LG Potsdam, Urteil vom 01.12.2021, Az. 6 S 21/21

6. Zivilkammer | REWIS RS 2021, 722

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Zahlungsansprüche aus Veröffentlichung von Firmendaten


Tenor

  1. Auf die Berufung der Klägerin wird Ziffer 2 des Tenors des Urteils des [X.] vom 30.03.2021, [X.]. 34 C 444/19, abgeändert und wie folgt neu gefasst:
    • Auf die Widerklage wird die Klägerin verurteilt, an die Beklagte 850,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 15.02.2020 zu zahlen.
    • Im Übrigen wird die Widerklage abgewiesen.
    • Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
  2. Die Kosten der Berufung werden der Klägerin auferlegt.
  3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

I.

1

Die Klägerin verlangt Vergütung für die Veröffentlichung von Firmendaten der Beklagten im [X.]. Die Beklagte macht mit der Widerklage die Rückzahlung einer solchen für einen vorangehenden Zeitraum bereits gezahlten Vergütung geltend.

2

[X.] ([X.]. 34 [X.] 444/19) hat das [X.] den zulasten der Beklagten erteilten Vollstreckungsbescheid des [X.] vom [X.] ([X.]. 19-2631717-0-1) über eine Hauptforderung in Höhe von 1.011,50 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aufgehoben und die Klage abgewiesen. Auf die Widerklage der Beklagten hat das Amtsgericht die Klägerin zur Zahlung von 850,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 15.02.2020 verurteilt.

3

Das der Beklagten von der Klägerin für ihre Leistungen unterbreitete Angebot ist in großgedruckten Buchstaben mit der Bezeichnung "Firmenregister für Industrie Handwerk und Handel" überschrieben. In wesentlich kleinerer Schrift ist auf der rechten Seite eingerückt als "Herausgeber" ein "Verlag für gewerbliche Auskunftsmedien / [X.]", dessen "vollständige Anbieterkennzeichnung nach § 35a GmbHG umseitig" zu finden ist, ausgewiesen. Die an die Beklagte von der Klägerin gesandte Rechnung und auch die entsprechende Mahnung sind in Großbuchstaben mit dem Wort M. überschrieben und als Absender ist rechts in kleinerer Schrift die [X.] aufgeführt. Angaben zu dem Sitz der Gesellschaft, dem zuständigen Handelsregister, der Handelsregisternummer, dem Geschäftsführer und der Umsatzsteueridentifikationsnummer sind unten mittig auf dem jeweiligen Schreiben angegeben.

4

Wegen der weiteren tatsächlichen Feststellungen und der vom Amtsgericht gefundenen Begründung wird auf den Tatbestand und die Entscheidungsgründe des vorgenannten Urteils des Amtsgerichts verwiesen.

5

Die Klägerin verfolgt mit der Berufung den ihr durch den Vollstreckungsbescheid titulierten Anspruch weiter und wehrt sich gegen die Widerklage der Beklagten.

6

Die Klägerin ist der Auffassung, dass das zur Begründung des Urteils des Amtsgerichts herangezogene Urteil des [X.] auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar sei, da sich das im dort zugrundeliegenden Fall verwendete Formular erheblich von dem im vorliegenden Fall verwendeten unterscheide. Insbesondere sei die Zahlungsverpflichtung nicht in einer Längsspalte neben den von den Kunden auszufüllenden Daten enthalten, sondern in einem darunter befindlichen Kästchen.

7

Die Klägerin ist weiterhin der Auffassung, dass es sich bei der [X.] in dem von ihr verwendeten Angebot nicht um eine überraschende Klausel im Sinne des § 305c BGB handele. Sie verweist darauf, dass auf die Kostenpflicht ihres Angebots an mehreren Stellen hingewiesen werde und die Kostenpflicht nicht im Fließtext versteckt sei. Sie meint, damit würden dem Adressaten des Formulars die anfallenden Kosten ausreichend vor Augen geführt. Die Beklagte habe nicht von einem kostenfreien Angebot ausgehen dürfen, da gewerbliche Dienstleistungen in der Regel kostenpflichtig seien. Die Klägerin ist insbesondere der Auffassung, dass sie nicht den Eindruck eines behördlichen Schreibens erweckt habe, da ihr Angebot als Absenderin die Klägerin als GmbH und nicht als behördliches Register ausweise.

