Bundessozialgericht, Beschluss vom 10.03.2010, Az. B 12 SF 2/10 S

12. Senat | REWIS RS 2010, 8585

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - örtliche Zuständigkeit - kein Entfallen der Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses bei offensichtlichem Irrtum eines Gerichts - Wohnsitz - Ort faktischer Anwesenheit


Tatbestand

1

Mit einem am 30.12.2009 beim Sozialgericht (SG) [X.] eingegangenen Schriftsatz beantragte der Antragsteller, die Antragsgegnerin durch Erlass einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm Kosten der Unterkunft und Heizung nach dem [X.] für ein in seinem Eigentum stehendes und im Zuständigkeitsbereich des SG [X.] belegenes Haus zu gewähren. Hierzu gab er an, seit 31.10.2009 obdachlos zu sein und sich in [X.] aufzuhalten. In der [X.] teilte die Antragsgegnerin mit, der Antragsteller habe sich ohne festen Wohnsitz gemeldet, sich vom 7. bis zum 14.12.2009 täglich den Tagessatz auszahlen lassen und am 15.12.2009 bei der [X.] angemeldet, von der er seitdem Leistungen beziehe. Dort habe er erklärt, sein Haus werde zum Verkauf angeboten und er wolle vorerst in [X.] bleiben. Am 19.1.2010 bat der Antragsteller das SG [X.] telefonisch, ihm Post an ein bei der [X.] eingerichtetes Postfach zu senden, da er sich in seinem Haus nicht aufhalten könne. Tagsüber halt er sich in der Notunterkunft der C. [X.] auf.

2

Mit Verfügung vom [X.] hat das SG [X.] die Beteiligten zu einer beabsichtigten Verweisung des Rechtsstreits an das [X.] angehört. Daraufhin erklärte der Antragsteller mit Schreiben vom [X.], hiermit nicht einverstanden zu sein und innerhalb von drei Tagen wieder in die P. zurückkehren zu wollen. Die Post solle zukünftig wieder an die Anschrift seines Hauses gesandt werden, wobei er nicht sagen könne, wann er diese nachschauen könne.

3

Mit Beschluss vom 5.2.2010 hat das SG [X.] sich für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das [X.] verwiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, es sei auch nicht wegen eines bereits anhängigen Rechtsstreits als Gericht der Hauptsache für den Erlass der einstweiligen Anordnung zuständig, da die Verfahren unterschiedliche Gegenstände beträfen.

4

Mit Beschluss vom [X.] hat das [X.] das Verfahren dem [X.] (BSG) zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt, da die Verweisung durch das SG [X.] willkürlich sei. Das SG [X.] habe trotz der Stellungnahme des Antragstellers verkannt, dass dieser weiterhin seinen Wohnsitz am Ort seines Hauses gehabt habe und dass sich die örtliche Zuständigkeit zuerst danach und nur nachrangig nach dem Aufenthaltsort richte.

Entscheidungsgründe

5

Die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung nach § 58 Abs 1 [X.] [X.] durch das BSG liegen vor. Es ist als gemeinsam nächsthöheres Gericht im Sinne dieser Vorschrift zur Entscheidung des negativen Kompetenzkonflikts zwischen dem [X.] und dem [X.] berufen, nachdem das [X.] seine örtliche Zuständigkeit verneint und den Rechtsstreit an das [X.] verwiesen hat, dieses Gericht sich jedoch ebenfalls nicht für örtlich zuständig hält, sondern weiterhin das [X.] mangels Bindungswirkung als zuständig ansieht. Das [X.] konnte von einem eigenen Verweisungsbeschluss absehen und von seiner Unzuständigkeit ausgehend unmittelbar das BSG zur Bestimmung des zuständigen Gerichts anrufen ([X.], Beschluss vom 27.5.2004, [X.] SF 6/04 S, [X.] 4-1500 § 57a [X.]).

6

Zum zuständigen Gericht ist das [X.] zu bestimmen, weil dieses an den Verweisungsbeschluss des [X.] vom 5.2.2010 gebunden ist.

