Bundesfinanzhof, Urteil vom 15.01.2013, Az. VIII R 22/10

8. Senat | REWIS RS 2013, 9062

STEUERRECHT STEUERHINTERZIEHUNG BUNDESFINANZHOF (BFH) EINKOMMENSTEUER

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Gegenstand

Keine Haftung wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung bei Anonymität der mutmaßlichen Haupttäter - Freie Beweiswürdigung des FG


Leitsatz

1. Die Haftung nach § 71 AO setzt u.a. voraus, dass der Tatbestand einer Steuerhinterziehung erfüllt ist.   

2. Im Zusammenhang mit anonymisierten Kapitaltransfers ins Ausland setzt die Feststellung einer Steuerhinterziehung voraus, dass der jeweilige Inhaber des in das Ausland transferierten Kapitals daraus in der Folge Erträge erzielt hat, die der Besteuerung im Inland unterlagen, dass er z.B. unrichtige Angaben in seiner Steuererklärung gemacht, dadurch Steuern hinterzogen und dabei vorsätzlich gehandelt hat.   

3. Kann das FG verbleibende Zweifel, ob und in welchem Umfang Steuerhinterziehungen begangen wurden, nicht ausräumen, muss es wegen der insoweit bestehenden Feststellungslast des FA zu dessen Lasten den Haftungstatbestand i.S. des § 71 AO verneinen.

Tatbestand

1

I. Streitig ist, ob der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) wegen Beihilfe zu Steuerhinterziehungen durch anonym gebliebene Bankkunden haftet.

2

Der Kläger war Leiter der Wertpapieradministration bei einem großen [[[[[[[[[X.].].].].].].].].] Kreditinstitut [[[[[[[[X.].].].].].].].] und als solcher unmittelbar dem Vorstand unterstellt. [[[[[[[[X.].].].].].].].] war an zwei gleichnamigen Auslandsgesellschaften in [[[[[[[[X.].].].].].].].] und der [[[[[[[[X.].].].].].].].] beteiligt. Der Kläger veranlasste und genehmigte 1992 --nach Abstimmung mit der Revision sowie der Rechtsabteilung des [[[[[[[[X.].].].].].].].] zwei Anweisungen, die darauf gerichtet waren, den anonymen Transfer von Wertpapieren zu den [[[[[X.].].].].]n der [[[[[[[[X.].].].].].].].] zu ermöglichen. Ergänzt wurde diese Regelung im Oktober 1992 für sog. auslandsverwahrte Werte in der Weise, dass effektiv eingelieferte Werte "auch ohne Legitimationsprüfung entsprechend der Kundenangabe (z.B. Kennwort oder Kundennummer)" angenommen werden konnten. Auf die bis dahin einzuholende Aneignungsermächtigung gemäß § 13 des [[[[[[[X.].].].].].].] sollte verzichtet werden können.

3

Im Jahr 1996 begann die Finanzverwaltung bei der [[[[[[[[X.].].].].].].].] mit Ermittlungen wegen des Verdachts der Beihilfe zur Steuerhinterziehung durch deren Mitarbeiter und Vorstandsmitglieder zugunsten von Kunden der [[[[[[[[X.].].].].].].].] und ihrer beiden [[[[[X.].].].].] in [[[[[[[[X.].].].].].].].] und der [[[[[[[[X.].].].].].].].]. Das zuständige Finanzamt stellte fest, dass eine Vielzahl von Kunden der [[[[[[[[X.].].].].].].].] und der beiden Tochtergesellschaften die Möglichkeit genutzt hatten, Kapital und Wertpapiere anonym über die Grenze zu den Tochtergesellschaften zu transferieren. Anstelle der personenbezogenen Kundendaten waren lediglich Referenznummern, Kundennummern, [[[[X.].].].] oder mit der Auslandsbank vereinbarte [[[[X.].].].] auf den Transferbelegen vermerkt worden.

