Bundesgerichtshof, Beschluss vom 22.10.2014, Az. V ZB 124/14

5. Zivilsenat | REWIS RS 2014, 1998

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Gegenstand

Haft zur Sicherung von Überstellungsverfahren im Anwendungsbereich der Dublin-III-Verordnung: Haftgrund der Fluchtgefahr nach unerlaubter Einreise in Ansehung der aktuellen Gesetzeslage in Deutschland


Leitsatz

§ 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AufenthG entspricht nicht den Anforderungen von Art. 2 Buchstabe n Dublin-III-Verordnung, wonach die objektiven Kriterien, die Fluchtgefahr begründen, gesetzlich festgelegt sein müssen. Nach der derzeitigen Gesetzeslage in der Bundesrepublik Deutschland kann die Haft zur Sicherung von Überstellungsverfahren nach Art. 28 Dublin-III-Verordnung daher nicht auf eine unerlaubte Einreise des Betroffenen gestützt werden.

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde wird festgestellt, dass der Beschluss der 5. Zivilkammer des [X.] (Oder) vom 27. Februar 2014 und der Beschluss des [X.] vom 11. Februar 2014 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.

Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden der [X.] auferlegt.

Der Gegenstandswert des [X.] beträgt 5.000 €.

Gründe

I.

1

Der Betroffene wurde in der Nacht des 3. Februar 2014 von Beamten der beteiligten Behörde in dem [X.] auf der Fahrt nach [X.] ohne Reisedokumente und ohne Aufenthaltstitel für [X.] angetroffen und festgenommen. Eine Recherche im [X.] ergab, dass er schon im [X.] in [X.] Asyl beantragt hatte. Die beteiligte Behörde verfügte daraufhin mit Bescheid vom 4. Februar 2014 die Zurückschiebung des Betroffenen nach [X.]. Auf Antrag der beteiligten Behörde ordnete das Amtsgericht im Wege der einstweiligen Anordnung Haft zur Sicherung der Zurückschiebung bis zum 11. Februar 2014 an. Aus der Haft beantragte der Betroffene am 5. Februar schriftlich Asyl. Das zuständige [X.] richtete am 7. Februar 2014 ein [X.] an die [X.] Behörden.

2

Auf weiteren Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht im Hauptsacheverfahren mit Beschluss vom 11. Februar 2014 weitere Haft zur Sicherung der Zurückschiebung bis zum 20. März 2014 angeordnet und diese Anordnung auf die Haftgründe der unerlaubten Einreise und der Fluchtgefahr gestützt. Die Beschwerde des Betroffenen hat das [X.] mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Haft nur bis zum 18. März 2014 angeordnet werde, dem Tag, an dem die Zurückschiebung des Betroffenen erfolgen sollte und auch erfolgt ist. Dagegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde, mit welcher er die Feststellung beantragt, durch die angeordnete Haft in seinen Rechten verletzt worden zu sein.

II.

3

Das Beschwerdegericht meint, der Haftanordnung habe ein zulässiger Haftantrag zugrunde gelegen. Der Haftgrund der Entziehungsabsicht nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 [X.] liege vor. Einer Anwendung dieser Vorschrift stehe Art. 28 der Verordnung ([X.]) Nr. 604/2013 des [X.] und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung) ([X.]. Nr. L 180 S. 31 - fortan Dublin-III-Verordnung) nicht entgegen.

III.

4

Diese Erwägungen halten einer rechtlichen Prüfung im Ergebnis nicht stand. Die Haftanordnung des Amtsgerichts und ihre eingeschränkte Aufrechterhaltung durch das Beschwerdegericht haben den Betroffenen in seinen Rechten verletzt, weil die Anordnung von Haft zur Sicherung der Zurückschiebung im Anwendungsbereich der Dublin-III-Verordnung bis zu einer gesetzlichen Neuordnung der Haftgründe weder auf den Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 [X.] noch auf den der unerlaubten Einreise nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 [X.] gestützt werden kann.

5

1. Die Dublin-III-Verordnung ist auf den vorliegenden Fall anzuwenden. Sie gilt nach ihrem Art. 49 Abs. 2 Satz 1 Fall 2 auch, wenn das Gesuch um Aufnahme oder Wiederaufnahme nach dem 1. Januar 2014 gestellt wurde, hier mit dem [X.] des zuständigen [X.]s an Polen am 7. Februar 2014.

6

2. Die Gründe für die Anordnung von Haft zur Sicherung einer Aufnahme oder Wiederaufnahme eines Betroffenen durch einen anderen Mitgliedstaat der [X.] (Überstellungshaft) regelt Art. 28 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung mit unmittelbarer Geltung in den Mitgliedstaaten der [X.], ausgenommen [X.] (Erwägungsgründe 41 f.), eigenständig und abschließend. Zugelassen ist die Haft nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift nur, wenn Fluchtgefahr besteht, nicht aus anderen Gründen (Senat, Beschluss vom 26. Juni 2014 – [X.], NVwZ 2014, 1397 Rn. 11 f.).

7

3. Fluchtgefahr ist nach Art. 2 Buchstabe n der Dublin-III-Verordnung das Vorliegen von Gründen im Einzelfall, die auf objektiven Kriterien beruhen und zu der Annahme Anlass geben, dass sich ein Antragsteller, ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, gegen den ein Überstellungsverfahren läuft, dem Verfahren möglicherweise durch Flucht entziehen könnte. Diese objektiven Gründe sind nach der genannten Vorschrift durch den nationalen Gesetzgeber selbst festzulegen.