7

Gemäß § 98 Satz 1 [X.] iVm § 17a Abs 2 Gerichtsverfassungsgesetz ([X.]) ist ein Verweisungsbeschluss wegen örtlicher oder sachlicher Unzuständigkeit für das Gericht, an das verwiesen wurde, bindend. Dies gilt im Interesse des verfassungsrechtlich gewährleisteten effektiven Rechtsschutzes (Art 19 Abs 4 GG) und einer möglichst zügigen sachlichen Entscheidung grundsätzlich unabhängig von der Verletzung prozessualer oder materieller Vorschriften. Den Streit der beteiligten Gerichte über den Anwendungsbereich von Regelungen über die örtliche Zuständigkeit zu entscheiden oder in jedem Einzelfall die Richtigkeit des dem Verweisungsbeschluss zugrunde liegenden Subsumtionsvorgangs zu überprüfen, ist gerade nicht Aufgabe des gemeinsam übergeordneten Gerichts im Verfahren nach § 58 Abs 1 [X.] [X.].

8

Ausnahmsweise kommt dem Verweisungsbeschluss dann keine Bindungswirkung zu, wenn die Verweisung auf einer Missachtung elementarer Verfahrensgrundsätze oder einem willkürlichen Verhalten beruht ([X.], Beschlüsse vom 25.2.1999, [X.] SF 9/98 S, [X.] 3-1720 § 17a [X.] ff, vom 27.5.2004, [X.] SF 6/04 S, [X.] 4-1500 § 57a [X.] RdNr 11, vom [X.], [X.]3 SF 4/05 S, [X.] 4-1500 § 58 [X.] RdNr 15, und vom [X.], [X.]2 SF 3/07 S, [X.] 4-1500 § 57 [X.] Rd[X.], sowie [X.] vom 19.12.2001, 1 BvR 814/01, NVwZ-RR 2002, 389). Willkürlich ist eine gerichtliche Entscheidung dann, wenn sie unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt mehr vertretbar ist, sodass sich der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht und deshalb auch Art 3 Abs 1 GG verletzt. Allein ein offensichtlicher Irrtum eines Gerichts lässt die Bindungswirkung nicht entfallen. Danach ist für eine vom Verweisungsbeschluss des [X.] abweichende Bestimmung des örtlich zuständigen SG kein Raum.

9

Das [X.] ist danach bereits deshalb für die Entscheidung örtlich zuständig, weil der Verweisungsbeschluss des [X.] nach § 98 Satz 1 [X.], § 17a Abs 2 [X.] unanfechtbar (§ 98 Satz 2 [X.]) und für das [X.] bindend ist (§ 17a Abs 1 [X.]). Der Beschluss beruht nicht auf einer Verletzung elementarer Verfahrensgrundsätze, soweit sie hier zu beachten sind. Die knappe Begründung des Beschlusses ist kein solcher Verstoß.

[X.] des [X.] ist auch nicht willkürlich. Selbst wenn das [X.] möglicherweise die Vorschrift des § 57 Abs 1 Satz 1 Halbsatz 1 [X.] fehlerhaft angewandt hat, nach der sich die örtliche Zuständigkeit des [X.] zunächst nach dem Wohnsitz des [X.] zur [X.] der Klageerhebung bzw der Antragstellung richtet und nur in Ermangelung eines Wohnsitzes nach dem Aufenthaltsort, war seine Rechtsauffassung nicht unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt unvertretbar. Einen Wohnsitz hat jemand dort, wo er iS des § 30 Abs 3 Satz 1 SGB I ([X.], [X.], 10 [X.] 19/88, [X.], 84, 86) eine Wohnung unter Umständen inne hat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Ein Wohnsitz wird aufgegeben, wenn die Wohnung aufgelöst oder nicht nur vorübergehend nicht mehr benutzt wird ([X.], 29.5.1991, 4 RA 38/90, [X.] 3-1200 § 30 [X.] 8) . Hat jemand keinen Wohnsitz, wird auf den Aufenthaltsort abgestellt. Das ist der Ort faktischer Anwesenheit, die nicht "gewöhnlich" iS des § 30 Abs 3 Satz 2 SGB I zu sein braucht, jedoch eine gewisse Dauer haben muss ([X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.], 9. Aufl 2008, § 57 RdNr 7 mwN) .