8

Die Klägerin beantragt,

unter Abänderung des Urteils des [X.] vom 04.03.2021 (34 [X.] 344/19) den Vollstreckungsbescheid des [X.] 19-2631717-0-1 aufrechtzuerhalten sowie die Widerklage abzuweisen.

9

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

10

Die Beklagte macht neben ihren erstinstanzlich vorgebrachten Einwendungen nun auch geltend, dass das Rechtsgeschäft nichtig sei, da es sich um ein wucherähnliches Rechtsgeschäft im Sinne des § 138 Abs. 1 BGB handele. Sie behauptet, die von der Klägerin verlangte Vergütung sei [X.] überhöht, da eine vergleichbare Leistung auf dem Markt anderweit zu einem Bruchteil der Kosten, wenn nicht gar kostenlos erlangt werden könne.

II.

11

[X.] ist zulässig, hat aber in der Sache nur einen geringen Erfolg.

12

I.

13

[X.] ist zulässig, insbesondere erfolgte die Berufungsbegründung fristgemäß.

14

[X.] ist am 07.04.2021 der Beklagten zugestellt worden, die Berufung ist mit [X.] vom 04.05.2021 am selben Tag und damit fristgerecht im Sinne des § 520 Abs. 2 ZPO beim [X.] eingegangen.

15

Sie ist auch rechtzeitig begründet worden. Zwar ist die Berufungsbegründung erst am 21.06.2021 und damit nach Ablauf der zunächst zwei Monate währenden Begründungsfrist eingegangen. Dies kann aber der Klägerin nicht angelastet werden, denn sie hatte mit rechtzeitig vor Fristablauf eingegangenem [X.] die Verlängerung der Frist um einen Monat beantragt. Dieser Antrag ist aufgrund eines gerichtlichen Versehens nicht verbeschieden worden, ihm wäre aber stattzugeben gewesen, denn der Klägervertreter hatte zur Begründung des Antrags auf "erheblichen [X.]" verwiesen, was als Begründung für eine erstmalige Fristverlängerung nach ständiger Praxis der Kammer ausreicht, so dass der Klägervertreter auf die Fristverlängerung vertrauen durfte.

16

II.

17

[X.] ist hinsichtlich der Höhe des mit der Widerklage geltend gemachten [X.] begründet, im Übrigen ist sie unbegründet.

18

Dabei kann dahinstehen, ob die Regelung betreffend die Zahlungsverpflichtung der Beklagten in dem Angebot der Klägerin nach Maßgabe der Vorschriften über Allgemeine Geschäftsbedingungen unwirksam ist, denn jedenfalls ist sie sittenwidrig und daher gemäß § 138 Abs. 1 BGB nichtig, so dass die Klägerin keine Zahlung verlangen kann und ein Rechtsgrund für die erfolgte Zahlung der Beklagten fehlt, die Beklagte sie also wegen ungerechtfertigter Bereicherung nach Maßgabe des § 812 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. BGB zurückverlangen kann.

19

Es liegt ein wucherähnliches Rechtsgeschäft vor.

20

Die Beklagte ist nicht mit dem erstmalig in der Berufungsinstanz vorgebrachten, auf § 138 BGB zielenden Vortrag ausgeschlossen. Dabei kann dahinstehen, ob der mit der [X.] in den Vordergrund gerückte Einwand der Sittenwidrigkeit überhaupt ein neues Verteidigungs- bzw. – mit Blick auf die Widerklage – [X.] ist, denn auch gemessen an § 531 Abs. 2 Nr. 1 ZPO ist der entsprechende Sachvortrag nicht zurückzuweisen. Neues Vorbringen ist insbesondere zulässig von Seiten eines im ersten Rechtszug siegreichen Berufungsbeklagten, wenn es den [X.] wegen einer von der ersten Instanz abweichenden tatsächlichen oder rechtlichen Beurteilung vermeiden soll ([X.], Beschluss vom 29.05.2018, [X.]). So liegt der Fall hier, die Beklagte war in der ersten Instanz siegreich und hat den Sittenwidrigkeitseinwand im Berufungsverfahren deshalb geltend gemacht, weil sie in Betracht ziehen musste, dass die Kammer der auf § 305c BGB gestützten Argumentation des Amtsgerichts nicht folgen würde.

21

Ein Rechtsgeschäft ist gemäß § 138 Abs. 1 BGB sittenwidrig, wenn es gegen das [X.] aller billig und gerecht Denkenden verstößt (std. Rspr.; [X.], Urteil vom 19.07.2004, [X.]).

