Bundesgerichtshof, Beschluss vom 18.06.2020, Az. IX ZB 17/18

9. Zivilsenat | REWIS RS 2020, 1399

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Gegenstand

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Versäumung der Berufungsfrist: Anwaltliche Fristenkontrolle bei Vorlage der Handakte im Zusammenhang mit der fristgebundenen Prozesshandlung


Tenor

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des 19. Zivilsenats des [X.] vom 12. Februar 2018 wird auf Kosten des [X.] als unzulässig verworfen.

Der Wert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 1.584.502,47 € festgesetzt.

Gründe

I.

1

Die vom Kläger unter dem Gesichtspunkt der Rechtsanwaltshaftung erhobene Klage hat das [X.] mit Urteil vom 27. Oktober 2017 abgewiesen. Das Urteil ist den damaligen Prozessbevollmächtigten des [X.] am 2. November 2017 zugestellt worden. Erst am 14. Dezember 2017 haben sie Berufung eingelegt und Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist beantragt.

2

Zur Begründung des [X.] hat der Kläger ausgeführt, die Fristenüberwachung im Büro seiner Prozessbevollmächtigten sei durch allgemeine Anweisungen so organisiert, dass die Rechtsanwaltsfachangestellte [X.] die Fristen in den Kalender eintrage, wobei zu jeder Frist eine Vorfrist notiert werde. Jeden Morgen prüfe die Rechtsanwaltsfachangestellte [X.]den [X.] und weise die mandatsbearbeitenden Anwälte in elektronischer Form auf die Fristenlage hin. Eine Vorlage der jeweiligen Handakte (in Papierform) sei in diesem Zusammenhang nicht vorgesehen, weil die Anwälte Zugriff auf die zentral geführten elektronischen Akten hätten. Am Abend prüfe dann die Rechtsanwaltsfachangestellte [X.]den [X.] abschließend auf etwaige noch nicht erledigte Fristen. Dabei versichere sie sich hinsichtlich jeder einzelnen Frist auch anhand der jeweiligen Akte.

3

Im vorliegenden Fall seien im Blick auf die Berufungsfrist sowohl die Vorfrist als auch die Hauptfrist ordnungsgemäß in den [X.] eingetragen worden. Über den Ablauf der Vorfrist seien die sachbearbeitenden Rechtsanwälte entsprechend den allgemeinen Vorgaben informiert worden. Die Anwälte hätten daraufhin den Entwurf eines Berufungsschriftsatzes gefertigt und diesen im zentralen System gespeichert. Die Einreichung der Berufungsschrift bei Gericht habe erst nach einer abschließenden Abstimmung mit dem Kläger erfolgen sollen.

4

Am Morgen des Ablaufs der Berufungsfrist habe es die Rechtsanwaltsfachangestellte [X.]aufgrund eines Versehens unterlassen, die Anwälte über den Fristablauf zu informieren. Auch die mit der Endkontrolle befasste Rechtsanwaltsfachangestellte [X.]habe versagt. Im Laufe des [X.] sei sie angesichts des bereits Tage zuvor im elektronischen System abgelegten Entwurfs einer Berufungsschrift stillschweigend davon ausgegangen, dass ihr der sachbearbeitende Rechtsanwalt im Laufe des weiteren [X.] eine ausdrückliche Anweisung zur Ausfertigung und Einreichung erteilen werde. Nach Rückkehr von einer Fortbildungsveranstaltung am Nachmittag sei ihr die unerledigte Frist nicht mehr präsent gewesen. Die abschließende Prüfung des [X.]s habe sie versäumt.

5

Das Berufungsgericht hat den Antrag des [X.] auf Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsfrist zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Dagegen wendet sich die Rechtsbeschwerde des [X.].

II.

6

Die gemäß § 238 Abs. 2 Satz 1, § 522 Abs. 1 Satz 4, § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist unzulässig, weil kein [X.] nach § 574 Abs. 2 ZPO vorliegt. Eine Entscheidung des [X.] ist weder wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache noch zur Fortbildung des Rechts noch zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich. Der angefochtene Beschluss steht im Einklang mit der Rechtsprechung des [X.] und verletzt den Kläger nicht in seinen Verfahrensgrundrechten.

