Bundesgerichtshof, Beschluss vom 07.07.2016, Az. V ZB 106/14

5. Zivilsenat | REWIS RS 2016, 8564

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Gegenstand

Anordnung von Haft zur Sicherung von Überstellungsverfahren: Fehlende gesetzliche Festlegung der objektiven Kriterien für die Annahme einer Fluchtgefahr


Leitsatz

Auch vor Inkrafttreten von § 2 Abs. 15 AufenthG konnte Haft zur Sicherung von Überstellungsverfahren nach Art. 28 Dublin-III-Verordnung nicht auf der Grundlage von § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 AufenthG angeordnet werden (Bestätigung von Senat, Beschluss vom 26. Juni 2014, V ZB 31/14, NVwZ 2014, 1397 Rn. 31).

Tenor

Dem Betroffenen wird im Rahmen der bereits bewilligten Verfahrenskostenhilfe Rechtsanwalt Dr. von [X.] beigeordnet.

Auf die Rechtsbeschwerde wird festgestellt, dass die Beschlüsse des [X.] vom 13. Mai 2014 und des [X.] - Zivilkammer 5 - vom 2. Juni 2014 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.

Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden dem [X.] auferlegt.

Der Gegenstandswert des [X.] beträgt 5.000 €.

Gründe

I.

1

Der Beschwerdeführer, ein [X.] Staatsangehöriger, reiste am 22. März 2014 in die [X.] ein und stellte wenige Tage später einen Asylantrag. Auf ein entsprechendes Ersuchen erklärten die [X.] Behörden am 1. April 2014 ihre Zustimmung zur Wiederaufnahme des Betroffenen. Dessen Asylantrag lehnte das [X.] mit Bescheid vom 7. April 2014 als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung nach [X.] an.

2

Am 13. Mai 2014 sollte die Rücküberstellung nach [X.] erfolgen. Sie scheiterte daran, dass sich der Betroffene am [X.] völlig entkleidete und erklärte, nicht nach [X.] fliegen zu wollen. Gleichzeitig forderte er, nach [X.] abgeschoben zu werden. Auf Antrag der beteiligten Behörde ordnete das Amtsgericht zunächst im Wege der einstweiligen Anordnung [X.] für den 13. Mai 2014 an.

3

Mit weiterem Beschluss vom 13. Mai 2014 hat das Amtsgericht [X.] bis längstens 6. Juni 2014 angeordnet. Die Beschwerde hat das [X.] mit Beschluss vom 2. Juni 2014 zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, mit der er - nachdem er nach [X.] rücküberstellt worden ist - die Feststellung der Verletzung seiner Rechte durch das Amts- und [X.] erreichen will.

II.

4

Das Beschwerdegericht meint, die Voraussetzungen für die Anordnung von [X.] seien gegeben. Im Besonderen lägen die Haftgründe des § 62 Abs. 3 Satz 1 Nrn. 4 und 5 [X.] in der damaligen Fassung vor. Der Beschwerdeführer habe sich mit seiner Weigerung, nach [X.] rücküberstellt zu werden, in sonstiger Weise der Abschiebung entzogen. Zugleich sei aufgrund dieses Verhaltens eine erhebliche Fluchtgefahr gegeben. Art. 28 der Verordnung ([X.]) Nr. 604/2013 des [X.] und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedsstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist ([X.]. Nr. L 31 - fortan Dublin-III-Verordnung), stehe dem nicht entgegen. Bis zu einer Umsetzung dieser Verordnung gelte die bisherige gesetzliche Regelung, die auf eine Definition des Begriffs Fluchtgefahr verzichte und es dem Tatrichter überlasse, diesen Begriff auszufüllen.

III.

5

Die gemäß § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 FamFG statthafte und auch im Übrigen (§ 71 FamFG) zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.