4

Trotz der Anonymisierung gelang es der Finanzverwaltung unter Mithilfe der [[[[[[[[X.].].].].].].].], etwa 75 % der Vorgänge einzelnen Kunden zuzuordnen. Die weiteren Ermittlungen ergaben, dass nahezu kein nachträglich enttarnter Kunde die Erträge aus den ins Ausland transferierten Wertpapieren in seiner Einkommensteuererklärung angegeben hatte. In etwa 6 % der Fälle hatte dies allerdings keine steuerverkürzende Wirkung. Die Identität der übrigen Kunden, die Bargeld und Wertpapiere anonym transferiert hatten, konnte nicht ermittelt werden. Insgesamt handelte es sich dabei um 1 149 Kunden, von denen 638 Kunden Wertpapiere transferiert hatten. Die ermittelte Nominalwertsumme der von diesen 638 Kunden transferierten Wertpapiere belief sich auf 304.732.400 DM.

5

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --[[X.].]--) nahm den Kläger wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung in 638 Fällen für hinterzogene Einkommensteuer in Höhe von 2.250.824,46 € und [[[X.].].] zur Einkommensteuer in Höhe von weiteren 1.204.178 € gemäß § 71 der Abgabenordnung ([[[[[[[[[X.].].].].].].].].]) in Haftung. Er und seine Mitarbeiter hätten ein System entwickelt und praktiziert, das es den Kunden der [[[[[[[[X.].].].].].].].] erlaubt habe, Kapital anonym ins Ausland zu transferieren und so der Zinsabschlagsteuer zu entgehen. Der Kläger habe dieses Verfahren angeordnet. Ihm sei auch bekannt gewesen, dass die Kunden den anonymen Transfer dazu nutzen wollten, um die Steuern auf die im Ausland erzielten Kapitalerträge zu hinterziehen.

6

Die Haftungssumme errechnete das [[X.].] auf der Grundlage der Ermittlungsergebnisse in der Vergleichsgruppe der enttarnten Kunden. Die identifizierten Kunden hätten im Durchschnitt Kapitalerträge von 8 % p.a. erzielt. Der durchschnittliche Einkommensteuersatz dieser Kunden habe bei 35 % gelegen. Unter Berücksichtigung eines [[X.].] % ergebe sich daraus in der Gruppe der nicht identifizierten Kunden eine Summe an hinterzogener Einkommensteuer von nicht unter 2.250.824,46 €. Die [[[X.].].] seien auf 1.204.178 € festzusetzen. Neben dem Kläger seien auch die [[[[[[[[X.].].].].].].].], sechs damalige Vorstandsmitglieder sowie vier weitere leitende Angestellte in Haftung genommen worden.

7

Gegen den Haftungsbescheid legte der Kläger Einspruch ein, den das [[X.].] zurückwies. Auf Antrag des [X.] hat der Senat im Streitfall die Vollziehung des Haftungsbescheids für die Dauer des Klageverfahrens ausgesetzt (vgl. Beschluss des [X.] --BFH-- vom 16. Juli 2009 VIII B 64/09, [X.], 30, [X.], 8). Das Finanzgericht ([X.]) hat der Klage stattgegeben und den Haftungsbescheid aufgehoben.

8

Mit der Revision rügt das [[X.].] die Verletzung von Bundesrecht (§ 71 [[[[[[[[[X.].].].].].].].].], § 96 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--).

9

Das [[X.].] beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 [X.]O). Ohne Rechtsfehler hat das [X.] erkannt, dass der Kläger für die mögliche und auch wahrscheinliche, aber nicht mit hinreichender Sicherheit feststellbare Steuerhinterziehung durch anonym gebliebene Bankkunden nicht gemäß § 71 [X.] haftet. An die tatsächliche (negative) Feststellung des [X.], wonach es von der Steuerhinterziehung jedes einzelnen anonym gebliebenen Kunden in keinem einzigen Fall überzeugt sei, ist der [X.] gebunden.

1. Gemäß § 71 [X.] haftet, wer eine Steuerhinterziehung oder eine Steuerhehlerei begeht oder an einer solchen Tat teilnimmt. Wer Teilnehmer einer Straftat ist, ergibt sich mangels eigener Begriffsbestimmungen für das Steuerrecht aus den §§ 25 bis 31 des Strafgesetzbuchs --StGB-- ([X.]chaft und Teilnahme). Teilnehmer sind der Anstifter (§ 26 StGB) oder der Gehilfe (§ 27 StGB). Gehilfe ist, wer vorsätzlich einem anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat Hilfe geleistet hat.

