Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 08.09.2011, Az. 10 C 21/10

10. Senat | REWIS RS 2011, 3497

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Tatbestand

1

Der Kläger erstrebt [X.] wegen ihm in [X.] drohender Gefahren.

2

Der 1979 geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört zur Volksgruppe der Paschtunen und stammt aus der [X.]. Er reiste im September 2003 nach [X.] ein und betrieb hier erfolglos ein Asylverfahren und ein Asylfolgeverfahren. Im November 2007 stellte er einen weiteren [X.]. Mit Bescheid vom 13. März 2008 lehnte das [X.] - [X.] - die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens und eine Abänderung seiner Feststellung zum Nichtvorliegen von [X.] gemäß § 53 Abs. 1 bis 6 AuslG 1990 ab. Das Verwaltungsgericht hat das [X.] im August 2008 zu der Feststellung verpflichtet, dass bei dem Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 [X.] hinsichtlich [X.]s vorliegt. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen.

3

Hiergegen hat nur die Beklagte Berufung eingelegt. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung im Juni 2009 zurückgewiesen. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt: Das grundsätzlich vorrangige - europarechtlich begründete - Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 7 Satz 2 [X.] i.V.m. Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/[X.] sei vorliegend nicht zu prüfen. Zwar sei im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts § 60 Abs. 7 Satz 2 [X.] in der Fassung des [X.] bereits in [X.] gewesen und der Kläger habe die Feststellung von [X.] "nach § 60 Abs. 2 bis 7 [X.]" beantragt. Das Verwaltungsgericht habe über das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 [X.] aber - rechtsirrtümlich - nicht entschieden. Da es keine Anhaltspunkte dafür gebe, dass das Verwaltungsgericht bewusst nur über einen Teil des Streitgegenstandes entscheiden wollte, liege kein Teilurteil vor. Das Urteil sei vielmehr im Hinblick auf § 60 Abs. 7 Satz 2 [X.] fehlerhaft. Es verstoße gegen § 88 VwGO, weil es über das europarechtliche Abschiebungsverbot rechtsirrtümlich nicht vorrangig entschieden habe. Der Kläger habe jedoch keinen Zulassungsantrag gestellt und der Antrag des [X.]s auf Zulassung der Berufung sei auf den stattgebenden Teil des angefochtenen Urteils, also das - nationale - Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 7 Satz 1 [X.] begrenzt gewesen; nur insoweit sei die Berufung zugelassen worden. Wegen der Dispositionsbefugnis der Beteiligten sei der Streitgegenstand des Berufungsverfahrens damit hierauf beschränkt. Mit der rechtskräftigen Abweisung der Klage durch das Verwaltungsgericht im Übrigen sei die Rechtshängigkeit des unbeschieden gebliebenen europarechtlich begründeten Abschiebungsverbots des § 60 Abs. 7 Satz 2 [X.] entfallen.

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Dem Kläger sei in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 [X.] [X.] zu gewähren. Er gehöre zu der Gruppe der beruflich nicht besonders qualifizierten afghanischen Staatsangehörigen, die bei einer Abschiebung nach [X.] ohne Rückhalt und Unterstützung durch Familie oder Bekannte seien und dort weder über Grundbesitz noch über nennenswerte Ersparnisse verfügten. Angehörige dieser Gruppe hätten kaum Aussicht, eine Arbeit zu finden und damit ihren eigenen Lebensunterhalt zu sichern. Unter diesen Umständen würden dem Kläger ausschließlich Tee und Brot als Nahrungsmittel zur Verfügung stehen. Angesichts dieser Lebensbedingungen in [X.], insbesondere der derzeit vorherrschenden katastrophalen Versorgungslage, aber auch der medizinischen Versorgung und der Sicherheitslage, bestehe eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger zwangsläufig in einen fortschreitenden Prozess körperlichen Verfalls mit lebensbedrohlichen Folgen geraten würde. Insbesondere die durch die Mangelernährung erhöhte Infektanfälligkeit werde in Verbindung mit dem ebenfalls ernährungsbedingten Eisenmangel zu schwerwiegenden Infektionen der Atmungs- und Verdauungsorgane führen.