22

So liegt der Fall hier.

23

Es kann dahinstehen, ob dies hier schon deshalb zu vermuten ist, weil der von der Klägerin verlangte Preis mehr als das Doppelte des Marktpreises beträgt, so dass keine Klärung erforderlich ist, ob der [X.] ausreicht und zutrifft. Es kommt nicht einmal auf die konkrete Bestimmung des Marktwerts der Leistung an, denn auch ohne ein solches Missverhältnis kann ein Vertrag nach § 138 Abs. 1 BGB sittenwidrig sein, wenn ein Vertragspartner in subjektiv vorwerfbarer Weise die Unerfahrenheit des anderen ausnutzt und weitere sittlich verwerfliche Umstände hinzutreten ([X.], Urteil vom 25.03.1966, [X.]). Hier zeigt die gebotene Gesamtschau, dass jedenfalls ein an den Umständen gemessen sehr hoher Preis verlangt wird und die Klägerin gerade die Unerfahrenheit des Beklagten und vergleichbarer Gewerbetreibender gezielt ausnutzt, um diesen Preis geltend machen zu können.

24

Auch wenn der Marktwert einer solchen Leistung im Zeitpunkt des hier gegenständlichen Vertragsschlusses zwischen den Parteien streitig ist, bedarf es dazu keiner Beweisaufnahme. Das Vorhandensein eines Marktwerts erleichtert in vielen Fällen die Bestimmung, ob ein Missverhältnis vorliegt, es ist aber nicht zwingend nötig den Marktwert einer Leistung zu bestimmen, um ein Missverhältnis annehmen zu können. Eine mit dem Angebot der Klägerin vergleichbare Leistung wird anderweit (Gelbe Seiten) gerichtsbekannt gratis zur Verfügung gestellt und der Betrag in Höhe von 1.011,50 € brutto pro Jahr ist, gemessen an dem üblichen Gründungskapital vieler, gerade unerfahrener Gewerbetreibender, sehr hoch. Ob das hier gegebene Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung sogar als "besonders grobes" Missverhältnis die Vermutung sittenwidrigen Verhaltens nach sich zieht (s. beispielhaft [X.], Urteil vom 19.01.2001, [X.]), kann dahinstehen. Die Kammer sieht weitere schwerwiegende Anhaltspunkte für eine verwerfliche Gesinnung der Klägerin, die im Rahmen der gebotenen Gesamtschau den Sittenwidrigkeitsvorwurf rechtfertigen. Der [X.] betont im Kontext wucherähnlicher Geschäfte, dass er das subjektive Merkmal der verwerflichen Gesinnung als zur Feststellung der Sittenwidrigkeit "unerlässlich" ansieht ([X.], Urteil vom [X.], [X.]/08). Gerade diese vom [X.] für entscheidend erachtete verwerfliche Gesinnung tritt bei der Klägerin in besonderem Maße hervor.

25

Die Klägerin zielt durch verschiedene Ansätze auf eine Irreführung ihrer Geschäftspartner, um diese zum Vertragsabschluss unter Ausnutzung ihrer mangelnden Erfahrung im Geschäftsverkehr zu bewegen. Sie erweckt mit ihrem auch gegenüber der Beklagten verwendeten Anschreiben den Anschein eines behördlichen Auftretens, gestaltet dieses gezielt so, dass die Wahrscheinlichkeit, dass der Adressat den für ihn entscheidenden Inhalt – nämlich den objektiv deutlich über dem Wert der tatsächlich erbrachten Leistung liegenden Preis wirklich zur Kenntnis nimmt, gegenüber anderen, üblichen Gestaltungsformen von [X.] jedenfalls deutlich herabgesetzt ist, und spricht darüber hinaus zielgerichtet einen Adressatenkreis an, bei dem sie davon ausgehen darf, dass dieser aus geschäftlicher Unerfahrenheit diese für ihn entscheidenden Inhalte des Anschreibens nicht tatsächlich zur Kenntnis nehmen wird.