a) Unter Berücksichtigung der strafrechtlichen Anforderungen setzt die Haftung als Gehilfe einer Steuerhinterziehung voraus, dass der Steuerschuldner die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale einer Steuerhinterziehung (§ 370 [X.]) verwirklicht hat. Der Steuerschuldner muss eine der in § 370 Abs. 1 [X.] beschriebenen Tathandlungen mit Vorsatz begangen und dadurch Steuern verkürzt haben. Der Gehilfe muss dazu vorsätzlich Hilfe geleistet haben. Das setzt eine von Vorsatz getragene [X.] voraus. Der Vorsatz des Gehilfen muss sich darüber hinaus auch auf die Haupttat, also die Steuerhinterziehung durch den Steuerschuldner erstrecken (sog. doppelter Gehilfenvorsatz). [X.] setzt die Haftung weiter voraus, dass der Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis noch existiert (Akzessorietät der Haftung).

b) Sind die tatbestandlichen Voraussetzungen von Normen des materiellen Strafrechts --hier des § 370 [X.]-- bei der Anwendung steuerrechtlicher Vorschriften wie § 169 Abs. 2 Satz 2 [X.] oder § 71 [X.] von den Finanzbehörden und den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit festzustellen, sind verfahrensrechtlich die Vorschriften der [X.] und der [X.]O maßgebend und nicht die Strafprozessordnung (vgl. nur Beschluss des Großen Senats des [X.] vom 5. März 1979 GrS 5/77, [X.]E 127, 140, 145, [X.] 1979, 570, 573). Danach hat das [X.] gemäß § 96 Abs. 1 Satz 1  1. Halbsatz [X.]O aufgrund seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu entscheiden, ob für den Erlass eines Haftungsbescheids nach § 71 [X.] diejenigen Tatsachen vorliegen, die den Tatbestand des Strafgesetzes ausfüllen. Allerdings darf es sich für die Feststellung einer Steuerhinterziehung nicht auf die Anwendung eines reduzierten Beweismaßes oder eine Schätzung beschränken; verbleibende Zweifel gehen nach den Regeln der [X.] zu Lasten des Finanzamts (vgl. [X.]-Urteil vom 14. August 1991 [X.], [X.]E 165, 458, [X.] 1992, 128; [X.] in [X.]/[X.]/ [X.], § 71 [X.] Rz 19).

c) Welche Anforderungen gemäß § 96 Abs. 1 Satz 1  1. Halbsatz [X.]O im Einzelfall an die richterliche Überzeugungsbildung gestellt werden müssen, entzieht sich weitgehend abstrakter Festlegung. Grundsätzlich muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorliegen der entscheidungserheblichen Tatsachen bilden. Das bedeutet, dass der Tatrichter ohne Bindung an gesetzliche Beweisregeln und nur seinem persönlichen Gewissen unterworfen persönliche Gewissheit in einem Maße erlangt, dass er an sich mögliche Zweifel überwindet und sich von einem bestimmten Sachverhalt als wahr überzeugen kann, wobei der [X.] nicht eine von allen Zweifeln freie Überzeugung anstreben darf, sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen vielmehr mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit überzeugen muss (vgl. [X.]-Urteile vom 24. März 1987 VII R 155/85, [X.]/NV 1987, 560; vom 7. November 2006 VIII R 81/04, [X.]E 215, 66, [X.] 2007, 364; [X.]-Beschluss vom 9. März 2011 [X.]153/10, [X.]/NV 2011, 965).

d) Nach § 118 Abs. 2 [X.]O ist der [X.] an die im angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden, es sei denn, dass in Bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind. Die Feststellung oder Nichtfeststellung von Tatsachen durch das [X.] ist danach der revisionsrechtlichen Nachprüfung weitgehend entzogen. Sie ist grundsätzlich nur insoweit revisibel, als Verstöße gegen die Verfahrensordnung, gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze vorgekommen sind. Im Übrigen binden die tatsächlichen Feststellungen das Revisionsgericht schon dann, wenn sie nicht zwingend, sondern nur möglich sind (vgl. nur Gräber/ Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 118 Rz 30, m.w.N.). Ein revisionsrechtlich beachtlicher Verstoß gegen die rechtlichen Anforderungen an die Überzeugungsbildung oder das erforderliche Maß von Überzeugung kann deshalb nur angenommen werden, wenn das [X.] die in § 96 Abs. 1 Satz 1  1. Halbsatz [X.]O angeordneten gesetzlichen Maßstäbe für die Überzeugungsbildung in grundlegender Weise verkannt hat.