5

Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision beanstandet die Beklagte vor allem, dass sich das Berufungsgericht im Hinblick auf die vom Kläger befürchteten allgemeinen Gefahren auf zu schmaler Tatsachengrundlage über die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 [X.] hinweggesetzt habe.

Entscheidungsgründe

6

Die Revision der Beklagten, über die der Senat im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 141 Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist begründet. Das Berufungsurteil verletzt in mehrfacher Hinsicht Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Da der Senat mangels ausreichender Feststellungen im Berufungsurteil in der Sache nicht abschließend entscheiden kann, ist das Verfahren an den [X.]hof zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

7

Anders als in den Parallelverfahren, über die der Senat heute entscheiden hat (Az.: BVerwG 10 [X.] 14.10, BVerwG 10 [X.] 15.10, BVerwG 10 [X.] 16.10, BVerwG 10 [X.] 18.10 und BVerwG 10 [X.] 20.10), ist nicht Gegenstand des Revisionsverfahrens das Verpflichtungsbegehren des [X.] auf Gewährung subsidiären unionsrechtlichen [X.]es. Es handelt sich hier nicht um einen Übergangsfall, in dem die in § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 [X.] aufgeführten Abschiebungsverbote erst mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der [X.] ([X.], 1970) - Richtlinienumsetzungsgesetz - im August 2007 Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens geworden sind. Vielmehr ist der unionsrechtliche [X.] bereits Gegenstand des erst im November 2007 eingeleiteten Verwaltungsverfahrens und des nachfolgenden Klageverfahrens gewesen; über ihn ist aber - entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts - vom Verwaltungsgericht rechtskräftig (negativ) entschieden worden. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist mithin allein das Verpflichtungsbegehren des [X.] auf Feststellung eines (nationalen) Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 und 3 [X.] einschließlich der Feststellung eines Abschiebungsverbots in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 [X.]. Nicht mehr Gegenstand des Verfahrens ist der Folgeantrag des [X.] hinsichtlich der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung, über den das Verwaltungsgericht ebenfalls rechtskräftig (negativ) entschieden hat. Eine Abschiebungsandrohung ist nicht Gegenstand des Verfahrens. Denn das [X.] hat hierzu in seinem angefochtenen Bescheid keine Entscheidung getroffen.

8

Das Berufungsurteil verletzt Bundesrecht, weil es angenommen hat, dass das Verwaltungsgericht den unionsrechtlichen [X.] nicht geprüft hat (1.). Es verletzt ferner Bundesrecht, weil es beim nationalen [X.] den Anforderungen an die verfassungskonforme Auslegung und Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 [X.] im Falle allgemeiner Gefahren nicht hinreichend Rechnung getragen hat (2.). In diesen beiden Punkten stellt sich das Berufungsurteil allerdings aus anderen Gründen als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Schließlich verletzt es - auch im Ergebnis - Bundesrecht, weil seine Feststellungen zur Gefahrenprognose bei verfassungskonformer Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 [X.] einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht standhalten (3.).

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1. Das Berufungsgericht hätte aus den von ihm angeführten Gründen nicht ungeprüft lassen dürfen, ob der Kläger die Voraussetzungen für die Feststellung eines unionsrechtlich begründeten Abschiebungsverbots erfüllt. Dieser unionsrechtliche [X.] ist hier bereits Gegenstand des Verwaltungsverfahrens gewesen und war mit der Klage auch Gegenstand des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht geworden. Er scheidet allerdings dann aus dem gerichtlichen Verfahren aus, wenn das Verwaltungsgericht darüber ausdrücklich in der Sache entschieden hat und der unterlegene Beteiligte hiergegen kein Rechtsmittel eingelegt hat. Denn dann ist dieser Streitgegenstand durch eine rechtskräftige Entscheidung abgeschichtet worden (vgl. auch hierzu Urteil des Senats vom heutigen Tag - BVerwG 10 [X.] 14.10).