[X.] bestanden im [X.]punkt seines [X.]([X.], [X.], [X.]3 SF 4/05 S, [X.] 4-1500 § 58 [X.] RdNr 12) für das [X.] konkrete Anhaltspunkte für eine Wohnsitzaufgabe des [X.] im [X.]punkt der Antragstellung und für einen Aufenthalt von gewisser Dauer in S. So hatte der Antragsteller selbst angegeben, obdachlos zu sein und sich in S. aufzuhalten, wohin er zunächst auch seine Post gesandt bekommen wollte. Dieser Sachverhalt wurde auch durch die Antragsgegnerin bestätigt, die über einen Leistungsbezug in S. und daneben über dort mitgeteilte Bemühungen des [X.] um den Verkauf seines Hauses berichtet hat. Der Sachverhalt zum [X.]punkt der Antragstellung hat sich auch nicht durch die mit Schreiben vom [X.] übermittelte Erklärung des Antragstellers geändert, sich wieder in die P. begeben zu wollen, wenn auch diese Erklärung dem [X.] Anlass gegeben hätte, sich mit der Frage der Dauer- und Ernsthaftigkeit der Wohnsitzaufgabe näher auseinanderzusetzen. Dabei wäre jedoch auch zu würdigen gewesen, dass der Antragsteller ausdrücklich darauf hingewiesen hat, nicht sagen zu können, wann er nach der an die Anschrift seines Hauses gesandten Post schauen könne, was darauf schließen lässt, dass er dort nicht wieder einziehen wollte. Die fehlende Auseinandersetzung mit der Frage einer möglicherweise nicht dauerhaften Aufgabe des Wohnsitzes im [X.]punkt der Antragstellung macht die Verweisung des Rechtsstreits an das [X.] uU im Ergebnis falsch, jedoch nicht im oben dargelegten Sinne willkürlich, zumal auch andere Umstände, die darauf schließen lassen könnten, dass die Entscheidung des [X.] auf sachfremden Erwägungen beruht haben könnte, nicht ersichtlich sind.

Meta

B 12 SF 2/10 S

10.03.2010

Bundessozialgericht 12. Senat

Beschluss

Sachgebiet: SF

vorgehend Sozialgericht für das Saarland, 10. Februar 2010, Az: S 26 AS 25/10 ER, Beschluss

§ 57 Abs 1 S 1 SGG, § 58 Abs 1 Nr 4 SGG, § 98 S 1 SGG, § 17a Abs 1 GVG, § 17a Abs 2 GVG, Art 3 Abs 1 GG, § 30 Abs 3 S 1 SGB 1, § 30 Abs 3 S 2 SGB 1

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 10.03.2010, Az. B 12 SF 2/10 S (REWIS RS 2010, 8585)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 8585

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

B 12 SF 7/10 S (Bundessozialgericht)

(Sozialgerichtliches Verfahren - Zuständigkeitsbestimmung durch BSG nach § 58 Abs 1 Nr 4 SGG - …


B 12 SF 1/10 S (Bundessozialgericht)

Sozialgerichtliches Verfahren - örtliche Zuständigkeit - kein Entfallen der Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses bei offensichtlichem Irrtum …


B 11 SF 9/21 S (Bundessozialgericht)

(Sozialgerichtliches Verfahren - negativer Kompetenzkonflikt - örtliche Zuständigkeit in einem Statusfeststellungsverfahren - willkürliche Auslegung des …


B 11 SF 5/23 S (Bundessozialgericht)

Sozialgerichtliches Verfahren - Zuständigkeitsbestimmung - örtliche Zuständigkeit - Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses - Ausnahme - willkürliche …


B 4 SF 40/16 S (Bundessozialgericht)

Sozialgerichtliches Verfahren - Bestimmung des örtlich zuständigen Sozialgerichts bei streitiger Zuständigkeit - Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses …


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.