2. Nach diesen Maßstäben begegnet das angefochtene Urteil keinen rechtlichen Bedenken.

a) Das [X.] hat im Wesentlichen ausgeführt, die Tatsache des anonymen Kapitaltransfers in einer bestimmten Anzahl von Fällen und in einer bestimmten Höhe lasse keinen sicheren Schluss darauf zu, dass die 638 nicht enttarnten [X.] Steuern hinterzogen haben. Die fehlende Überzeugung des Gerichts gehe zu Lasten des [X.]. Das Gericht dürfe die fehlende Überzeugung nicht durch [X.] ersetzen. Dies würde zu einer weitreichenden Feststellungserleichterung zugunsten der Finanzverwaltung führen, was nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht zulässig sei.

b) Diese Ausführungen sind revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

aa) Sie beruhen im rechtlichen Ausgangspunkt auf der ständigen Rechtsprechung, dass die Haftung nach § 71 [X.] die Verwirklichung des Tatbestands einer Steuerhinterziehung i.S. des § 370 Abs. 1 [X.] voraussetzt und die entsprechenden Tatsachen durch das [X.] hinsichtlich einer sicher bestimmbaren Zahl von Fällen festzustellen sind. Das setzt tatsächliche Feststellungen dazu voraus, dass der jeweilige Inhaber des in das Ausland transferierten Kapitals daraus in der Folge Erträge erzielt hat, die der Besteuerung im Inland unterlagen, dass er z.B. unrichtige Angaben in seiner Steuererklärung gemacht, dadurch Steuern hinterzogen und dabei vorsätzlich gehandelt hat. Außerdem musste das [X.] feststellen, dass der jeweilige Steueranspruch noch existierte und nicht z.B. durch Zahlung oder Verjährung erloschen war.

Kann das [X.] verbleibende tatsächliche Zweifel, ob und in welchem Umfang Steuerhinterziehungen begangen wurden, nicht ausräumen, muss es wegen der insoweit bestehenden [X.] des [X.] zu dessen Lasten den [X.] i.S. des § 71 [X.] verneinen (s. dazu oben unter [X.]).

bb) Die Auffassung des [X.], zur Begründung der Haftung gemäß § 71 [X.] reiche auch ohne entsprechende einzelfallbezogene tatsächliche Feststellungen schon eine hinreichend sichere Annahme einer Steuerhinterziehung i.S. einer gruppenbezogenen Betrachtung aus (hier der nicht enttarnten Kunden), findet im Gesetz keine Stütze.

(1) Schon die strafrechtlichen Begriffe (Steuerhinterziehung, Teilnahme) gebieten für die Anwendung des § 71 [X.] eine grundsätzlich auf den Einzelfall abstellende Betrachtung. Der [X.] ist stets davon ausgegangen, dass die im Steuerrecht vorkommenden Begriffe des Strafrechts auch materiell-rechtlich wie im Strafrecht zu beurteilen sind (vgl. nur Beschluss des Großen Senats des [X.] in [X.]E 127, 140, [X.] 1979, 570). Auch die steuerrechtliche Akzessorietät der Haftung kann nur bezogen auf das einzelne [X.] geprüft werden.

(2) Die gegenteilige Auffassung des [X.] ist mit den aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes) abgeleiteten Anforderungen an die Bestimmtheit von [X.] und die grundsätzliche Bindung des [X.]s an das Gesetz unvereinbar. Sie liefe auf eine vom Gesetz nicht vorgesehene Gefährdungshaftung hinaus.

Auch der Umstand, dass der Kläger gerade durch das ihm zur Last gelegte Verhalten die Enttarnung der Bankkunden aktiv erschwert und zum Teil vereitelt hat, vermag keine Ausweitung der Haftung über den gesetzlichen Tatbestand hinaus zu rechtfertigen.