Im [X.] hat das Verwaltungsgericht entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts eine Sachentscheidung zum unionsrechtlichen [X.] getroffen. Das [X.] hatte seine ablehnende Entscheidung zum subsidiären [X.] ausdrücklich auch auf Art. 15 der [X.] gestützt. Das Verwaltungsgericht, das ebenso wie das [X.] mehrere Monate nach Inkrafttreten des [X.] entschieden hat, hat den Bescheid des [X.]s - vom nationalen [X.] abgesehen - bestätigt und damit in seine Teilabweisung der Klage für den Kläger erkennbar auch den einheitlichen Streitgegenstand des unionsrechtlichen [X.]es einbezogen. Diese Entscheidung hat der Kläger unangefochten gelassen.

Im Ergebnis kann demnach nicht beanstandet werden, dass das Berufungsgericht keine Entscheidung zum unionsrechtlichen [X.] getroffen hat.

2. Das Berufungsurteil verletzt auch hinsichtlich des nationalen [X.]es Bundesrecht. Bei dem nationalen [X.] handelt es sich nach dem Inkrafttreten des [X.] um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand mit mehreren Anspruchsgrundlagen (§ 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 einschließlich Abs. 7 Satz 1 und 3 [X.] in verfassungskonformer Anwendung). Eine Abschichtung einzelner nationaler Abschiebungsverbote im Laufe des gerichtlichen Verfahrens ist daher ungeachtet des materiellen Nachrangs des Abschiebungsverbots in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 [X.] nicht möglich. Soweit der Senat im Urteil vom 29. Juni 2010 - BVerwG 10 [X.] 10.09 - (BVerwGE 137, 226 Rn. 6) davon ausgegangen ist, dass im dortigen Verfahren nur (noch) § 60 Abs. 7 Satz 1 [X.] und nicht (mehr) § 60 Abs. 5 [X.] Gegenstand des Verfahrens war, handelt es sich um eine vor Inkrafttreten des [X.] erklärte Rücknahme, die nach der früher maßgeblichen Staffelung der Streitgegenstände des nationalen [X.]es (vgl. zur früheren Rechtslage Urteil vom 15. April 1997 - BVerwG 9 [X.] 19.96 - BVerwGE 104, 260) noch zulässig und wirksam war.

Das Berufungsgericht ist an der Feststellung eines [X.]es in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 [X.] entgegen der Auffassung der Beklagten allerdings nicht schon deshalb gehindert, weil der Schutzsuchende auch bei Vorliegen einer Extremgefahr auf die Anfechtung einer Abschiebungsandrohung bzw. der darin enthaltenen Zielstaatsbezeichnung beschränkt wäre. Bei Gewährung von [X.] in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 [X.] ersetzt die gerichtliche Schutzgewähr nicht im Einzelfall eine Anordnung nach § 60a Abs. 1 [X.]; die gerichtliche Prüfung bleibt im System der positiven Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots (s.a. § 59 Abs. 3 Satz 3 [X.]). Über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 3 [X.] hat - wie bei anderen aufenthaltsrechtlichen [X.] auch - die Ausländerbehörde zu entscheiden.

Die Begründung des Berufungsurteils ist aber insoweit mit Bundesrecht nicht vereinbar, als es dem Kläger [X.] nach nationalem Recht in verfassungskonformer Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 [X.] zugesprochen hat, ohne das Vorliegen des unionsrechtlich begründeten [X.]es (Abschiebungsverbote u.a. nach § 60 Abs. 7 Satz 2 [X.]) rechtsfehlerfrei zu prüfen und auszuschließen. Damit hat es sowohl den Vorrang des unionsrechtlichen gegenüber dem nationalen [X.] (vgl. Urteil vom 24. Juni 2008 a.a.[X.] Rn. 11) als auch die in der Rechtsprechung des Senats entwickelten Voraussetzungen für die verfassungskonforme Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 [X.] in Fällen einer allgemeinen Gefahr verfehlt.

