Bundesgerichtshof, Urteil vom 18.02.2014, Az. VI ZR 51/13

6. Zivilsenat | REWIS RS 2014, 7815

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Gegenstand

Arbeitsunfall bei Handschachtungsarbeiten zum Aushub eines Grabens: Ausschluss des Arbeitgeberprivilegs bei Nichteinhaltung von Sicherheitsbestimmungen infolge mangelnder Kenntnis des Bauleiters


Leitsatz

Von den für die Sicherheit der Beschäftigten auf einer Arbeitsstelle Verantwortlichen ist die Kenntnis der zu beachtenden Sicherheitsbestimmungen zu fordern. Die mangelnde Kenntnis ist ein für die Beurteilung des Verschuldensgrades wesentlicher Umstand.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 9. Zivilsenats des [X.] vom 8. Januar 2013 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

1

Die Klägerin, ein gesetzlicher Unfallversicherer, nimmt die Beklagte auf Erstattung von Aufwendungen in Anspruch, die ihr infolge eines Arbeitsunfalls des bei ihr versicherten [X.]. entstanden sind. Sie begehrt außerdem die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zum Ersatz der durch den Arbeitsunfall verursachten künftigen Aufwendungen.

2

Am Morgen des 25. Juni 2007 teilte die Beklagte, die Leiterin des [X.] war, den im Rahmen eines 1 €-Jobs als Hilfsarbeiter zugewiesenen [X.]. dazu ein, einen Graben, den der Baggerfahrer B. ausheben sollte, von Hand nachzuschachten. Der Graben war ca. 1,80 m tief, am Boden 0,70 m und an der oberen [X.] 1,80 m breit. Eine Sicherung gegen nachrutschendes Erdreich war nicht vorhanden. Als [X.]., der über eine Leiter in den Graben gestiegen war, dort arbeitete, löste sich ein Erdbrocken, der [X.]. unter sich begrub. [X.]. wurde schwer verletzt.

3

Der Klägerin entstanden Kosten für die Rettung, ärztliche Behandlung und wegen der Minderung der Erwerbsfähigkeit des [X.]. Sie nimmt die Beklagte in Anspruch, weil es - nach ihrer Auffassung - die Beklagte grob fahrlässig versäumt habe, für die gebotene Absicherung des Grabens gegen abrutschendes Erdreich zu sorgen.

4

Das [X.] hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht das Urteil des [X.]s aufgehoben und die Klage abgewiesen. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.

Entscheidungsgründe

I.

5

Nach Auffassung des Berufungsgerichts hat die Beklagte den Versicherungsfall nicht grob fahrlässig im Sinne von § 110 Abs. 1 [X.] verursacht. Sie habe darauf vertrauen dürfen, dass der [X.], der schon länger bei der [X.] beschäftigt und ihr als zuverlässig bekannt gewesen sei, vor einer Handschachtung die notwendigen Sicherungsmaßnahmen veranlassen werde. Eine andere Bewertung sei vorliegend nicht deshalb gerechtfertigt, weil Unfallverhütungsvorschriften im Raum stünden, die sich mit Vorrichtungen zum [X.]utz der Arbeiter vor tödlichen Gefahren befassten und somit elementare Sicherungspflichten zum Inhalt hätten. Hier könne der objektive Pflichtenverstoß ein solches Gewicht haben, dass im Einzelfall der [X.]luss auf ein subjektiv gesteigertes Verschulden gerechtfertigt sei. Die Beklagte habe indes nicht selbst dem [X.]utz eines Mitarbeiters dienende Regelungen außer [X.] gelassen, sondern allenfalls den Hinweis an den [X.] versäumt, diese Regelungen einzuhalten, sobald eine Handschachtung erfolge. Das Unterlassen eines solchen Hinweises stelle jedenfalls nicht eine grobe Fahrlässigkeit dar.

II.

