Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 22.10.2014, Az. V ZB 124/14

V. Zivilsenat | REWIS RS 2014, 1941

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Entscheidungstext


Formatierung

Dieses Urteil liegt noch nicht ordentlich formatiert vor. Bitte nutzen Sie das PDF für eine ordentliche Formatierung.

PDF anzeigen


BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS

V [X.]

vom

22. Oktober 2014

in der Überstellungshaftsache

Nachschlagewerk:
ja
[X.]Z:
nein
[X.]R:
ja
Verordnung ([X.]) Nr. 604/2013 ([X.]) Art. 28; [X.] § 62 Abs. 3 Satz 1
§ 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 [X.] entspricht nicht den Anforderungen von Art.
2 Buchstabe n Dublin-III-Verordnung, wonach die objektiven Kriterien, die Fluchtgefahr begründen, gesetzlich festgelegt sein müssen. Nach der derzeitigen Gesetzeslage in der [X.] kann die Haft zur Sicherung von Überstellungsver-fahren nach Art. 28 Dublin-III-Verordnung daher nicht auf eine unerlaubte Einreise des Betroffenen gestützt werden.

[X.], Beschluss vom 22. Oktober 2014 -
V [X.] -
LG [X.] (Oder)

[X.]

-
2
-
Der V.
Zivilsenat des [X.] hat am 22. Oktober
2014
durch die
Vorsitzende
[X.]in
Dr.
[X.], die [X.]in Prof. Dr. [X.], den [X.] [X.], die [X.]in Weinland und den [X.]
Dr. Kazele
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde wird festgestellt, dass der Beschluss der 5. Zivilkammer des Landgerichts [X.] (Oder) vom 27.
Februar 2014 und der Beschluss des Amtsgerichts Eisenhütten-stadt vom 11. Februar 2014 den
Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.

Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden der [X.] auferlegt.

Der Gegenstandswert des [X.] beträgt

Gründe:

I.

Der Betroffene wurde in der Nacht des 3. Februar 2014 von Beamten der beteiligten Behörde in dem [X.]-Warschau-Expresszug
auf der Fahrt nach [X.] ohne Reisedokumente und ohne Aufenthaltstitel für [X.] ange-troffen und
festgenommen. Eine Recherche im [X.]RODAC-Register ergab, 1
-
3
-
dass er schon im [X.] in [X.] Asyl beantragt hatte. Die beteiligte Behörde verfügte
daraufhin mit Bescheid vom 4. Februar 2014 die Zurück-schiebung des Betroffenen nach [X.]. Auf Antrag der beteiligten Behörde ordnete das Amtsgericht im Wege der einstweiligen Anordnung Haft zur Siche-rung der Zurückschiebung bis zum 11. Februar 2014 an. Aus der Haft beantrag-te der Betroffene am 5. Februar schriftlich Asyl. Das zuständige [X.] richtete am 7. Februar 2014 ein [X.] an die [X.] Behörden.

Auf weiteren
Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht im Hauptsacheverfahren
mit Beschluss vom 11. Februar 2014 weitere Haft zur Sicherung der Zurückschiebung bis zum 20. März 2014 angeordnet
und diese Anordnung auf die Haftgründe der unerlaubten Einreise und der Fluchtgefahr gestützt. Die Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht mit der [X.] zurückgewiesen, dass die Haft nur bis zum 18. März 2014 angeordnet [X.], dem Tag, an dem die Zurückschiebung des Betroffenen erfolgen sollte und auch erfolgt ist. Dagegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbesch[X.], mit welcher er die Feststellung beantragt, durch die angeordnete Haft in seinen Rechten verletzt worden zu sein.

II.

Das Beschwerdegericht meint, der Haftanordnung habe ein zulässiger Haftantrag zugrunde gelegen. Der Haftgrund der Entziehungsabsicht nach §
62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 [X.] liege vor. Einer Anwendung dieser Vorschrift [X.]. 28 der Verordnung ([X.]) Nr. 604/2013 des [X.] und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Dritt-2
3
-
4
-
staatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung) ([X.]. Nr. L 180 S. 31

fortan Dublin-III-Verordnung) nicht entgegen.

III.

