Bundessozialgericht, Urteil vom 29.03.2022, Az. B 11 AL 30/21 R

11. Senat | REWIS RS 2022, 4010

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Schwerbehindertenrecht - Beschäftigungspflicht der Arbeitgeber - Anrechnung Beschäftigter auf die Zahl der Pflichtarbeitsplätze für schwerbehinderte Menschen - Zulassung der Anrechnung bei Teilzeitbeschäftigung von weniger als 18 Stunden wöchentlich - Antragserfordernis - Zulassung der Anrechnung für die Vergangenheit


Leitsatz

Die nicht von einem Antrag des Arbeitgebers abhängige Zulassung der Anrechnung schwerbehinderter Menschen mit einer Beschäftigung von weniger als 18 Stunden wöchentlich auf einen Pflichtarbeitsplatz kann auch mit Wirkung für die Vergangenheit erfolgen.

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des [X.] vom 30. September 2020 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

Der Streitwert für alle Rechtszüge wird auf 755 Euro festgesetzt.

Tatbestand

1

[X.] ist die rückwirkende Zulassung der Anrechnung des Arbeitsplatzes einer schwerbehinderten Arbeitnehmerin mit einem Beschäftigungsumfang von weniger als 18 Wochenstunden auf einen Pflichtarbeitsplatz für das Kalenderjahr 2013.

2

Die Klägerin zeigte der beklagten [X.] im März 2014 die zur Berechnung des Umfangs der Beschäftigungspflicht und der Ausgleichsabgabe notwendigen Daten für das Kalenderjahr 2013 an; jahresdurchschnittlich waren 22 Arbeitsplätze vorhanden. In dem beigefügten Verzeichnis der schwerbehinderten Beschäftigten war die 1952 geborene Arbeitnehmerin, bei der 2013 ein Grad der Behinderung von 90 festgestellt worden war und die Tätigkeiten mit einem Beschäftigungsumfang von weniger als 18 Wochenstunden ausgeübt hatte, aufgeführt. Deren Teilzeitbeschäftigung sei wegen Art und Schwere ihrer Behinderung notwendig und die Anrechnung auf einen Pflichtarbeitsplatz auch für das Kalenderjahr 2013 zuzulassen (Antrag vom 14.5.2014; Schreiben vom 25.6.2014).

3

Die Beklagte ließ die Anrechnung der Arbeitnehmerin auf einen Pflichtarbeitsplatz ab dem Monat der Antragstellung zu. Eine rückwirkend über den 1.5.2014 hinausgehende Zulassung der Anrechnung für die Vergangenheit wurde abgelehnt (Bescheid vom [X.]; [X.] vom 18.11.2014; Widerspruchsbescheid vom 5.3.2015).

4

Infolge der fehlenden Anrechenbarkeit der Arbeitnehmerin setzte das [X.] aufgrund der für das Kalenderjahr 2013 offenen Ausgleichsabgabe von 690 Euro Säumniszuschläge iHv 65 Euro fest.

5

Das [X.] hat der Klage stattgegeben und die Beklagte unter Abänderung der Bescheide vom [X.] und 18.11.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5.3.2015 verurteilt, die "Feststellung des Pflichtteilarbeitsplatzes" für die Arbeitnehmerin als Schwerbehinderte für das Kalenderjahr 2013 und für die [X.] vom 1.1. bis 30.4.2014 vorzunehmen (Urteil vom [X.]). Auf die Berufung der Beklagten hat das L[X.] das Urteil des [X.] hinsichtlich des Verurteilungszeitraums vom 1.1. bis 30.4.2014 aufgehoben, die Klage insoweit abgewiesen und die Berufung im Übrigen zurückgewiesen (Urteil vom 30.9.2020). Die Zulassung der Anrechnung sei nicht an eine förmliche Antragstellung gebunden und könne auch rückwirkend für das Kalenderjahr 2013 erfolgen. Dies ergebe sich aus dem in § 80 Abs 1 bis 3 [X.]B IX aF geregelten Verfahren. Darin habe der Gesetzgeber erkennbar die Entscheidung über in der Vergangenheit liegende abgeschlossene Sachverhalte vorgesehen. Hieraus folge das fehlende Rechtsschutzbedürfnis für die Zulassung der Anrechnung im laufenden Beschäftigungsverhältnis für die [X.] vom 1.1. bis 30.4.2014.