(3) Das [X.] hat seine Überzeugung gemäß § 96 [X.]O zu Recht nach demselben Beweismaß wie bei anderen steuer- oder haftungsbegründenden Tatsachen gebildet, nicht aber nach einem reduzierten Beweismaß anhand eines bestimmten Wahrscheinlichkeitsmaßstabs, wie ihn das [X.] mit einem Sicherheitsabschlag von 25 % zugrunde legen will. Durch einen solchen Sicherheitsabschlag erhöht sich nämlich nur die Wahrscheinlichkeit, dass die geschätzte Haftungssumme den tatsächlichen Steuerschaden nicht übersteigt, nicht jedoch die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen der Tatsachen, aus denen sich in der Vielzahl der Einzelfälle die Steuerhinterziehung dem Grunde nach ergibt.

cc) Die auf der Grundlage der dargestellten Grundsätze vorgenommene Würdigung der entscheidungserheblichen Tatsachen durch das [X.] ist jedenfalls möglich; an die (negative) tatsächliche Feststellung eines haftungsbegründenden Tatbestands durch das Gericht ist der [X.] deshalb gebunden (§ 118 Abs. 2 [X.]O).

(1) Zum einen gibt es keinen allgemeinen Erfahrungssatz, dass, wer Kapital anonym ins Ausland verbringt, auch in der Steuererklärung unrichtige Angaben hinsichtlich der daraus erzielten Erträge macht (vgl. [X.]-Urteil vom 20. Juni 2007 II R 66/06, [X.]/NV 2007, 2057).

(2) Zum anderen hat das [X.] in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise die Häufigkeit der Steuerhinterziehung in der Gruppe der enttarnten Kunden bei der Prüfung einer möglichen Steuerhinterziehung durch nicht enttarnte Kunden der Bank mangels Möglichkeit weiterer entsprechender tatsächlicher Feststellungen unberücksichtigt gelassen. Andernfalls hätte die Überzeugungsbildung auf einer reinen Wahrscheinlichkeitsbetrachtung beruht, die mit dem unter [X.] dargestellten Gebot der richterlichen Überzeugungsbildung für Sachverhalte, für die das Finanzamt die [X.] trägt, unvereinbar gewesen wäre.

(3) Die Prüfung der Haftungsvoraussetzungen nach § 71 [X.] verlangt --wie [X.] tatsächliche Feststellungen, aus denen sich das Vorliegen einer Steuerhinterziehung dem Grunde nach ergibt. Dies erfordert im Regelfall Feststellungen zur Zurechenbarkeit anonymisierter Kapitaltransfers ins Ausland zu bestimmbaren Steuerpflichtigen und Feststellungen, die die Überzeugung begründen, dass diese Steuerpflichtigen in ihren Steuererklärungen dazu keine oder unrichtige Angaben gemacht haben.

Solche tatsächlichen Feststellungen waren indessen --auch nach Ansicht des [X.]-- im Streitfall nicht möglich, so dass dahinstehen kann, ob das Merkmal der "Steuerhinterziehung" in § 71 [X.] auch ohne (namentliche) Kenntnis des [X.] in Betracht kommt. Die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen waren jedenfalls deshalb nicht durch Erkenntnisse aus der Gruppe der enttarnten Kunden zu ersetzen, weil selbst nach den Angaben des [X.] in der Gruppe der enttarnten Kunden nicht sämtliche Kunden in ihren Einkommensteuererklärungen unrichtige Angaben gemacht haben. Vielmehr habe "nahezu kein" enttarnter Kunde die im Ausland erzielten Erträge deklariert, was jedoch Ausnahmen einschließt. Hinzu kommt, dass nach den Angaben des [X.] in etwa 6 % der Fälle aus anderen Gründen eine Steuerverkürzung nicht eingetreten ist.

(4) Der Streitfall gibt schließlich keine Veranlassung, abschließend dazu Stellung zu nehmen, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen Wahrscheinlichkeitsaussagen überhaupt zur richterlichen Überzeugungsbildung herangezogen werden dürfen, weil das [X.] seine Entscheidungsbildung auf solche Wahrscheinlichkeitsaussagen nicht gestützt hat.

Meta

VIII R 22/10

15.01.2013

Bundesfinanzhof 8. Senat

Urteil

vorgehend FG Düsseldorf, 18. Februar 2010, Az: 8 K 814/08 H, Urteil

§ 71 AO, § 96 Abs 1 S 1 Halbs 1 FGO, § 118 Abs 2 FGO, § 370 AO, § 169 Abs 2 S 2 AO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 15.01.2013, Az. VIII R 22/10 (REWIS RS 2013, 9062)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 9062

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