7

1. Das Berufungsgericht hat ausgeführt: Für die Fristversäumung seien nicht in erster Linie die eidesstattlich eingeräumten Versehen der [X.] ursächlich gewesen. Vielmehr hätten die Prozessbevollmächtigten des [X.] nicht die erforderliche Sorgfalt beachtet. Würden dem Anwalt die Akten im Zusammenhang mit der befristeten Prozesshandlung, etwa zur Vorfrist, vorgelegt, obliege ihm die Fristenprüfung und -überwachung selbst. [X.] ein wenige Tage vor Fristablauf gefertigter Berufungsschriftsatz noch mit dem Mandanten abgestimmt werden, habe der Rechtsanwalt selbst für die Fristwahrung Sorge zu tragen und dürfe sich nicht darauf verlassen, von den [X.] am letzten [X.] an den drohenden Fristablauf erinnert zu werden.

8

2. Das entspricht der Rechtsprechung des [X.]. Im Ergebnis mit Recht hat das Berufungsgericht dem Kläger die Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist versagt. Der Kläger hat keinen Sachverhalt vorgetragen, der die Annahme eines ihm gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zurechenbaren Verschuldens seiner Prozessbevollmächtigten ausschlösse (vgl. [X.], Beschluss vom 3. Juli 2008 - [X.], NJW 2008, 3501 Rn. 15; vom 14. Januar 2010 - [X.], BeckRS 2010, 3137 Rn. 8; vom 20. Oktober 2010 - [X.], BeckRS 2010, 26918 Rn. 5). Der Kläger war daher nicht ohne sein Verschulden verhindert, die Berufungsfrist einzuhalten (§ 233 Satz 1 ZPO).

9

a) Nach der Rechtsprechung des [X.] ist es dem Rechtsanwalt grundsätzlich gestattet, die [X.] und Ausgangskontrolle seinem Büropersonal zu überantworten. Es selbst muss lediglich eine fachlich einwandfreie Kanzleiorganisation sicherstellen, die mit der Fristenkontrolle betrauten Mitarbeiter sorgfältig auswählen und diese durch Stichproben kontrollieren. Wird der Anwalt diesen Anforderungen gerecht, so ist es ihm nicht als eigenes Verschulden anzulasten, wenn die Mitarbeiter die [X.] oder die Ausgangskontrolle im Einzelfall nicht oder nicht sorgfältig durchführen (vgl. [X.], Beschluss vom 8. Februar 2010 - [X.], [X.] 2011, 111 Rn. 7; vom 12. September 2012 - [X.] 528/11, NJW-RR 2013, 304 Rn. 10; vom 9. Mai 2017 - [X.], NJW-RR 2017, 953 Rn. 9).

Trotz Übertragung der [X.] und Ausgangskontrolle im vorstehenden Sinne auf das Büropersonal muss der Rechtsanwalt (wieder) selbst für die Einhaltung der Frist Sorge tragen, wenn ihm die Akte im sachlichen oder zeitlichen Zusammenhang mit der fristgebundenen Prozesshandlung vorgelegt wird (vgl. [X.], Beschluss vom 14. Januar 1997 - [X.], NJW 1997, 1311; vom 20. Oktober 2010 - [X.], BeckRS 2010, 26918 Rn. 6; vom 28. Mai 2014 - [X.], [X.] 2014, 1868 Rn. 8). In diesem Fall darf sich der Rechtsanwalt nicht auf die Erinnerung durch den mit der Fristenkontrolle betrauten Mitarbeiter am letzten [X.] verlassen (vgl. [X.], Urteil vom 25. September 1968 - [X.], NJW 1968, 2244). Er kann sich von seiner Verantwortung auch nicht durch eine (allgemeine) Anweisung befreien, ihn täglich an noch unerledigte Fristsachen zu erinnern ([X.], Beschluss vom 14. Januar 1997, aaO mwN). [X.] sich der Rechtsanwalt der Verantwortung für die Einhaltung der Frist erneut entledigen, muss er durch geeignete Maßnahmen der Gefahr vorbeugen, der mit der Fristenkontrolle betraute Mitarbeiter könne (irrtümlich) annehmen, der Anwalt habe die Frist selbst im Blick (vgl. [X.], Beschluss vom 28. Mai 2014, aaO Rn. 11).