6

Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 75 Abs 2 Satz 3 und § 80 Abs 2 [X.]B IX aF. Die Zulassung der Anrechnung auf einen Pflichtarbeitsplatz durch Verwaltungsakt sei Voraussetzung für die Eintragung in das Verzeichnis nach § 80 Abs 1 [X.]B IX aF. Liege die erforderliche Zulassung nicht vor, sei das Verzeichnis nicht richtig geführt worden. Berücksichtige der Arbeitgeber diese Arbeitnehmerin in der Anzeige, sei auch die Anzeige nicht richtig erstattet worden. Die Angaben eines Arbeitgebers in seiner auf das vorangegangene Kalenderjahr bezogenen Anzeige nach § 80 Abs 2 [X.]B IX aF könnten daher nicht als ein auf die Zulassung der Anrechnung gerichteter (obligatorischer) Antrag nach § 75 Abs 2 Satz 3 [X.]B IX aF ausgelegt werden. Die Möglichkeit einer rückwirkenden Zulassung der Anrechnung sei, im Unterschied zu der Regelung des § 69 Abs 1 Satz 2 [X.]B IX aF, nicht normiert.

7

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des [X.] vom 30. September 2020 aufzuheben, soweit es die Berufung der Beklagten zurückgewiesen hat, sowie das Urteil des [X.] vom 18. April 2017 vollständig aufzuheben und die Klage insgesamt abzuweisen.

8

Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

9

Sie hält das Urteil des L[X.] für zutreffend.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der [X.] ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 [X.]G). Das [X.] hat ihre Berufung, soweit verfahrensgegenständlich, zu Recht zurückgewiesen.

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der Bescheid vom [X.] in der Fassung des Teilabhilfebescheids vom 18.11.2014, der kraft Gesetzes nach § 86 Halbsatz 1 [X.]G in das Widerspruchsverfahren einbezogen wurde, in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5.3.2015 (§ 95 [X.]G), mit dem die Beklagte die rückwirkende Zulassung der Anrechnung der Arbeitnehmerin auf einen Pflichtarbeitsplatz abgelehnt hat. Ihr Begehren verfolgt die Klägerin zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 [X.]G), da die Entscheidung über die Zulassung durch Verwaltungsakt erfolgt (vgl [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.], [X.], 6. Aufl 2022, § 158 RdNr 6; [X.] in [X.], [X.], § 158 RdNr 9, Stand 1.10.2018). In der Sache ist das Verfahren, mangels eigener Revision der Klägerin, beschränkt auf das Kalenderjahr 2013.

Das zuständige Integrationsamt (§ 77 Abs 4 Satz 1 und 2 iVm § 102 Abs 1 Satz 1 [X.] [X.] aF; heute § 160 Abs 4 Satz 1 iVm § 185 Abs 1 Satz 1 [X.] [X.]) war zum vorliegenden Rechtsstreit nicht notwendig beizuladen (§ 75 Abs 2 Alt 1 [X.]G). Denn die Frage der Rechtmäßigkeit des Bescheids über die Zulassung der Anrechnung auf einen Pflichtarbeitsplatz nach § 75 Abs 2 Satz 3 [X.] aF (heute § 158 Abs 2 Satz 3 [X.]) ist allenfalls Vorfrage für einen möglichen Bescheid über die Ausgleichsabgabe des Integrationsamts nach § 77 Abs 4 Satz 2 [X.] aF (vgl B[X.] vom [X.] B 11 [X.] 1/19 R - [X.] 4-3250 § 154 [X.] Rd[X.]3 mwN; B[X.] vom [X.] - B 11 [X.] 3/20 R - [X.], 278 = [X.] 4-3250 § 156 [X.], Rd[X.]2; zur Kompetenzverteilung zwischen der [X.] und den [X.] auch [X.] vom 14.4.2021 - 5 C 13.19, NVwZ-RR 2021, 897 Rd[X.]3 ff).

