält die Feststellung des [X.]s zum Vorliegen von [X.] nach § 60 Abs. 2 bis 7 [X.] grundsätzlich nur eine Regelung über die in dem Bescheid geprüften jeweiligen Zielstaaten, wobei die Feststellung bezüglich jedes einzelnen Zielstaates eine selbstständige Teilregelung darstellt, die rechtskräftig abgeschichtet werden kann (vgl. Urteil vom 4. Dezember 2001 - BVerwG 1 C 11.01 - BVerwGE 115, 267 <269>). Der Antrag auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 bis 7 [X.] bezüglich eines bisher noch nicht geprüften Staates stellt daher einen Neuantrag dar, der nicht von der Erfüllung der Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen nach § 51 VwVfG abhängt. Etwas anderes gilt nach § 71 AsylVfG nur für Anträge auf Asyl- oder Flüchtlingsanerkennung. Diese Regelung erstreckt sich hingegen nicht auf die Feststellung von [X.] nach § 60 Abs. 2 bis 7 [X.]. Für diese hat der Gesetzgeber jedenfalls bisher keine einheitliche, generelle Schutzstatusentscheidung vorgesehen, sondern nur die jeweilige Feststellung von [X.] bezüglich einzelner Zielstaaten. Ob sich hierzu eine Verpflichtung aus Art. 18 der Richtlinie 2004/83/[X.] ergibt und dies dann auch Konsequenzen für die Anwendbarkeit der Vorschriften über das Wiederaufgreifen hätte, braucht nicht entschieden zu werden, da es hier nicht um die Änderung einer bestandskräftigen Entscheidung zum unionsrechtlich begründeten [X.] geht. Eine bestandskräftige Entscheidung wurde vorliegend nur für Abschiebungsverbote nach nationalem Recht und nur hinsichtlich [X.]s getroffen. Daher finden die Vorschriften über das Wiederaufgreifen hier weder für den unionsrechtlichen noch für den nationalen [X.] Anwendung.

Der [X.]hof ist in der Sache zwar zu Recht davon ausgegangen, dass eine unmittelbare Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 [X.] ausscheidet, weil der Kläger keine individuellen, nur ihm drohenden Gefahren, sondern allgemeine Gefahren geltend macht. Er ist aber bei der verfassungskonformen Anwendung der Vorschrift hinter den maßgeblichen rechtlichen Anforderungen zurückgeblieben. So hat er die vom Senat zum Vorliegen einer extremen Gefahrenlage entwickelten rechtlichen Maßstäbe verfehlt.

Im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die den Kläger in [X.] erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, kann er [X.] in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 [X.] nur ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 3 [X.] [X.] nach § 60 Abs. 7 Satz 1 [X.] zu gewähren.

Wann danach allgemeine Gefahren von [X.] wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde". Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am [X.], eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. Urteil vom 29. Juni 2010 - BVerwG 10 C 10.09 - BVerwGE 137, 226 Rn. 15 m.w.N.).

Der [X.]hof hat diese rechtlichen Maßstäbe für die verfassungskonforme Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 [X.] in wesentlichen Teilen verkannt. Er bezieht sich zwar ausdrücklich auf den Maßstab der Extremgefahr und zitiert in diesem Zusammenhang die Rechtsprechung des [X.] ([X.]). Bei der Rechtsanwendung indes füllt er ihn mit Merkmalen auf, die hinter den vom [X.] entwickelten Anforderungen zurückbleiben. Zudem verzichtet er gänzlich auf das Erfordernis, dass sich die Gefahr alsbald nach der Rückkehr realisieren muss. Der erforderliche hohe Wahrscheinlichkeitsmaßstab wird zwar abstrakt anerkannt, aber auf einen fehlerhaften Gefahrenbegriff bezogen.

Das Vorliegen einer Extremgefahr begründet der [X.]hof damit, dass sich der Kläger bei Rückkehr nach [X.] dort kaum eine Existenzgrundlage werde schaffen können, sondern weitgehend schutzlos Hunger, Kälte und damit verbundenen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt sei ([X.]. Diese im Rahmen der Subsumtion herangezogenen Tatsachen lassen jedoch nicht den Schluss darauf zu, dass der Kläger dem Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde, wie das den Anforderungen an eine Extremgefahr im Sinne der Rechtsprechung des [X.] entspricht. Denn "Hunger" führt nicht zwangsläufig zum Tod, "gesundheitliche Risiken" führen nicht notwendigerweise zu schwersten Gesundheitsschäden. Damit verfehlt das Berufungsurteil den Begriff der Extremgefahr.