26

Entgegen der Darstellung der Klägerin erweckt ihr Anschreiben den Anschein eines behördlichen Schreibens. Das Aufnahmeformular ist groß mit der Bezeichnung "Firmenregister für Industrie Handwerk und Handel überschrieben." In wesentlich kleinerer Schrift findet sich auf der rechten Seite eingerückt als "Herausgeber" ein "Verlag für gewerbliche Auskunftsmedien / [X.]". Der Verlag für gewerbliche Auskunftsmedien ist nicht Bestandteil der Firma der Klägerin, wird aber noch vor der Information, dass es sich um eine GmbH handelt, platziert. Die gemäß § 35a GmbHG erforderlichen Angaben finden sich dann "umseitig". Diese Gestaltung bestärkt den Eindruck, dass so wenige Angaben wie möglich, die auf eine GmbH schließen lassen, auf dem Aufnahmeformular erscheinen sollten. Unterstützt wird dieser Eindruck noch durch den gewählten sperrigen Schrifttyp, der an einen Steuerbescheid erinnert. Der Eindruck eines behördlichen Schreibens erhöht die Gefahr, dass jedenfalls unerfahrene und flüchtig lesende Adressaten nicht erkennen, dass es sich nicht um ein Angebot zum Abschluss eines Vertrages, welches sie ohne Begründung zurückweisen können, handelt, sondern dem Irrglauben erliegen, es handele sich um einen Bescheid, der ihnen eine Verpflichtung zur Mitwirkung (ähnlich wie die Pflicht zur Eintragung ins Handelsregister) auferlegt, der sie sich nicht entziehen können. Eine eventuelle Kostenpflicht wird dann als unvermeidbare Folge akzeptiert.

27

Weiterhin hat die Klägerin die Hinweise zur dieser Kostenpflicht bewusst in die unmittelbare Nähe zu den Hinweisen über das [X.]/die [X.] gerückt. Der Zusatz [X.]/[X.] führt, gerade wenn er wie hier als Einleitung zu einer hervorgehobenen Passage des "Kleingedruckten" dient, nach der Erfahrung der Kammer vielfach dazu, dass der Leser eines Schriftstücks nicht mehr die gebotene Aufmerksamkeit walten lässt, die Passage vielmehr in der Annahme, es handle sich nur um Datenschutzhinweise, übergeht. Seit Einführung der [X.] sind Kunden bei jedem Vertragsabschluss mit teilweise sehr umfangreichen Hinweisen zur Datenerhebung, -verarbeitung und -speicherung konfrontiert. Die entsprechenden Hinweise/Vorschriften sind in aller Regel nicht verhandelbar, sondern werden den Kunden zur Kenntnis vorgelegt. Eine vertiefte Lektüre wird nicht erwartet und dürfte auch von kaum einem Kunden vorgenommen werden. Damit besteht eine objektiv hohe Wahrscheinlichkeit, dass ein erheblicher Teil der Adressaten den Text nicht tatsächlich zur Kenntnis nimmt. Gerade diesen Effekt macht sich die Klägerin zu Nutze, indem sie die Höhe der anfallenden Kosten in die unmittelbare Nähe zu den Ausführungen zu den Hinweisen über das [X.]/die [X.] setzt. In diesem Umstand liegt eine Parallele zu dem von dem Amtsgericht zur Urteilsbegründung herangezogenen Urteil des [X.] ([X.], Urteil vom 26.07.2012, [X.]). Im Fall des [X.] lag die Unwirksamkeit der Klausel aufgrund ihres überraschenden [X.]harakters im Sinne des § 305c Abs. 1 BGB maßgeblich in der Gestaltung des Formulars, welche die Aufmerksamkeit des Lesers von den entscheidenden, die Höhe der Vergütung enthaltenden, Textstellen ablenkte, begründet. So auch hier. Die von der Klägerin bewusst gewählte Platzierung hält viele Leser von einer aufmerksamen Lektüre des Absatzes ab und dient somit der bewussten Verschleierung der Kostenpflicht. Die Zielgerichtetheit dieses Vorgehens wird besonders deutlich darin, dass die Klägerin zwar auch an weiteren, vom Adressaten eher tatsächlich rezipierten Stellen ihres Formulars auf die "Kostenpflichtigkeit" des Registereintrags hinweist, die beträchtliche Höhe der erwarteten Vergütung aber ausschließlich in der genannten Passage unter der auf den Datenschutz bezogenen Überschrift anführt.