Diese Erwägungen halten einer rechtlichen Prüfung im Ergebnis nicht stand. Die Haftanordnung des Amtsgerichts und ihre eingeschränkte [X.] durch das Beschwerdegericht haben den Betroffenen in seinen Rech-ten verletzt, weil die Anordnung von Haft zur Sicherung der Zurückschiebung im Anwendungsbereich der Dublin-III-Verordnung bis zu einer gesetzlichen Neu-ordnung der Haftgründe weder auf den Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 [X.] noch auf den der unerlaubten Einreise nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 [X.] gestützt werden kann.

1. Die Dublin-III-Verordnung ist auf den vorliegenden Fall anzuwenden. Sie gilt nach ihrem Art. 49 Abs. 2 Satz 1 Fall 2 auch, wenn das Gesuch um Auf-nahme oder Wiederaufnahme nach dem 1. Januar 2014 gestellt wurde, hier mit dem [X.] des zuständigen [X.]s an Polen am 7.
Februar 2014.

2. Die Gründe für die Anordnung von Haft zur Sicherung einer Aufnahme oder Wiederaufnahme eines Betroffenen durch einen anderen Mitgliedstaat der [X.] (Überstellungshaft) regelt Art. 28 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung mit unmittelbarer
Geltung in den Mitgliedstaaten der [X.], ausgenommen [X.] (Erwägungsgründe 41 f.), eigenständig und abschließend. Zugelassen ist die Haft nach dem eindeutigen Wortlaut der Vor-4
5
6
-
5
-
schrift nur, wenn Fluchtgefahr besteht, nicht aus anderen Gründen
(Senat, [X.] vom 26. Juni 2014

[X.], NVwZ 2014, 1397 Rn. 11 f.).

3. Fluchtgefahr ist nach Art. 2 Buchstabe n der Dublin-III-Verordnung das Vorliegen von Gründen im Einzelfall, die auf objektiven Kriterien beruhen und zu
der Annahme Anlass geben, dass sich ein Antragsteller, ein [X.] oder Staatenloser, gegen den ein Überstellungsverfahren läuft, dem Verfahren möglicherweise durch Flucht entziehen könnte. Diese objektiven Gründe sind nach der genannten Vorschrift durch den nationalen Gesetzgeber selbst festzulegen.

a) Den Zweck dieser Festlegung hat die [X.] in der Begründung des Entwurfs der Verordnung wie folgt beschrieben (veröffentlicht in [X.]. 965/08 S. 6):

ellen, dass die Ingewahrsamnahme von Asylbewerbern auf der Grundlage des [X.] nicht willkürlich erfolgt, wird ei-ne begrenzte Zahl von Gründen für die Ingewahrsamnahme vorgeschla-

Damit sind aber nicht unterschiedliche Haftgründe nach dem Modell des § 62 Abs. 3 Satz 1 [X.] gemeint. Vielmehr soll der nationale Gesetzgeber Tatbestände festlegen, die die Fluchtgefahr als einzigen unionsrechtlich aner-kannten Haftgrund zur Sicherung der (Wieder-) Aufnahme Betroffener durch andere Mitgliedstaaten der [X.] konkretisieren und so eine gleichmäßige Anwendung sicherstellen
(Senat, Beschluss vom 26. Juni 2014

[X.], NVwZ 2014, 1397 Rn. 14).

b) Dieser Aufgabe
kann der nationale Gesetzgeber nicht nur durch die Schaffung neuer gesetzlicher Tatbestände, sondern auch durch die Beibehal-7
8
9
10
-
6
-
tung bestehender Tatbestände genügen. Das setzt aber voraus, dass die be-stehenden
Haftgründe im nationalen Recht so ausgestaltet sind, dass sie nur bei Vorliegen von objektiven, gesetzlich festgelegten Kriterien verwirklicht [X.]n, welche die Annahme einer Fluchtgefahr begründen (Senat, Beschluss vom 26. Juni 2014

[X.], NVwZ 2014, 1397 Rn. 31). Diese Eignung hat der Senat bei den [X.] nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und 3 [X.] be-jaht, bei dem

nicht näher konkretisierten

Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß §
62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 [X.] dagegen verneint (Senat, Beschluss vom 26.
Juni 2014

[X.], NVwZ 2014, 1397 Rn. 23, 31).

c) Auch der Haftgrund der unerlaubten Einreise nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 [X.] ist, was der Senat bislang offen gelassen hat (Senat, Beschluss vom 26. Juni 2014

[X.], NVwZ 2014, 1397 Rn. 29 f.) und jetzt ent-scheidet, zur Konkretisierung der Fluchtgefahr nach Art. 28 und Art. 2 Buchsta-be n der Dublin-III-Verordnung ungeeignet, weshalb die von der beteiligten Be-hörde aufgeworfene Frage, ob der Asylantrag des Betroffenen die Annahme einer unerlaubten Einreise hinderte, dahinstehen kann.