Hierzu kann der Rechtsanwalt die Akte in den [X.] zurückgeben (vgl. [X.], Beschluss vom 27. Mai 1997 - [X.], [X.], 1252; vom 13. Oktober 2011 - [X.] und 19/10, NJW 2012, 614 Rn. 12; vom 28. Mai 2014, aaO Rn. 9). Nach Rückgabe der Akte in den [X.] muss dem mit der Fristenkontrolle betrauten Mitarbeiter klar sein, dass er nun wieder allein für die Wahrung der Frist Sorge zu tragen hat. Einer gesonderten Weisung oder sonstigen Maßnahmen des Anwalts bedarf es dazu nicht (vgl. [X.], Beschluss vom 13. Oktober 2011, aaO). Allerdings muss der Rechtsanwalt sicherstellen, dass die Rückgabe der Akte in den [X.] dem mit der Fristenkontrolle betrauten Mitarbeiter zur Kenntnis gelangt. Deshalb reicht es nicht aus, wenn der Anwalt die Akte eigenhändig wieder zur Aufbewahrung an den dafür üblichen Ort in der Kanzlei zurückstellt, ohne dies aktenkundig zu machen (vgl. [X.], Beschluss vom 28. Mai 2014, aaO Rn. 10).

Auch eine auf die konkrete Situation ausgerichtete Anweisung des Rechtsanwalts an den mit der Fristenkontrolle betrauten Mitarbeiter kann der Gefahr vorbeugen, dieser könne annehmen, der Anwalt habe die Frist nach Vorlage der Akte selbst im Blick (vgl. [X.], Beschluss vom 28. Mai 2014, aaO Rn. 11). Dies gilt für eine auf den jeweiligen Einzelfall bezogene Weisung, kommt aber auch in Betracht, wenn der Anwalt eine abstrakte Anweisung erteilt. Mit einer abstrakten Weisung muss allerdings unmissverständlich klargestellt werden, dass die Vorlage der Akte und deren Bearbeitung durch den Rechtsanwalt den mit der Fristenkontrolle betrauten Mitarbeiter nicht von der Verantwortung für die Einhaltung der Frist entbindet. Die allgemeine Weisung, ausnahmslos oder in jedem Fall auf den Fristablauf zu achten, genügt nicht, weil sie nicht die mit der Aktenvorlage verbundene Gefahr eines Missverständnisses aufzeigt und auch nicht auf diese Gefahr eingeht.

b) Diese Grundsätze gelten unabhängig davon, ob die Handakte des Rechtsanwalts in herkömmlicher Form als Papierakte oder aber als elektronische Akte geführt wird. Wie die Vorschrift des § 50 Abs. 4 [X.] zeigt, kann sich ein Rechtsanwalt zum Führen der Handakten der elektronischen Datenverarbeitung bedienen. Entscheidet er sich hierfür, muss die elektronische Aktenführung den Anforderungen standhalten, die an die in herkömmlicher Form geführte (Papier-)Akte gestellt werden (vgl. [X.], Beschluss vom 9. Juli 2014 - [X.] 709/13, NJW 2014, 3102 Rn. 13). Dass die Handakte elektronisch geführt wird, kann nicht dazu führen, dass den Rechtsanwalt im Ergebnis geringere Sorgfaltspflichten als bei herkömmlicher Aktenführung treffen ([X.], Beschluss vom 9. Juli 2014, aaO Rn. 14). Dies gilt nicht nur für den Akteninhalt (vgl. [X.], Beschluss vom 9. Juli 2014, aaO Rn. 13), sondern auch für die übergeordnete Organisation der Aktenführung. Anhand der Organisation muss insbesondere klar erkennbar sein, ob die elektronische Akte einem Rechtsanwalt zur Bearbeitung zugewiesen ist oder sich im [X.] befindet.

c) Nach diesen Maßstäben kann nicht ausgeschlossen werden, dass (auch) die Prozessbevollmächtigten des [X.] selbst die Versäumung der Berufungsfrist zu vertreten haben.