28

Soweit die Klägerin einwendet, dass es sich bei dem streitgegenständlichen Geschäft um ein Geschäft unter Kaufleuten handele, ändert dies nichts an der Beurteilung der Sittenwidrigkeit. Voraussetzung für eine Annahme der Sittenwidrigkeit ist nicht – wie die Klägerin ausführt – die Ausnutzung einer Schwächesituation, Voraussetzung ist eine verwerfliche Gesinnung, welche durch die objektive Ausnutzung einer Schwächesituation indiziert sein, sich aber auch aus anderen Umständen ergeben kann. Freilich ist in Rechnung zu stellen, dass die Beklagte als Formkaufmann Vollkaufmann ist. Die [X.] der Benachteiligten begründet in aller Regel die widerlegliche Vermutung, dass der Begünstigte nicht in verwerflicher Weise eine persönliche oder geschäftliche Unterlegenheit des Benachteiligten ausgenutzt hat ([X.], Urteil vom 6.05.2003, [X.]).

29

Diese Vermutung ist hier aber durch die besonderen Umstände des Falles widerlegt. Zu bedenken ist, worin diese Vermutung ihre Grundlage hat. Ein Vollkaufmann erscheint weniger schutzwürdig, da er sich im Geschäftsleben auskennt. Aufgrund seiner täglichen Praxis ist ihm geläufig, dass ihn gegebenenfalls auch wenig vorteilhafte bis unseriöse Angebote erreichen. Er hat, gegebenenfalls durch schlechte Erfahrungen, gelernt Angebote aufmerksam zu studieren und deren Inhalt gewissenhaft zu prüfen, da der Markt umkämpft und stets auch mit Angeboten, die ihn zu übervorteilen suchen, zu rechnen ist. Diese Eigenschaften sind das Resultat eines stetigen Lern- und Erfahrungsprozesses, die die widerlegliche Vermutung rechtfertigen, dass der Begünstigte nicht in verwerflicher Weise eine persönliche oder geschäftliche Unterlegenheit des Benachteiligten ausgenutzt hat. Diese geringere Schutzbedürftigkeit des Kaufmanns beruht allerdings nicht auf seiner Eintragung in das Handelsregister, sondern auf seiner tatsächlichen Erfahrung im Geschäftsverkehr. Sie fehlt daher typischerweise bei Personen, die ihre Tätigkeit im Geschäftsleben gerade erst aufgenommen haben, so wie dies etwa bei einem erheblichen Teil derjenigen Personen der Fall ist, die neu in das Handelsregister eingetragen worden sind.

30

Ist damit der neu auf dem Markt auftretende Kaufmann in vielen Fällen nicht wesentlich erfahrener als der Verbraucher und somit in ähnlicher Weise objektiv schutzbedürftig wie dieser, so ist ungeachtet der grundsätzlich gegen den Vollkaufmann sprechenden Vermutung eine verwerfliche Gesinnung hinter einem diesem gegenüber abgegebenen, wesentliche Inhalte des angebotenen Vertragsschlusses verschleiernden Angebot wie dem vorliegenden der Klägerin nach Meinung der Kammer jedenfalls dann anzunehmen, wenn der Anbieter sich zielgerichtet gerade an solche Kaufleute wendet, bei denen mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass sie dieser Gruppe der eher unerfahrenen Kaufleute angehören.

31

Gerade dies ist hier der Fall. Die Klägerin schreibt in ihrem Angebot selbst, dass sie von der "Firmengründung" durch die gesetzliche Veröffentlichung im Handelsregister erfahren hat. Insofern wählt die Klägerin potentielle Kunden durch aufmerksame Lektüre des Handelsregisters im Hinblick auf erfolgte Neugründungen aus. Auf diese treffen die zuvor skizzierten Eigenschaften, die einem Formkaufmann widerleglich unterstellt werden dürfen jedoch vielfach (noch) nicht zu. Vielmehr ist davon auszugehen, dass es einen Übergangszeitraum zwischen der Eintragung im Handelsregister und dem Erwerb der typischen Fähigkeiten und Eigenschaften eines Formkaufmanns gibt. Genau diesen möchte sich die Klägerin zu Nutze machen indem sie Unternehmer, die zwar objektiv Kaufleute sind, subjektiv aber noch nicht über deren Eigenschaften verfügen, als Zielobjekte ihres Auftragsformulars auswählt. Das Geschäftsmodell der Klägerin zielt bewusst darauf ab wenig geschäftserfahrene neue Marktteilnehmer anzuschreiben und ihnen unter Vorspiegelung eines behördlichen Schreibens eine für sie im Wesentlichen unbrauchbare Dienstleistung zu einem hohen Preis zu vermitteln.