Allerdings können die Umstände einer unerlaubten Einreise im Sinne von Art. 2 Buchstabe n der Dublin-III-Verordnung zu der Annahme Anlass geben, der Betroffene
könnte sich der Aufnahme oder Wiederaufnahme durch den er-suchten Mitgliedstaat durch Flucht entziehen. Darauf stellt § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 [X.] aber gerade nicht ab. [X.] ist eine Einreise nach § 14 Abs.
1 [X.] vielmehr, wenn sie ohne gültigen Pass oder Passersatz (Nummer 1), ohne den nach §
4 [X.] erforderlichen Aufenthaltstitel (Nummer 2), mit einem erschlichenen Visum (Nummer 2a) oder entgegen ei-nem Einreiseverbot (Nummer 3) erfolgt. Die näheren tatsächlichen Umstände der Einreise spielen
keine Rolle. § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 [X.] kann auch 11
12
-
7
-
nicht mit der Maßgabe angewendet werden, dass die näheren Umstände der Einreise, etwa der Einsatz von Schleusern,
erwarten lassen, dass sich der Be-troffene der Zurückschiebung durch Flucht entzieht. Welche Umstände dafür maßgeblich sein sollen, soll nach Art. 2 Buchstabe n der Dublin-III-Verordnung gerade nicht der [X.] im Einzelfall, sondern der Gesetzgeber durch (typisie-rende) Beschreibung von Fallgruppen festlegen.

4. Der Senat ist nicht verpflichtet, die Sache dem Gerichtshof der Euro-päischen [X.] nach Art. 267 A[X.]V vorzulegen. Der
dem nationalen Gesetz-geber mit Art. 2 Buchstabe n der Dublin-III-Verordnung erteilte Konkretisie-rungsauftrag ergibt sich aus der Vorschrift klar und eindeutig. Bei solchen [X.] besteht eine unionsrechtliche Pflicht zur Vorlage nicht ([X.], Urteil vom 6. Oktober 1982

Rs. 283/81 -
C.I.L.F.I.T., Slg.
1982, 3415 Rn. 16; weite-re
Nachweise bei [X.] in Riesenhuber, [X.], 2. Aufl., § 23 Rn. 31).
13
-
8
-

5. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 74 Abs. 7 FamFG ab-gesehen.

[X.]

[X.]

Czub

Weinland

Kazele
Vorinstanzen:
[X.], Entscheidung vom 11.02.2014 -
23 [X.] -

LG [X.] (Oder), Entscheidung vom 27.02.2014 -
15 [X.] -

14

Meta

V ZB 124/14

22.10.2014

Bundesgerichtshof V. Zivilsenat

Sachgebiet: ZB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 22.10.2014, Az. V ZB 124/14 (REWIS RS 2014, 1941)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 1941

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

V ZB 124/14 (Bundesgerichtshof)

Haft zur Sicherung von Überstellungsverfahren im Anwendungsbereich der Dublin-III-Verordnung: Haftgrund der Fluchtgefahr nach unerlaubter Einreise …


V ZB 31/14 (Bundesgerichtshof)

Anforderungen an die gesetzliche Festlegung der Haftgründe für die Anordnung von Haft zur Sicherung von …


V ZB 31/14 (Bundesgerichtshof)


V ZB 10/16 (Bundesgerichtshof)


V ZB 24/16 (Bundesgerichtshof)

Rücküberstellungshaftsache: Anordnung von Sicherungshaft bei Annahme von Fluchtgefahr wegen Identitätstäuschung; aus der Sicherungshaft gestellter Asylantrag


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

V ZB 124/14

V ZB 31/14

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.