Nach Hinweis auf den Ablauf der eingetragenen Vorfrist haben die zuständigen Rechtsanwälte die Bearbeitung der Akte übernommen, indem sie den Entwurf einer Berufungsschrift gefertigt und diesen im zentralen elektronischen System gespeichert haben. Ausgefertigt und eingereicht wurde die Berufungsschrift zunächst nicht, weil noch eine Abstimmung mit dem Kläger erfolgen sollte. Aufgrund der Anfertigung der Berufungsschrift waren die Prozessbevollmächtigten des [X.] mit der Sache befasst und mussten für die Einhaltung der Berufungsfrist (wieder) selbst Sorge tragen. Ob ihnen eine Papierakte vorlag oder sie die elektronische Akte am Bildschirm eingesehen haben, ist dafür ohne Bedeutung (vgl. [X.], Beschluss vom 9. Juli 2014, aaO Rn. 14).

Dass die Prozessbevollmächtigten des [X.] der Gefahr vorgebeugt hatten, die von ihnen mit der Fristenkontrolle betrauten Mitarbeiter könnten (irrtümlich) annehmen, die sachbearbeitenden Anwälte hätten die Frist selbst im Blick, ist nicht vorgetragen. Auch unter Berücksichtigung des weiteren Vorbringens des [X.] im Rechtsbeschwerdeverfahren ist nicht ersichtlich, auf welche Weise die Akte in den [X.] zurückgegeben worden ist und wie dies für die mit der Fristenkontrolle betrauten Mitarbeiter erkennbar geworden sein könnte. Auch zu einer auf die konkrete Situation ausgerichteten Weisung der Prozessbevollmächtigten des [X.] an die mit der Fristenkontrolle betrauten Mitarbeiter ist nichts dargetan. Die allgemeine Anweisung, den jeweiligen Anwalt ausnahmslos über jeden Fristablauf zu informieren, genügte den Anforderungen nicht, weil sie nicht die mit der Aktenvorlage verbundene Gefahr eines Missverständnisses aufzeigte und auch nicht konkret auf diese Gefahr einging. Nach dem Vorbringen des [X.] hat sich die Gefahr im Streitfall verwirklicht: Am Tag des Fristablaufs ging danach die zuständige Mitarbeiterin [X.]davon aus, dass ihr der sachbearbeitende Rechtsanwalt im Laufe des weiteren [X.] eine ausdrückliche Anweisung zur Ausfertigung und Einreichung der im zentralen System im Entwurf abgespeicherten Berufungsschrift erteilen würde. Damit schrieb sie die Verantwortung für den weiteren Fortgang der Angelegenheit dem sachbearbeitenden Rechtsanwalt zu. Hätte dieser die Akte zuvor für die Mitarbeiterin unmissverständlich erkennbar in den [X.] zurückgegeben oder hätte es eine auf die konkrete Situation ausgerichtete Anweisung gegeben, wäre diese Annahme nicht gerechtfertigt gewesen.

Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 577 Abs. 6 Satz 3 ZPO abgesehen.

Kayser     

      

Lohmann     

      

Möhring

      

Röhl     

      

Schultz     

      

Meta

IX ZB 17/18

18.06.2020

Bundesgerichtshof 9. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend OLG Frankfurt, 12. Februar 2018, Az: 19 U 212/17, Beschluss

§ 233 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 18.06.2020, Az. IX ZB 17/18 (REWIS RS 2020, 1399)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 1399

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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