6

1. Rechtsfehlerhaft geht das Berufungsgericht davon aus, dass auch unter Geltung des Art. 28 Dublin-III-Verordnung die Haft zur Sicherstellung einer Überstellung des Betroffenen in den für dessen Schutzantrag zuständigen Mitgliedstaat nach der damals geltenden Fassung des § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 [X.] angeordnet werden durfte. Die Vorschrift entsprach nicht den Anforderungen von Art. 2 Buchstabe n Dublin-III-Verordnung, wonach die objektiven Kriterien, die Fluchtgefahr begründen, gesetzlich festgelegt sein müssen. In dem Zeitraum vom 1. Januar 2014 - ab diesem Tag war die Dublin-III-Verordnung nach ihrem Art. 49 Abs. 2 Satz 1 für alle Gesuche um Aufnahme oder Wiederaufnahme anwendbar (vgl. [X.], Beschluss vom 11. Februar 2016 - [X.], juris Rn. 5 f.) - bis zum 1. August 2015 - dem Tag des Inkrafttretens des Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und Aufenthaltsbeendigung vom 27. Juli 2015 ([X.] I 1386), mit dem der Haftgrund der Fluchtgefahr neu geregelt wurde - konnte daher Haft zur Sicherung von Überstellungsverfahren nach Art. 28 Dublin-III-Verordnung nicht auf Fluchtgefahr oder eine Entziehungsabsicht des Betroffenen im Sinne des § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 [X.] aF gestützt werden (vgl. [X.], Beschluss vom 26. Juni 2014 - [X.], NVwZ 2014, 1397 Rn. 9 ff.; Beschluss vom 22. Oktober 2014 - [X.], NVwZ 2015, 607 Rn. 10).

7

2. Nichts anderes gilt für den von dem Beschwerdegericht weiter angenommenen Haftgrund des § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 [X.].

8

Überstellungshaft nach Art. 28 Dublin-III-Verordnung kann angeordnet werden, wenn die Haftgründe im nationalen Recht so ausgestaltet sind, dass sie nur bei Vorliegen von objektiven, gesetzlich festgelegten Kriterien verwirklicht werden, welche die Annahme einer Fluchtgefahr begründen. Der [X.] hat - zeitlich nach dem angegriffenen Beschluss des [X.] - entschieden, dass dies in [X.] allein bei den in § 62 Abs. 3 Satz 1 Nrn. 2 und 3 [X.] genannten [X.] (Wechsel des Aufenthaltsorts ohne Angabe einer Anschrift unter der der Ausländer erreichbar ist; vom Ausländer zu vertretendes Nichtantreffen an dem von der Behörde angegebenen Ort an dem für die Überstellung angekündigten Termin) der Fall ist ([X.], Beschluss vom 26. Juni 2014 - [X.], NVwZ 2014, 1397 Rn. 31). Der Haftgrund des § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 [X.] setzt demgegenüber lediglich voraus, dass sich der Ausländer in sonstiger Weise der Abschiebung entzogen hat. Er ist damit im Sinne einer Generalklausel formuliert und enthält keine objektiven Kriterien, die festlegen, in welchen Fällen von einer Entziehung in sonstiger Weise auszugehen ist. Damit genügt auch dieser Haftgrund nicht den unionsrechtlichen Vorgaben.

III.

9

Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83 Abs. 2, § 430 FamFG, Art. 5 Abs. 5 [X.] analog. Die Festsetzung des [X.] folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.

[X.]     

        

RiBGH [X.] ist infolge
Krankheit an der Unterschrift
gehindert.
[X.], den 17. August 2016

        

     Weinland

                 

Die Vorsitzende
[X.]

                 
        

Kazele     

        

     Haberkamp     

        

Meta

V ZB 106/14

07.07.2016

Bundesgerichtshof 5. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Schwerin, 2. Juni 2014, Az: 5 T 153/14

Art 2 Buchst n EUV 604/2013, Art 28 Abs 2 EUV 604/2013, § 2 Abs 15 AufenthG, § 62 Abs 3 S 1 Nr 4 AufenthG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 07.07.2016, Az. V ZB 106/14 (REWIS RS 2016, 8564)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 8564

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