Mit seinem Hinweis insbesondere auf die unzureichende Versorgungslage in [X.], die für Rückkehrer ohne Berufsausbildung und familiäre Unterstützung bestehe, macht der Kläger allgemeine Gefahren geltend, die aufgrund der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 [X.] die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 [X.] grundsätzlich nicht rechtfertigen können. Diese Sperrwirkung kann nur dann im Wege einer verfassungskonformen Auslegung eingeschränkt werden, wenn für den Schutzsuchenden ansonsten eine verfassungswidrige [X.] besteht. Eine [X.] besteht für den Kläger nicht, falls ihm unionsrechtlicher [X.] zusteht. Das Berufungsgericht hätte sich daher auch aus diesem Grund mit der Frage des unionsrechtlichen [X.]es befassen und diesen - und sei es unter Hinweis auf eine bestands- oder rechtskräftige negative Entscheidung über dessen Vorliegen - prüfen müssen, ehe es sich mittels verfassungskonformer Auslegung über die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 [X.] hinwegsetzt (vgl. auch hierzu Urteil des Senats vom heutigen Tag - BVerwG 10 [X.] 14.10).

Auch dieser Begründungsmangel wirkt sich im Ergebnis allerdings nicht aus, weil der unionsrechtliche [X.], wie ausgeführt, bereits durch das insoweit rechtskräftig gewordene Urteil des [X.] (negativ) abgeschichtet war.

3. Schließlich ist die Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 [X.] durch das Berufungsgericht auch deshalb mit Bundesrecht nicht vereinbar, weil seine Feststellungen zum Vorliegen einer extremen Gefahr im Falle einer Rückkehr des [X.] nach [X.] einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht standhalten. Das Berufungsgericht wird sich daher mit dem Begehren auf Gewährung nationalen [X.]es nochmals befassen müssen. Das Berufungsgericht hat zwar zutreffend erkannt, dass eine unmittelbare Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 [X.] ausscheidet, weil der Kläger keine individuellen, nur ihm drohenden Gefahren, sondern allgemeine Gefahren geltend macht. Es ist aber bei der verfassungskonformen Anwendung der Vorschrift hinter den maßgeblichen rechtlichen Anforderungen zurückgeblieben. So ist es zwar zutreffend von den rechtlichen Maßstäben ausgegangen, die der Senat zum Vorliegen einer extremen Gefahrenlage entwickelt hat. Es ist in diesem Zusammenhang aber den Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung nicht gerecht geworden und hat seine Entscheidung auf eine zu schmale Tatsachengrundlage gestützt.

Im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die den Kläger in [X.] erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, kann er [X.] in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 [X.] nur ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 3 [X.] [X.] nach § 60 Abs. 7 Satz 1 [X.] zu gewähren.

Wann danach allgemeine Gefahren von [X.] wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde". Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am [X.], eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. Urteil vom 29. Juni 2010 a.a.[X.] Rn. 15 m.w.N.).

Das Berufungsgericht hat sich ausdrücklich auf diesen hohen Wahrscheinlichkeitsmaßstab bezogen und in diesem Zusammenhang die Rechtsprechung des Senats zitiert. Es spricht davon, dass der Kläger in [X.] mangels jeglicher Lebensgrundlage unausweichlich dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert wäre ([X.]). In einer [X.] müsse deshalb in seinem Falle eine extreme Gefahrenlage bejaht werden ([X.]). Diese rechtliche Schlussfolgerung ist durch die getroffenen tatsächlichen Feststellungen und deren Würdigung jedoch nicht gedeckt. Soweit das Berufungsgericht hierfür an der Entscheidung des [X.] vom 6. Mai 2008 anknüpft, verweist der Senat auf seine dieses Urteil aufhebende Entscheidung vom 29. Juni 2010 - BVerwG 10 [X.] 10.09 - (a.a.[X.]). Indes tragen auch die weitergehenden tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts, das eine weitere Verschärfung der allgemeinen Lebensbedingungen in [X.] konstatiert und dies unter anderem mit der inzwischen landesweit schwierigen Sicherheitslage begründet ([X.] f.), die von ihm vorgenommene Gesamtentscheidung nicht.