Der [X.]hof hat seiner Entscheidung zudem nicht die weitere für eine verfassungskonforme Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 3 [X.] erforderliche Voraussetzung zugrunde gelegt, dass sich die Gefahr alsbald nach der Rückkehr des [X.] realisieren muss. Auf diese Voraussetzung geht das Berufungsurteil überhaupt nicht ein. Die gewählten Formulierungen sprechen vielmehr dafür, dass das Gericht eine Existenzsicherung von einiger Dauer für erforderlich hält, um die hohe Wahrscheinlichkeit einer Extremgefahr abzuwenden ([X.]: "nicht gelungen, den Lebensunterhalt für sich und seine Familie zu sichern" - [X.]: "wird sich der Kläger dort kaum eine Existenzgrundlage schaffen können").

Das Berufungsurteil geht auch von einem fehlerhaften Wahrscheinlichkeitsmaßstab aus. Zwar sieht es den Kläger "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" Lebensverhältnissen ausgesetzt, die eine Extremgefahr begründen sollen ([X.]). Der [X.]hof bezieht seine Wahrscheinlichkeitsbetrachtung aber auf einen fehlerhaften Gefahrbegriff, und zwar in sachlicher wie in zeitlicher Dimension. Denn er verkennt - wie bereits dargelegt - den Begriff der Extremgefahr und das Erfordernis der alsbaldigen Realisierung der Gefahr. Damit ist der Maßstab für die Wahrscheinlichkeitsbetrachtung selbst fehlerhaft.

4. Bei seiner erneuten Befassung mit der Sache ist der [X.]hof gehalten, die vom [X.] hierzu entwickelten rechtlichen Maßstäbe zu beachten und seiner Überzeugungsbildung zugrunde zu legen. Dabei wird er sich auch mit der gegenteiligen Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte auseinanderzusetzen haben (vgl. etwa Urteil des [X.] vom 3. Februar 2011 - 13a [X.] - juris, das sich seinerseits allerdings auch nicht mit der gegenteiligen Rechtsprechung des Berufungsgerichts auseinandersetzt; vgl. dazu auch Urteil des Senats vom 29. Juni 2010 a.a.[X.] Rn. 22).

Sollte es für die Entscheidung weiterhin entscheidungserheblich auf die Möglichkeiten des [X.] ankommen, sich Nahrungsmittel zu beschaffen, wird der [X.]hof der Frage nachzugehen haben, ob sich die allgemeine Versorgung der afghanischen Bevölkerung mit Lebensmitteln gegenüber dem [X.] - wie prognostiziert ([X.]) - verbessert hat und der Kläger hiervon profitieren kann. Weiter wird er Feststellungen zu den Möglichkeiten für einen jungen gesunden männlichen Rückkehrer ohne abgeschlossene Berufsausbildung wie den Kläger zu treffen haben, durch Gelegenheitsarbeiten oder durch andere Tätigkeiten ein bescheidenes Einkommen zu erzielen. In diesem Zusammenhang wäre dann auch zu untersuchen, ob der Kläger, der nach den Feststellungen des Gerichts in [X.] als Schweißer gearbeitet hat ([X.]) und sich und offenbar auch seine Familie immerhin von 1985 bis zu seiner Ausreise im Jahr 1992 ernähren konnte, nicht einer vergleichbaren Arbeit in [X.] nachgehen kann.

Meta

10 C 23/10

29.09.2011

Bundesverwaltungsgericht 10. Senat

Urteil

Sachgebiet: C

vorgehend Hessischer Verwaltungsgerichtshof, 11. Februar 2010, Az: 8 A 774/08.A, Urteil

§ 71 AsylVfG 1992, § 60 Abs 2 AufenthG 2004, § 60 Abs 3 AufenthG 2004, § 60 Abs 5 AufenthG 2004, § 60 Abs 7 AufenthG 2004, Art 15 EGRL 83/2004, Art 18 EGRL 83/2004, § 51 VwVfG

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 29.09.2011, Az. 10 C 23/10 (REWIS RS 2011, 2767)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 2767

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Referenzen
Wird zitiert von

W 8 K 17.32769

AN 11 K 16.30149

Au 2 K 17.30712

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