6

Die Ausführungen des Berufungsgerichts begegnen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

7

1. Zutreffend ist allerdings der rechtliche Ansatz des Berufungsgerichts, dass nach § 110 Abs. 1 [X.] Personen, deren Haftung nach den §§ 104 bis 107 [X.] beschränkt ist, den Sozialversicherungsträgern für die infolge des Versicherungsfalls entstandenen Aufwendungen dann haften, wenn sie den Versicherungsfall vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt haben, jedoch nur bis zur Höhe des zivilrechtlichen [X.]adensersatzanspruchs. Für die Auslegung des Begriffs der groben Fahrlässigkeit kann auf die zu § 640 Abs. 1 [X.] aF ergangene Rechtsprechung zurückgegriffen werden. Die Vorschrift in § 110 Abs. 1 [X.] hat im Vergleich zu § 640 Abs. 1 [X.] aF, an dessen Stelle sie getreten ist, an dem haftungsauslösenden [X.] nichts geändert (vgl. Senatsurteil vom 30. Januar 2001 - [X.], [X.], 985, 986; [X.] Urteil vom 15. Mai 1997 - [X.], NJW 1998, 298, 301; BT-Drucks. 13/2204, [X.]). Grobe Fahrlässigkeit setzt einen objektiv schweren und subjektiv nicht entschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt voraus. Diese Sorgfalt muss in ungewöhnlich hohem Maß verletzt und es muss dasjenige unbeachtet geblieben sein, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Ein objektiv grober Pflichtenverstoß rechtfertigt für sich allein noch nicht den [X.]luss auf ein entsprechend gesteigertes personales Verschulden, nur weil ein solches häufig damit einherzugehen pflegt. Vielmehr erscheint eine Inanspruchnahme des haftungsprivilegierten [X.] im Wege des Rückgriffs nur dann gerechtfertigt, wenn eine auch subjektiv schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung vorliegt, die das in § 276 Abs. 2 BGB bestimmte Maß erheblich überschreitet (vgl. Senatsurteile vom 30. Januar 2001 - [X.], aaO und vom 12. Januar 1988 - [X.], [X.], 474, 475 mwN sowie [X.], Urteil vom 8. Juli 1992 - [X.], [X.]Z 119, 147, 149). Dies hat das Berufungsgericht im Ansatzpunkt richtig gesehen.

8

2. Auch trifft die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts zu, dass sich die grobe Fahrlässigkeit der Beklagten nicht allein mit der Verletzung der geltenden Unfallverhütungsvorschriften begründen lässt. Nicht jeder Verstoß gegen die einschlägigen Unfallverhütungsvorschriften ist schon als ein grob fahrlässiges Verhalten im Sinne des § 110 [X.] zu werten (vgl. Senatsurteile vom 8. Mai 1984 - [X.], [X.], 775, 776; vom 21. Oktober 1980 - [X.], [X.], 75; vom 22. Juni 1971 - [X.], [X.], 1019, 1020 und vom 8. Oktober 1968 - [X.], [X.], 39, 40). Vielmehr ist auch dann, wenn solche Verstöße gegen [X.] vorliegen, eine Wertung des Verhaltens des [X.] geboten, in die auch die weiteren Umstände des Einzelfalles einzubeziehen sind. So kommt es darauf an, ob es sich um eine Unfallverhütungsvorschrift handelt, die sich mit Vorrichtungen zum [X.]utz der Arbeiter vor tödlichen Gefahren befasst und elementare Sicherungspflichten zum Inhalt hat. Auch spielt insbesondere eine Rolle, ob der [X.]ädiger nur unzureichende Sicherungsmaßnahmen getroffen oder von den vorgeschriebenen [X.]utzvorkehrungen völlig abgesehen hat, obwohl die [X.] eindeutig waren. Im letzteren Fall kann der objektive Verstoß gegen elementare Sicherungspflichten ein solches Gewicht haben, dass der [X.]luss auf ein auch subjektiv gesteigertes Verschulden gerechtfertigt ist (vgl. Senatsurteil vom 18. Oktober 1988 - [X.], [X.], 109, 110).

9

3. Der Senat vermag indes dem Berufungsgericht in der Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall nicht zu folgen.

a) Zwar ist die tatrichterliche Entscheidung, ob den [X.]ädiger der Vorwurf grober Fahrlässigkeit trifft, mit der Revision nur beschränkt angreifbar. Der Nachprüfung unterliegt aber, ob der Tatrichter den Begriff der groben Fahrlässigkeit verkannt oder bei der Beurteilung des [X.]es wesentliche Umstände außer Betracht gelassen hat (vgl. Senatsurteile vom 30. Januar 2001 - [X.], aaO, 985 und vom 18. Oktober 1988 - [X.], aaO, 109 mwN). Wie die Revision mit Recht beanstandet (§ 286 ZPO), hat das Berufungsgericht die vom Gesetz vorgeschriebene Gesamtwürdigung nicht in der gebotenen Weise vorgenommen (vgl. Senatsurteil vom 8. Mai 1984 - [X.], aaO). Auch sind für die Beurteilung des [X.]es der Beklagten wesentliche Umstände noch nicht geklärt.