Die fehlende Beiladung der Arbeitnehmerin begründet ebenfalls keinen von Amts wegen zu beachtenden Verfahrensmangel. Die Zulassungsentscheidung nach § 75 Abs 2 Satz 3 [X.] aF entfaltet unmittelbare Rechtswirkungen allein gegenüber dem Arbeitgeber (§ 77 Abs 1 Satz 1 und 2 und § 156 Abs 1 [X.] bis 3 [X.] aF; heute § 160 Abs 1 Satz 1 und 2 und § 238 Abs 1 [X.] bis 3 [X.]; vgl [X.] in [X.]/[X.], GK-[X.], § 75 Rd[X.]4, Stand März 2014).

Weil sich die angefochtenen Bescheide auf das Kalenderjahr 2013 beziehen, ist noch das [X.] in seiner bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung ([X.] aF) mit den besonderen Regelungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen (Schwerbehindertenrecht) in §§ 68 ff [X.] aF anwendbar. Erst durch Art 1 des Bundesteilhabegesetzes ([X.]) vom 23.12.2016 ([X.] 3234) sind diese Vorschriften zum 1.1.2018 - weitgehend wortgleich - in Teil 3 des [X.] (§ 151 ff [X.]) verschoben worden.

Die verfahrensgegenständlichen Bescheide sind im streitbefangenen Umfang rechtswidrig und die Klägerin ist hierdurch beschwert (§ 54 Abs 2 Satz 1 [X.]G). Die Klägerin hat nach § 75 Abs 2 Satz 3 [X.] aF rückwirkend für das Kalenderjahr 2013 einen Anspruch auf Zulassung der Anrechnung der Arbeitnehmerin auf einen Pflichtarbeitsplatz. Dies folgt aus dem systematischen Zusammenhang der § 75 Abs 2 Satz 3 und § 80 Abs 1 bis 3 [X.] aF sowie dem Sinn und Zweck der Beschäftigungspflicht und der Ausgleichsabgabe.

Nach § 75 Abs 2 Satz 3 [X.] aF lässt die [X.] die Anrechnung eines schwerbehinderten Menschen, der weniger als 18 Stunden wöchentlich beschäftigt wird, auf einen Pflichtarbeitsplatz zu (§ 71 Abs 1, § 73 Abs 1 [X.] aF; heute § 154 Abs 1, § 156 Abs 1 [X.]), wenn die Teilzeitbeschäftigung wegen Art oder Schwere der Behinderung notwendig ist. Nach § 80 Abs 2 Satz 1 [X.] aF (heute § 163 Abs 2 Satz 1 [X.]) hat ein Arbeitgeber der für seinen Sitz zuständigen [X.] spätestens bis zum 31. März für das vorangegangene Kalenderjahr diejenigen Daten anzuzeigen, die zur Berechnung des Umfangs der Beschäftigungspflicht notwendig sind. Das vom Arbeitgeber eigenverantwortlich laufend zu führende Verzeichnis der bei ihm beschäftigten schwerbehinderten, ihnen gleichgestellten behinderten Menschen und sonstigen anrechnungsfähigen Personen (§ 80 Abs 1 [X.] aF; heute § 163 Abs 1 [X.]) ist der Anzeige beizufügen (§ 80 Abs 2 Satz 2 [X.] aF; heute § 163 Abs 2 Satz 2 [X.]). Zu den in diesem Sinn anzeigepflichtigen "sonstigen anrechnungsfähigen Personen" zählen auch teilzeitbeschäftigte schwerbehinderte Menschen iS des § 75 Abs 2 Satz 3 [X.] aF ([X.] in [X.]/[X.]/[X.]/Udsching, BeckOK-[X.], § 163 [X.] Rd[X.], Stand 1.12.2021; [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.], [X.], 6. Aufl 2022, § 163 Rd[X.]; [X.][X.]/[X.]/[X.]/Jabben, [X.], 14. Aufl 2020, § 163 RdNr 5; [X.] in [X.], GK-[X.], § 163 Rd[X.]5, Stand April 2021).