Dies zeigt sich insbesondere im Hinblick auf die vom Berufungsgericht festgestellte drohende Mangelernährung und die damit verbundenen gesundheitlichen Risiken. Das Berufungsgericht geht zwar von einer - gegenüber den vom [X.] beschriebenen Gegebenheiten - weiteren Zuspitzung der Versorgungslage in [X.] aus, bedingt vor allem durch die weiter verschlechterte Sicherheitslage. Das Gericht belegt dies mit der Feststellung, nur noch 37 % der afghanischen Bevölkerung gebe an, sich notwendige Lebensmittel leisten zu können. Jedenfalls für die Mehrheit der auf dem Land lebenden [X.] gebe es keine Ernährungssicherheit. Die Hälfte aller Kinder bis zum Alter von fünf Jahren gelte als chronisch unterernährt (jeweils [X.] f.). Diese Feststellungen tragen indes nicht den Schluss des Berufungsgerichts, dass in [X.] eine derart extreme Gefahr besteht, dass das Leben jedes alleinstehenden jüngeren arbeitsfähigen Mannes - und damit das des [X.] - aufgrund der mangelhaften Versorgungslage akut gefährdet ist. Dies zeigt, dass sich das Berufungsgericht bei der Würdigung dieser zentralen Frage auf eine zu schmale Tatsachengrundlage gestützt und den erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeitsmaßstab verfehlt hat.

Entsprechendes gilt für die durch Mangelernährung ausgelösten gesundheitlichen Risiken. Die Feststellung des Berufungsgerichts, der Kläger würde bei einer Ernährung ausschließlich von Tee und Brot alsbald und unausweichlich in einen fortschreitenden Prozess körperlichen Verfalls mit lebensbedrohlichen Folgen geraten ([X.]), ist nicht durch hinreichend detaillierte Tatsachen belegt. Dies gilt für die Wahrscheinlichkeit des vom Berufungsgericht befürchteten Krankheitsverlaufs im Allgemeinen, aber auch für die zeitliche Perspektive der lebensbedrohlichen Folgen und die Unausweichlichkeit des prognostizierten Geschehensablaufs.

Bei der Gesamtprognose ist nicht erkennbar, aus welchen Gründen sich das Berufungsgericht davon überzeugt hat, dass sich die jeweils hohe Eintrittswahrscheinlichkeit bei den [X.] zu einer entsprechend hohen Eintrittswahrscheinlichkeit insgesamt zusammenfügt. Dies hat der Senat bereits bei der Entscheidung des [X.] beanstandet. Das Berufungsgericht hat ebenfalls im Wesentlichen einzelne Risiken festgestellt und bewertet, sie aber nicht im Rahmen einer umfassenden Gesamtgefahrenprognose gewürdigt (vgl. hierzu Beschluss vom 25. Februar 2000 - BVerwG 9 B 77.00 - [X.] 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 31). Dies zeigt sich etwa daran, dass der Zusammenhang zwischen Versorgungslage und Sicherheitslage nicht hinreichend deutlich wird. Beide Teilkomplexe stehen weitgehend unvermittelt nebeneinander.

4. Bei seiner erneuten Befassung mit der Sache ist das Berufungsgericht gehalten, sich auch mit der gegenteiligen Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte auseinanderzusetzen (vgl. etwa Urteil des [X.] vom 3. Februar 2011 - 13 a B 10.30394 - juris, das sich seinerseits allerdings auch nicht mit der Rechtsprechung des Berufungsgerichts auseinandersetzt; vgl. dazu auch Urteil des Senats vom 29. Juni 2010 a.a.[X.] Rn. 22). Sollte es für die Entscheidung weiterhin entscheidungserheblich auf das Vorhandensein einer familiären Unterstützung ankommen, wird das Berufungsgericht ferner auch den familiären Verhältnissen des [X.] in [X.] nochmals nachzugehen haben. Näher klärungsbedürftig ist insbesondere die Frage, ob dem Kläger eine Rückkehr in sein Heimatdorf in der [X.] tatsächlich nicht zugemutet werden kann (vgl. S. 10 f. des Berufungsurteils).

Meta

10 C 21/10

08.09.2011

Bundesverwaltungsgericht 10. Senat

Urteil

Sachgebiet: C

vorgehend Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, 9. Juni 2009, Az: A 11 S 480/09, Urteil

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 08.09.2011, Az. 10 C 21/10 (REWIS RS 2011, 3497)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 3497

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