32

Gegen die Einordnung dieses Verhaltens der Klägerin als sittenwidrig sprechen auch nicht Gründe des [X.]. Zwar darf der Rechtsverkehr im Ausgangspunkt darauf vertrauen, dass, wer in das Handelsregister eingetragen ist, auch tatsächlich über die bei [X.] typischerweise vorliegenden Kenntnisse und Erfahrungen verfügt, mithin nicht in besonderer Weise schutzwürdig ist. Der Betroffene muss sich entsprechend behandeln lassen und kann regelmäßig keine "Sonderbehandlung" erwarten, weil ihm im Einzelfall solche Erfahrungen und Kenntnisse fehlen mögen. Dieser Verkehrsschutz, der dem allgemeinen Rechtsverkehr zugutekommt, greift aber gerade nicht gegenüber einem Marktteilnehmer, der, wie nach dem Ausgeführten die Klägerin, bewusst gerade solche Kaufleute anspricht, bei denen von diesen Kenntnissen und Erfahrungen nicht ausgegangen werden kann.

33

Bei Vornahme der zur Ermittlung der Sittenwidrigkeit erforderlichen Gesamtwürdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck des Rechtsgeschäfts (std. Rspr.; [X.], Urteil vom 21.12.1960, [X.], [X.], Urteil vom [X.], [X.]) verstößt die Klägerin mit ihrem Vorgehen gegen das [X.] aller billig und gerecht Denkenden. Zum einen durch die Auswahl der Adressaten ihres Angebots in Form von mit hoher Wahrscheinlichkeit geschäftlich wenig erfahrenen Personen sowie zum anderen einem irreführenden täuschenden Auftreten nach außen, was besonders deutlich bei einem Vergleich der Gestaltung des Angebots und der an die Beklagte gesandten Rechnung und Mahnung zu Tage tritt. Sowohl bei der Rechnung als auch bei der Mahnung tritt die Klägerin auf einmal nicht mehr als Verlag für gewerbliche Auskunftsmedien, sondern nur noch unter ihrer eigentlichen Firma auf. Auch die Angaben gemäß § 35a GmbHG finden sich nicht mehr umseitig, sondern auf der ersten Seite der Rechnung/Mahnung. Es handelt sich somit um eine besondere Art der Darstellung, die nur für das Aufnahmeformular verwendet worden ist, um den Eindruck eines behördlichen Schreibens zu erwecken. Nachdem dieser Eindruck nicht mehr benötigt wird, da er seinen Zweck erfüllt hat, nämlich potentielle Kunden über die Identität der Klägerin in die Irre zu führen, tritt die Klägerin anders auf.

34

Der mit der Widerklage verfolgte Zinsanspruch ist der Höhe nach gemäß § 288 Abs. 1 Satz 2 BGB nur 5 Prozentpunkte über dem jeweiligen Basiszinssatz zuzusprechen. § 288 Abs. 2 BGB greift nicht ein, da es sich weder um eine Entgeltforderung noch um ein Rechtsgeschäft handelt, sondern um eine Forderung aus Bereicherungsrecht.

35

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 91 Abs. 1, 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO.

36

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 708 Nr. 10 ZPO.

Zur besseren Lesbarkeit wurden ggf. Tippfehler entfernt oder Formatierungen angepasst.

Meta

6 S 21/21

01.12.2021

LG Potsdam 6. Zivilkammer

Urteil

Sachgebiet: S

vorgehend AG Potsdam, Urteil v. 30. März 2021, 34 C 444/19

Zitier­vorschlag: LG Potsdam, Urteil vom 01.12.2021, Az. 6 S 21/21 (REWIS RS 2021, 722)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 722

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

1 HK O 1790/16 (LG Regensburg)

Zur Beurteilung der Sittenwidrigkeit von Gewerberaummietverträgen


VII ZR 95/16 (Bundesgerichtshof)

Aufklärungspflicht des Kfz-Sachverständigen gegenüber dem Geschädigten eines Verkehrsunfalls hinsichtlich der Erstattungsfähigkeit seiners Honorars


144 C 178/21 (Amtsgericht Köln)


VII ZR 95/16 (Bundesgerichtshof)


22 U 81/13 (Oberlandesgericht Hamm)


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

VI ZR 370/17

VII ZR 262/11

II ZR 426/17

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.