Die angezeigten Daten hat die [X.] unter Einbeziehung des beigefügten Verzeichnisses nicht nur in tatsächlicher, sondern auch in rechtlicher Hinsicht auf ihre Vollständigkeit und Richtigkeit zu überprüfen (vgl [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/Udsching, BeckOK-[X.], § 163 [X.] Rd[X.]3, Stand 1.12.2021; [X.][X.]/[X.]/[X.]/Jabben, [X.], 14. Aufl 2020, § 163 Rd[X.]3; [X.] in [X.]/[X.], [X.], § 163 Rd[X.]6, Stand November 2017; [X.] in [X.], GK-[X.], § 163 Rd[X.]7, Stand April 2021). Dieses Verständnis wird durch die Entstehungsgeschichte des § 80 Abs 3 [X.] aF (heute § 163 Abs 3 [X.]) gestützt. Nach der bis zum 30.6.2001 geltenden Fassung des § 13 Abs 2 Satz 2 [X.] erschöpfte sich der Regelungscharakter des Feststellungsbescheids darin, dass die "Verfügung" der [X.] an die Stelle der Anzeige des Arbeitgebers tritt und deren Funktion als Beweismittel in Form einer öffentlichen Urkunde (§ 418 ZPO) übernimmt. Der [X.] stand kein Recht zur Korrektur der rechtlichen Bewertung über korrekte tatsächliche Angaben zu (B[X.] vom [X.] - B 7 [X.] 26/99 R - [X.], 246, 248 f = [X.] 3-3870 § 13 [X.] - juris Rd[X.]8). Die mit § 13 Abs 2 Satz 2 [X.] zunächst wortgleiche Entwurfsfassung des § 80 Abs 3 [X.] aF wurde im Gesetzgebungsverfahren um den Passus "nach Prüfung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht" ergänzt (BT-Drucks 14/5531 [X.]). Die [X.] sollte verpflichtet sein, nicht nur die tatsächlichen Verhältnisse im Betrieb umfassend von Amts wegen zu ermitteln, sondern auch die angezeigten Daten iS des § 80 Abs 2 Satz 1 [X.] aF in rechtlicher Hinsicht zu prüfen (BT-Drucks 14/5531 [X.]; vgl ferner BT-Drucks 14/5800 S 30). Mit der Neuregelung hat der Gesetzgeber der [X.] also eine "umfassende Prüfungskompetenz" eingeräumt, die die Grundlage für den Erlass eines Verwaltungsakts "mit einer umfassenden Regelungsreichweite hinsichtlich der Vereinbarkeit der Daten für die Berechnung der Zahl der Arbeitsplätze mit der Tatsachen-, aber auch der Gesetzeslage" bildet (so schon [X.] vom 14.4.2021 - 5 C 13.19, NVwZ-RR 2021, 897 Rd[X.]7).

Ausgehend hiervon hat die [X.] in einem ersten Schritt die tatsächlichen Verhältnisse im Betrieb unter Heranziehung der angezeigten Daten und des beigefügten Verzeichnisses zu prüfen. Sollte sie zu dem Ergebnis gelangen, dass die Daten von dem Arbeitgeber im Tatsächlichen nicht richtig oder nicht vollständig angezeigt wurden, hat sie die Verhältnisse im Betrieb, in der Regel unter Heranziehung des Arbeitgebers, umfassend selbst zu ermitteln (vgl B[X.] vom [X.] - 7 [X.]/93 - [X.], 176, 181 f = [X.] 3-3870 § 13 [X.] S 7 f - juris Rd[X.]8 f zu § 13 [X.] in der Fassung vom [X.], [X.] 1421).

