Bundesfinanzhof, Beschluss vom 17.06.2011, Az. XI B 21-22/10, XI B 21/10, XI B 22/10

11. Senat | REWIS RS 2011, 5645

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Gegenstand

Nicht vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts - Verspätetes Erscheinen eines Richters zur mündlichen Verhandlung - Kein Rügeverlust bei Verzicht auf Geltendmachung des Verfahrensmangels


Leitsatz

1. NV: Vorschriftsmäßig besetzt ist das erkennende Gericht nur, wenn jeder der an der Verhandlung und Entscheidung beteiligten Richter in der Lage war, die wesentlichen Vorgänge der Verhandlung wahrzunehmen und in sich aufzunehmen (Rechtsprechung) .

2. NV: Das Gericht ist nicht vorschriftsmäßig besetzt, wenn ein Richter erst nach der Eröffnung der mündlichen Verhandlung eingetroffen ist und seinen Platz auf der Richterbank erst eingenommen hat, nachdem der Berichterstatter mit dem Vortrag des Sachverhalts begonnen hat .

Tatbestand

1

I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) hat am 13. November 2006 Klage gegen den [X.] (Aktenzeichen des [X.]) und am 10. August 2007 Klage (Aktenzeichen des [X.]) gegen den Umsatzsteuerbescheid 2004 des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt --[X.]--) erhoben. Gegenstand des finanzgerichtlichen Verfahrens waren gemäß § 68 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) zuletzt der [X.] 2004 vom 3. August 2007 sowie der Umsatzsteuerbescheid 2005 vom 5. November 2007. Das [X.] hat in beiden Sachen Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 28. Januar 2010 um 9 Uhr bestimmt. In dem Protokoll über die mündliche Verhandlung heißt es u.a.:

2

"Es ergeht folgender Beschluss:

Die beiden Verfahren werden zur gemeinsamen Verhandlung verbunden.

Der Berichterstatter trägt den Sachverhalt vor.

Die Sitzung wird durch den Vorsitzenden kurz unterbrochen.

Die zuständige Richterin am [X.] ist zwischenzeitlich aufgrund Witterungsbedingungen verspätet eingetroffen. Die Kollegin Richterin am [X.] hatte bis zum jetzigen Zeitpunkt die Verhandlung insoweit mit wahrgenommen. Der Senat fährt fort in der richtigen Besetzung ...

Die Beteiligten erheben gegen diese Verfahrensweise keine Einwände.

Nach Wiedereintritt wird die Verhandlung fortgesetzt.

Nach Verlesung des [X.] weist der Prozessbevollmächtigte des [X.] darauf hin, dass die Fertigstellung des Gebäudes ..."

3

Das [X.] hat die Klagen abgewiesen und die Revision nicht zugelassen. Hiergegen richten sich die vorliegenden Beschwerden des [X.], der u.a. rügt, das [X.] sei nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen (§ 119 Nr. 1 [X.]O). Der Senat sei während des überwiegenden Teils der mündlichen Verhandlung, insbesondere während des [X.] und der ergänzenden Hinweise des Prozessbevollmächtigten zum langen Sachvortrag nicht korrekt besetzt gewesen. Das [X.] erwidert, Richterin X sei kurz nach Eröffnung der Verhandlung eingetroffen und habe im Sitzungssaal Platz genommen. Sie sei bereits während des Beginns des Vortrags des Berichterstatters über den Sachverhalt anwesend gewesen und habe daher den Akteninhalt vollständig gekannt.

4

Wann die Sitzung begonnen hat sowie Beginn und Dauer der Unterbrechung sind in dem Protokoll nicht festgehalten.

Entscheidungsgründe

5

II. 1. Die Verbindung der Beschwerdeverfahren zur gemeinsamen Entscheidung beruht auf § 121 Satz 1 i.V.m. § 73 Abs. 1 [[X.].]O.

6

2. [[X.].] sind begründet. Sie führen zur Aufhebung der Vorentscheidungen und zur Zurückverweisung der Sachen an das [[X.].] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 [[X.].]O).

7

a) Die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 3 [[X.].]O sind gegeben. Der vom Kläger geltend gemachte Verfahrensmangel der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des erkennenden Gerichts (§ 119 Nr. 1 [[X.].]O) liegt vor.

8

Vorschriftsmäßig besetzt ist das erkennende Gericht nur, wenn jeder der an der Verhandlung und Entscheidung beteiligten [[X.].] in der Lage war, die wesentlichen Vorgänge der Verhandlung wahrzunehmen und in sich aufzunehmen (vgl. Beschluss des [[X.].] --BFH-- vom 28. August 1986 [[X.].], [[X.].], 402, [[X.].] 1986, 908). Nur wenn jeder [[X.].] die wesentlichen Vorgänge in sich aufgenommen hat, ist er in der Lage, seine Überzeugung aus dem Gesamtergebnis der Verhandlung zu gewinnen (§ 96 Abs. 1 Satz 1 [[X.].]O). Diese Möglichkeit ist nicht gegeben, wenn ein [[X.].] einem Teil der mündlichen Verhandlung nicht beiwohnt und deshalb wesentliche Vorgänge der Verhandlung nicht wahrnehmen kann. Das Gericht ist in einem solchen Fall nicht mehr i.S. von § 119 Nr. 1 [[X.].]O vorschriftsmäßig besetzt.

9

Im Streitfall ergibt sich aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung, dass die [[X.].]in [X.] erst nach der Eröffnung der mündlichen Verhandlung eingetroffen ist und ihren Platz auf der [[X.].]bank erst eingenommen hat, nachdem der Berichterstatter bereits mit dem Vortrag des Sachverhalts begonnen hatte.

[[X.].]in [X.] hat danach in ihrer Funktion als [[X.].]in dem nach § 92 Abs. 2 [[X.].]O erforderlichen Vortrag des wesentlichen Inhalts der Akten nicht oder nur teilweise beigewohnt. Damit hat sie wesentliche Vorgänge der Verhandlung nicht als [[X.].]in wahrgenommen. Darüber ob und ggf. inwieweit [[X.].]in [X.] durch ihre Anwesenheit im Sitzungssaal die Gelegenheit hatte, den Akteninhalt zu erfahren oder bereits anderweitig von diesem Kenntnis erlangt hatte, schafft das Protokoll keine Gewissheit; der Senat kann daher dahingestellt sein lassen, ob eine solche Kenntnisnahme ggf. zu berücksichtigen wäre.

b) Auf den Verfahrensmangel der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des erkennenden Gerichts (§ 119 Nr. 1 [[X.].]O) kann nicht wirksam verzichtet werden. Diese Frage ist der Disposition der Beteiligten entzogen ([X.] vom 30. Januar 2004 [X.]/02, [X.], 661, m.w.N.).

Meta

XI B 21-22/10, XI B 21/10, XI B 22/10

17.06.2011

Bundesfinanzhof 11. Senat

Beschluss

vorgehend Finanzgericht Rheinland-Pfalz, 28. Januar 2010, Az: 6 K 2090/07, Urteil

§ 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 119 Nr 1 FGO, § 155 FGO, § 295 ZPO, § 96 Abs 1 S 1 FGO, § 92 Abs 2 FGO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 17.06.2011, Az. XI B 21-22/10, XI B 21/10, XI B 22/10 (REWIS RS 2011, 5645)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 5645

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