b) Die im Streitfall einschlägigen Unfallverhütungsvorschriften für Bauarbeiten [X.] C 22 regeln in § 6 Abs. 3, § 28 Abs. 1 iVm der [X.] (Stand 10.02) die an die Standsicherheit von Gräben zu stellenden Anforderungen. Sie haben elementare Sicherungspflichten zum Inhalt, die sich mit Vorrichtungen zum [X.]utz der Arbeiter vor tödlichen Gefahren befassen. Die Regelungen in § 6 Abs. 3, § 28 Abs. 1 [X.] C 22 sehen vor, dass Wände von Baugruben und Gräben so abzuböschen, zu verbauen oder anderweitig zu sichern sind, dass sie während der einzelnen Bauzustände standsicher sind. Nach den allgemeinen Vorschriften der [X.] dürfen Gräben in mindestens steifem bindigem Boden unter bestimmten Voraussetzungen nur bis zu einer Tiefe von 1,75 m senkrecht abgeschachtet werden. Anderenfalls sind sie, wenn dort Beschäftigte tätig werden, auch in [X.] durch Böschung oder Verbau zu sichern. Dass die Beklagte aufgrund der ihr obliegenden Bauaufsicht für die danach gebotene Sicherung des Arbeiters [X.]. Sorge zu tragen hatte und keine [X.]utzvorkehrungen getroffen hat, steht nicht in Streit.

aa) Mit Recht wendet sich die Revision dagegen, dass das Berufungsgericht das Unterlassen der Beklagten damit entschuldigt hat, diese habe auf die Zuverlässigkeit des [X.] dürfen. Konkrete Umstände oder Maßnahmen, die ein solches Vertrauen, dass der Baggerführer [X.] die Unfallverhütungsvorschriften beachten würde, begründen konnten, hat das Berufungsgericht nicht festgestellt. Dies folgt nicht bereits daraus, dass [X.] allgemein als zuverlässig bekannt und schon länger bei der [X.] beschäftigt war.

bb) Das Berufungsgericht durfte auch nicht unberücksichtigt lassen, dass sich die Beklagte selbst darauf beruft, keine Kenntnis von den geltenden Vorschriften gehabt zu haben. Zutreffend wertet die Revision die fehlende Kenntnis von den zu beachtenden Sicherheitsanforderungen der für die Bauaufsicht zuständigen Beklagten als einen für die Beurteilung des [X.]es wesentlichen Umstand. Von der Beklagten sind die Kenntnisse zu fordern, die für die Erfüllung der ihr obliegenden Aufgaben notwendig sind. Hätte sich die Beklagte in der gebotenen Weise informiert, hätte sie gewusst, dass zur Abstützung des Grabens bei einer Tiefe von 1,80 m unter Umständen Baumaterial erforderlich sein würde, das dem Baggerführer [X.] zur Verfügung stehen musste. Waren die für die Abstützung erforderlichen Materialien nicht auf der Baustelle vorhanden, durfte die Beklagte nicht darauf vertrauen, dass [X.] die notwendige Verbauung vor der Handschachtung durch [X.]. anbringen würde. Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung ist mithin die Unkenntnis der Beklagten für den Unfall kausal geworden.

cc) Die Beklagte vermag nicht zu entlasten, dass sie zum Zeitpunkt des Unfalls nicht an der Baustelle anwesend war. Auch das Berufungsgericht nimmt an, dass die Ausführung der Handschachtung für die Beklagte absehbar war. Als verantwortliche Bauleiterin musste sie danach die beim [X.] in Gräben mögliche Gefährdung erkennen und einer solchen rechtzeitig vorbeugen.

4. Danach ist das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Bei der Frage der Anrechnung eines Mitverschuldens des [X.]. wird das Berufungsgericht zu erwägen haben, ob von [X.]. in der konkreten Situation als 1 €-Jobber überhaupt erwartet werden durfte, dass er den Anweisungen ihm sachkundig erscheinender Personen nicht Folge leistet.

[X.]

              [X.]                       von [X.]

Meta

VI ZR 51/13

18.02.2014

Bundesgerichtshof 6. Zivilsenat

Urteil

Sachgebiet: ZR

vorgehend OLG Dresden, 8. Januar 2013, Az: 9 U 1158/12

§ 110 Abs 1 SGB 7, § 276 BGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 18.02.2014, Az. VI ZR 51/13 (REWIS RS 2014, 7815)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 7815

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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