Bei einer rechtlichen Fehlbewertung des Arbeitgebers ist die [X.] im Sinne eines aus § 101 Abs 1 [X.] aF (heute § 184 Abs 1 [X.]) folgenden Gesetzesbefehls gehalten, in ihrem Aufgabenbereich eng mit dem Arbeitgeber zusammenzuarbeiten, ihn bei der Erfüllung der ihm obliegenden gesetzlichen Verpflichtungen zu unterstützen und auf deren größtmögliche Verwirklichung hinzuwirken (vgl [X.]/[X.]/[X.]/[X.], [X.], 6. Aufl 2022, § 184 Rd[X.]; [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.]/Jabben, [X.], 14. Aufl 2020, § 184 RdNr 7; [X.] in jurisPK-[X.], § 184 RdNr 9, Stand 15.1.2018). Sie hat dementsprechend ihrer Sphäre zugeordnete Verfahrensweisen einer rechtlich zulässigen "Berichtigung" von Amts wegen zu veranlassen. Dies gilt auch, wenn die materiell-rechtlichen Voraussetzungen der Zulassung der Anrechnung eines Arbeitnehmers nach § 75 Abs 2 Satz 3 [X.] aF vorliegen, diese Anrechnung mangels einer formellen Entscheidung der [X.] jedoch (noch) nicht zugelassen wurde. Denn ist die Anrechnung zuzulassen, sind die Pflichtarbeitsplätze entsprechend der angezeigten Daten und dem eingereichten Verzeichnis insoweit richtig - bzw "berichtigt" - besetzt und es bedarf nicht des Erlasses eines Feststellungsbescheids nach § 80 Abs 3 [X.] aF. Ebenso liegt dann auch eine Verletzung der bußgeldbewehrten Anzeigepflicht und der Pflicht zum ordnungsgemäßen Führen eines Verzeichnisses des Arbeitgebers (vgl § 156 Abs 1 [X.] und 3 [X.] aF; heute § 238 Abs 1 [X.] und 3 [X.]) nicht vor.

Ein obligatorisches Antragserfordernis (§ 18 Satz 2 [X.] [X.]B X) auf Durchführung des Zulassungsverfahrens nach § 75 Abs 2 Satz 3 [X.] aF ist im 2. Kapitel des Schwerbehindertenrechts hingegen nicht normiert (vgl [X.] in [X.], [X.], § 158 Rd[X.]0, Stand 1.10.2018; aA [X.][X.]/[X.]/[X.]/Jabben, [X.], 14. Aufl 2020, § 158 Rd[X.]3; Jabben in [X.]/[X.]/[X.]/Udsching, BeckOK-[X.], § 158 [X.] RdNr 6, Stand 1.9.2020; [X.], [X.], 7. Aufl 2021, § 158 Rd[X.]). Dies schließt nicht aus, dass die [X.] auf Antrag des Arbeitgebers tätig werden muss (§ 18 Satz 2 [X.] Alt 2 [X.]B X), worauf es hier jedoch nicht ankommt. Nach den bindenden Feststellungen des [X.] (§ 163 [X.]G) hat die Klägerin die - aus ihrer Sicht - notwendigen Daten, unter Beifügung des Verzeichnisses, innerhalb der Frist des § 80 Abs 2 Satz 1 [X.] aF bei der [X.] angezeigt. Sodann musste die Beklagte in das sich hieran anschließende Prüfverfahren übergehen und von Amts wegen über die Zulassung der Anrechnung der Arbeitnehmerin auf einen Pflichtarbeitsplatz für schwerbehinderte Menschen entscheiden.

Die Zulassung der Anrechnung eines teilzeitbeschäftigten schwerbehinderten Menschen nach § 75 Abs 2 Satz 3 [X.] aF auf einen Pflichtarbeitsplatz hat bei Vorliegen der materiell-rechtlichen Voraussetzungen auch rückwirkend für das der Anzeige des Arbeitgebers vorausgegangene Kalenderjahr zu erfolgen.