8

a) Den Zweck dieser Festlegung hat die [X.] in der Begründung des Entwurfs der Verordnung wie folgt beschrieben (veröffentlicht in [X.]. 965/08 S. 6):

„Um sicherzustellen, dass die Ingewahrsamnahme von Asylbewerbern auf der Grundlage des [X.] nicht willkürlich erfolgt, wird eine begrenzte Zahl von Gründen für die Ingewahrsamnahme vorgeschlagen.“

9

Damit sind aber nicht unterschiedliche Haftgründe nach dem Modell des § 62 Abs. 3 Satz 1 [X.] gemeint. Vielmehr soll der nationale Gesetzgeber Tatbestände festlegen, die die Fluchtgefahr als einzigen unionsrechtlich anerkannten Haftgrund zur Sicherung der (Wieder-) Aufnahme Betroffener durch andere Mitgliedstaaten der [X.] konkretisieren und so eine gleichmäßige Anwendung sicherstellen (Senat, Beschluss vom 26. Juni 2014 - [X.], NVwZ 2014, 1397 Rn. 14).

b) Dieser Aufgabe kann der nationale Gesetzgeber nicht nur durch die Schaffung neuer gesetzlicher Tatbestände, sondern auch durch die Beibehaltung bestehender Tatbestände genügen. Das setzt aber voraus, dass die bestehenden Haftgründe im nationalen Recht so ausgestaltet sind, dass sie nur bei Vorliegen von objektiven, gesetzlich festgelegten Kriterien verwirklicht werden, welche die Annahme einer Fluchtgefahr begründen (Senat, Beschluss vom 26. Juni 2014 - [X.], NVwZ 2014, 1397 Rn. 31). Diese Eignung hat der Senat bei den [X.] nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und 3 [X.] bejaht, bei dem - nicht näher konkretisierten - Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 [X.] dagegen verneint (Senat, Beschluss vom 26. Juni 2014 - [X.], NVwZ 2014, 1397 Rn. 23, 31).

c) Auch der Haftgrund der unerlaubten Einreise nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 [X.] ist, was der Senat bislang offen gelassen hat (Senat, Beschluss vom 26. Juni 2014 - [X.], NVwZ 2014, 1397 Rn. 29 f.) und jetzt entscheidet, zur Konkretisierung der Fluchtgefahr nach Art. 28 und Art. 2 Buchstabe n der Dublin-III-Verordnung ungeeignet, weshalb die von der beteiligten Behörde aufgeworfene Frage, ob der Asylantrag des Betroffenen die Annahme einer unerlaubten Einreise hinderte, dahinstehen kann.

Allerdings können die Umstände einer unerlaubten Einreise im Sinne von Art. 2 Buchstabe n der Dublin-III-Verordnung zu der Annahme Anlass geben, der Betroffene könnte sich der Aufnahme oder Wiederaufnahme durch den ersuchten Mitgliedstaat durch Flucht entziehen. Darauf stellt § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 [X.] aber gerade nicht ab. [X.] ist eine Einreise nach § 14 Abs. 1 [X.] vielmehr, wenn sie ohne gültigen Pass oder Passersatz (Nummer 1), ohne den nach § 4 [X.] erforderlichen Aufenthaltstitel (Nummer 2), mit einem erschlichenen Visum (Nummer 2a) oder entgegen einem Einreiseverbot (Nummer 3) erfolgt. Die näheren tatsächlichen Umstände der Einreise spielen keine Rolle. § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 [X.] kann auch nicht mit der Maßgabe angewendet werden, dass die näheren Umstände der Einreise, etwa der Einsatz von Schleusern, erwarten lassen, dass sich der Betroffene der Zurückschiebung durch Flucht entzieht. Welche Umstände dafür maßgeblich sein sollen, soll nach Art. 2 Buchstabe n der Dublin-III-Verordnung gerade nicht der [X.] im Einzelfall, sondern der Gesetzgeber durch (typisierende) Beschreibung von Fallgruppen festlegen.

4. Der Senat ist nicht verpflichtet, die Sache dem Gerichtshof der [X.] nach Art. 267 A[X.]V vorzulegen. Der dem nationalen Gesetzgeber mit Art. 2 Buchstabe n der Dublin-III-Verordnung erteilte Konkretisierungsauftrag ergibt sich aus der Vorschrift klar und eindeutig. Bei solchen Vorschriften besteht eine unionsrechtliche Pflicht zur Vorlage nicht ([X.], Urteil vom 6. Oktober 1982 – [X.]. 283/81 - [X.], Slg. 1982, 3415 Rn. 16; weitere Nachweise bei [X.] in Riesenhuber, [X.] Methodenlehre, 2. Aufl., § 23 Rn. 31).

5. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen.

[X.][X.]                    Czub

                    Weinland                                [X.]

Meta

V ZB 124/14

22.10.2014

Bundesgerichtshof 5. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Frankfurt (Oder), 27. Februar 2014, Az: 15 T 25/14

Art 2 Buchst n EUV 604/2013, Art 28 EUV 604/2013, § 62 Abs 3 S 1 Nr 1 AufenthG, § 62 Abs 3 S 1 Nr 5 AufenthG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 22.10.2014, Az. V ZB 124/14 (REWIS RS 2014, 1998)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 1998

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