Die grundsätzliche Rückwirkung der Zulassungsentscheidung (sog innere Wirksamkeit eines Verwaltungsakts; vgl B[X.] vom 25.5.2018 - B 13 R 33/15 R - [X.] 4-2600 § 89 [X.] Rd[X.]5) kraft Gesetzes auf den Beginn des der Anzeige vorausgegangenen Kalenderjahrs - bzw den Beginn des Beschäftigungsverhältnisses, sollte dieses später begründet worden sein - folgt aus dem Sinn und Zweck der Beschäftigungspflicht (§ 71 Abs 1 [X.] aF; heute § 154 Abs 1 [X.]) und der Ausgleichsabgabe 77 Abs 1 Satz 1 und 2 [X.] aF; heute § 160 Abs 1 Satz 1 und 2 [X.]). Beide Normen bilden das "Kernstück" des Schwerbehindertenrechts ([X.] vom 26.5.1981 - 1 BvL 56/78 ua - [X.]E 57, 139, 153 - juris RdNr 54). Sie dienen der Sicherung der Eingliederung schwerbehinderter Menschen in Arbeit, Beruf und zugleich auch in die Gesellschaft (BT-Drucks 7/656 S 1, 23; zur Historie des Schwerbehindertenrechts BT-Drucks 7/1515 S 5 f). Arbeitgeber sollen veranlasst werden, behindertengerechte Arbeitsplätze zu schaffen und gezielt nach Bewerbern zu suchen ([X.] vom 1.10.2004 - 1 BvR 2221/03 - [X.]K 4, 78, 81 - juris Rd[X.]2). Die Beschäftigungspflicht als umfassende und unbedingte Rechtspflicht wird flankiert durch die Ausgleichsabgabe. Solange Arbeitgeber die vorgeschriebene Zahl schwerbehinderter Menschen nicht beschäftigen, entrichten sie für jeden unbesetzten Pflichtarbeitsplatz eine Ausgleichsabgabe (§ 77 Abs 1 Satz 1 [X.] aF), wodurch die Beschäftigungspflicht nicht aufgehoben wird (§ 77 Abs 1 Satz 2 [X.] aF). Die als Sonderabgabe ausgestaltete Ausgleichsabgabe erfüllt eine Doppelfunktion (hierzu BT-Drucks 7/656 S 20; [X.] vom 26.5.1981 - 1 BvL 56/78 ua - [X.]E 57, 139, 166, 167 - juris RdNr 94, 100). Zum einen sollen Arbeitgeber angehalten werden, schwerbehinderte Menschen einzustellen (Antriebsfunktion). Zum anderen sollen Belastungen zwischen denjenigen Arbeitgebern, die der Beschäftigungspflicht genügen und denjenigen, die diese Verpflichtung nicht erfüllen, ausgeglichen werden (Ausgleichsfunktion).

Beschäftigt ein Arbeitgeber tatsächlich einen schwerbehinderten Menschen, der auf einen Pflichtarbeitsplatz nach § 71 Abs 1 [X.] aF anzurechnen ist, genügt er insoweit der Regelungsintention der Pflichtarbeitsplatzquote (Antriebsfunktion) und der der Ausgleichsabgabe immanenten Ausgleichsfunktion. Dies gilt auch dann, wenn in der Person des schwerbehinderten Arbeitnehmers die materiell-rechtlichen Zulassungsvoraussetzungen des § 75 Abs 2 Satz 3 [X.] aF vorliegen und die [X.] zwar die Anrechnung auf einen Pflichtarbeitsplatz formell (noch) nicht zugelassen hat, aber aufgrund der angezeigten Daten - oder weil sie auf andere Art und Weise Kenntnis hiervon erlangt hat - von Amts wegen verpflichtet ist, hierüber zu entscheiden.

Dem steht nicht entgegen, dass im 1. Kapitel des Schwerbehindertenrechts mit Art 2 [X.] Buchst b des [X.] vom 23.12.2016 ([X.] 3234) zum 30.12.2016 die Möglichkeit der Feststellung des Vorliegens eines Grads der Behinderung oder gesundheitlicher Merkmale zu einem früheren Zeitpunkt (klarstellend) normiert und diese Rückwirkung an weitere Tatbestandsmerkmale - Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses - geknüpft wurde (§ 69 Abs 1 Satz 2 [X.] aF; heute § 152 Abs 1 Satz 2 [X.]). Eine dementsprechende einschränkende Auslegung des § 75 Abs 2 Satz 3 [X.] aF ergibt sich weder aus den gesetzlichen Regelungen des 2. Kapitels des Schwerbehindertenrechts noch aus den Gesetzesmaterialien.

Nach alledem war die Zulassung der Anrechnung der Arbeitnehmerin auf einen Pflichtarbeitsplatz nach § 75 Abs 2 Satz 3 [X.] aF rückwirkend für das Kalenderjahr 2013 vorzunehmen. Die Anrechnung auf einen Pflichtarbeitsplatz ist danach zuzulassen, wenn die Teilzeitbeschäftigung wegen Art oder Schwere der Behinderung notwendig ist. Dies ist der Fall, wenn die geschuldete Arbeitsleistung aufgrund der Behinderung nicht mehr im vollen zeitlichen Umfang erfüllt werden kann, etwa weil der schwerbehinderte Arbeitnehmer wegen körperlicher Defizite, Einschränkungen der geistigen Fähigkeiten oder des Vorliegens psychischer Gesundheitsstörungen Schwierigkeiten bei der Ausübung der Tätigkeit oder beim Erreichen des Arbeitsplatzes hat (vgl [X.][X.]/[X.]/[X.]/Jabben, [X.], 14. Aufl 2020, § 164 RdNr 70; [X.] in [X.], GK-[X.], § 164 Rd[X.]35 ff, Stand Mai 2018; [X.] in [X.], [X.], § 164 RdNr 312, Stand 1.12.2018). Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des [X.] (§ 163 [X.]G) erfüllte die Arbeitnehmerin die materiell-rechtlichen Voraussetzungen des § 75 Abs 2 Satz 3 [X.] aF. Ihre Teilzeitbeschäftigung mit einem Umfang von weniger als 18 Stunden wöchentlich war nach Art und Schwere ihrer Behinderung im Kalenderjahr 2013 notwendig.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Halbsatz 3 [X.]G iVm § 154 Abs 2 VwGO.

Die Entscheidung über die Festsetzung des Streitwerts von 755 Euro für alle Rechtszüge folgt aus § 197a Abs 1 Satz 1 Halbsatz 1 [X.]G iVm § 63 Abs 2 Satz 1 und Abs 3 Satz 1 [X.], § 52 Abs 1 und § 47 Abs 1 Satz 1 GKG. Grundlage der Festsetzung der Ausgleichsabgabe von 690 Euro für das [X.] 2013 nebst Säumniszuschlägen von 65 Euro war die Ablehnung der Zulassung der Anrechnung durch die verfahrensgegenständlichen Bescheide (zur [X.] Berücksichtigung der Säumniszuschläge B[X.] vom [X.] - B 2 U 4/10 B - [X.] 4-1920 § 43 [X.]). Die Höhe des [X.] ist nicht durch den vom [X.] festgesetzten Streitwert - dort 690 Euro - nach § 47 Abs 2 GKG beschränkt. Maßgeblich ist die Höhe des objektiv angemessenen Streitwerts (B[X.] vom 19.9.2006 - [X.] [X.]/06 B - juris RdNr 5).

                [X.]

Meta

B 11 AL 30/21 R

29.03.2022

Bundessozialgericht 11. Senat

Urteil

Sachgebiet: AL

vorgehend SG Gotha, 18. April 2017, Az: S 9 AL 1346/15, Urteil

§ 71 Abs 1 S 1 SGB 9, § 75 Abs 2 S 1 SGB 9, § 75 Abs 2 S 3 SGB 9, § 77 Abs 1 S 1 SGB 9, § 80 Abs 2 S 1 SGB 9, § 80 Abs 2 S 2 SGB 9, § 158 Abs 2 S 1 SGB 9 2018, § 158 Abs 2 S 3 SGB 9 2018, § 163 Abs 2 S 1 SGB 9 2018, § 163 Abs 2 S 2 SGB 9 2018

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 29.03.2022, Az. B 11 AL 30/21 R (REWIS RS 2022, 4010)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 4010

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

B 11 AL 3/20 R (Bundessozialgericht)

Beschäftigungspflicht von Arbeitgebern - zugelassener Maßnahmeträger als Arbeitgeber - Anrechnung von beschäftigten Behinderten auf die …


B 11 AL 1/19 R (Bundessozialgericht)

Pflicht zur Beschäftigung von schwerbehinderten Menschen - Berechnung der Ausgleichsabgabe - Anzeigepflicht - Beschäftigungspflicht - …


5 C 13/19 (Bundesverwaltungsgericht)

Bindungswirkung des Feststellungsbescheides der Bundesagentur für Arbeit bei der Erhebung der Ausgleichsabgabe


11 K 10610/17 (Verwaltungsgericht Gelsenkirchen)


4 TaBV 25/16 (LArbG München)

Informationsrecht des örtlichen Betriebsrats über Schwerbehinderte im Betrieb


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.